Patrick Strattner
Grüßen statt schießen heißt das Motto von Alfred Lomas. Der ehemalige Bodyguard eines Gangchefs arbeitet als Friedensstifter in South Central, Los Angeles
05.12.2012

Lomas ist ein bulliger untersetzter Mann mit vernarbtem ­Gesicht. Tätowierungen zieren seine Arme: Maschinenpis­tolen, nackte Frauen und ein großes „F“. Es steht für die „Florencia 13“, eine Drogendealerbande. Alfreds Bande.

Inzwischen hat er sich von der Gang abgewendet, seine neue Heimat ist das christliche Dream Center in Los Angeles. Dort leitet er das „Food Truck“-Programm, eine Art Tafel für Bedürftige. Zwei- bis dreimal pro Woche fährt er Lebensmittel nach South Central, besucht Alte, Arme und Alleinerziehende, wo er einst als ­Dealer gefürchtet war. Die Kinder auf der Straße hätten ihn früher als potenzielle Gangmitglieder interessiert, sagt Lomas. Nun sehe er ihre Not.

Das Dream Center, für das er die Touren unternimmt, ist seine neue „Heimat“ – wie er sagt. Über eine halbe Million Einkäufe hat die Einrichtung nach eigenen Angaben 2010 an 21 Orten der Stadt verteilt, mehr als 40 000 Menschen beliefert sie wöch­entlich. Ihr Credo: „Menschen, die durch Armut, Drogenmissbrauch, Gangs, Haft, Missbrauch und Vernachlässigung isoliert wurden, wieder mit Gott und der Gemeinschaft verbinden.“

South Central ist ein sozialer Brennpunkt, einer der gefährlichsten Stadtteile von Los Angeles. Um sein Image aufzu­bessern, heißt er jetzt offiziell South Los Angeles. Aber er ist immer noch ein Zentrum des Drogenkriegs und die Heimat berüchtigter Gangs wie der „Crips“ und der „Bloods“, die sich von hier aus schon in den 1970ern in Amerikas Großstädten ausgebreitet haben.

Lomas fädelt seinen rostigen Kleinlaster auf die Stadtautobahnauffahrt. Nur we­nige Meilen südlich vom Dream Centre zeigt er auf einen mit Fensterschlitzen ­bewehrten weißen Hochhauskomplex: die Twin Towers Correctional Facility, mit fast 4500 Insassen eines der größten Gefängnisse der Welt. Viele sind Opfer der kali­fornischen „Three strikes“-Regel: Wer drei Mal straffällig wird, bekommt besonders lange Haftstrafen, auch für einfachen ­Ladendiebstahl.

„Gangs gab es hier immer“

Genützt hat die Härte wenig. 1 400 kriminelle Straßengangs zählt der Generalstaatsanwalt für Los Angeles Co­unty, den bevölkerungsreichsten Landkreis der USA. Die „Los Angeles Times“ berichtet in einem Extra-Internetblog über Fälle von Mord und Totschlag. Allein an einem Samstag im August 2012  wird die 22-jährige Mutter dreier Kinder von ihrem Freund erschossen, wird ein 19-jähriger Latino Opfer eines „Drive-by Shooting“ (scharfe Schüsse aus fahrendem Auto), wird ein 55-jähriger Schwarzer mit einem Messer erstochen, erliegt ein 48-jähriger Weißer seinen Verletzungen, nachdem er zwei Tage zuvor in Koreatown verprügelt wurde.

„Gangs gab es hier immer“, sagt Lomas. „Oft waren schon die Eltern oder Groß­eltern dabei. Die Kinder wachsen hinein.“ Die Morddelikte nahmen zu, als in den 1980er Jahren billiges Kokain namens Crack die Ghettos überschwemmte und Messer gegen Maschinenpistolen eingetauscht wurden.

Auf den ersten Blick wirkt South Central kaum bedrohlich: Palmen, kleine Holzhäuser mit Vorgarten. In der Ferne erkennt man den Hollywood-Schriftzug am Mount Lee. Die Straßen fast menschenleer, nur vor den vergitterten Alkohol- und Lebensmittelläden stehen kleine Menschengruppen.

Mit zwölf Jahren hatte Lomas sein Aufnahmeritual in die „Florencia 13“-Gang bestanden: Gruppenprügel. Später versucht er, sich durch dreijährigen Dienst bei den Marines dem Gangleben zu ent­ziehen. Nach seiner Entlassung vom Militär fand er keine Alternative zum alten Milieu: ­Lomas nutzte sein Marinetraining, um Gangbosse zu beschützen, die Polizei auszuspähen und Drogentransporte zu organisieren.

Anfang der 1990er Jahre erreichte der Gangkrieg seinen Höhepunkt. Lomas wurde süchtig nach Methamphetamin, kam ins Gefängnis, landete obdachlos auf der Straße. Eine ältere Dame sprach den Strafentlassenen an und stellte ihm warme Mahlzeiten und eine kostenlose Übernachtung in Aussicht. So kam er zum Dream Center. Eine Geschichte wie das Skript eines Hollywoodfilms: Ein bekehrter Krimineller hilft Bedürftigen aus dem Ghetto, das er früher mit seiner Gang  terrorisierte.

„Sie behandeln uns wie Feinde, stellen Jugendliche einfach mal auf Verdacht an die Wand."

In der Slauson Avenue passiert Lomas’ Wagen leerstehende Lagerhallen, Industriebrachen und Wohnblocks hinter hohen Zäunen. An manchen Fassaden verwittert noch die Reklame für die stillgelegte Reifenfabrik Fire­stone. An einer Straßenampel nähern sich zwei Mädchen dem Beifahrerfenster. Jede trägt einen Korb mit dem Foto eines Jugendlichen. „Wie heißt er?“, fragt Lomas aus dem Auto heraus. „Wo ist er erschossen worden?“ Dann wirft er ein paar Dollar in den Sammelbehälter – „für seine Beerdigung“.

In einer Sozialsiedlung mit durchnummerierten Baracken, vergitterten Fenstern und Überwachungskameras wartet Frederick Smith, ein 42-Jähriger im Trainingsanzug, Spitzname Scorpio. „Wir leben die ganze Zeit wie im Gefängnis“, sagt er und deutet auf eine Polizeistreife: „Sie behandeln uns wie Feinde, stellen Jugendliche einfach mal auf Verdacht an die Wand. Wer braucht sich da noch vor dem Knast zu fürchten.“

Auch Scorpio dealte, raubte und saß viele Jahre wegen Drogendelikten hinter Gittern, er war Mitglied der „Crips“. Heute arbeitet er als Lehrer in einer privaten Schulinitiative, die Jugendlichen zum Schulabschluss verhelfen soll. Scorpio und Lomas gehörten verfeindeten Gangs an. Heute, so beteuern sie, arbeiten sie zusammen als Gangschlichter.

Sein Einsatz in South Central macht ­Lomas auch zum Partner für die Polizei. Die Bekämpfung der Ganggewalt in Los Angeles kostet die Steuerzahler jährlich rund zwei Milliarden Dollar. Viele Bürger bezweifeln, dass noch härtere Polizeieinsätze allein das Gangproblem auf Dauer lösen können. Dagegen gilt der Einsatz von Friedensschlichtern, von „Gang Interven­tionists“ wie Lomas und Scorpio, als günstig und effektiv.

„Voyeurismus“ auf Kosten der Ghettobewohner?

Auch Lomas weiß kein politisches Rezept. Aber er sagt, er vermittele zwischen verfeindeten Gangs. „Die Essenslieferungen  ermöglichen, eine Art Waffenstillstand zwischen schwarzen und mexikanischen Gangs auszuhandeln“, sagt er. Er kenne die Codes und könne den Kreislauf der Vergeltung vorübergehend anhalten. Immer gehe es um Ehre, Anerkennung, darum, das Gesicht zu wahren und den Respekt vor anderen nicht zu verlieren.

Lomas ist auch Mitglied im Verein „A Better LA“, der den Helen-Keller-Park in South Los Angeles befriedet und für Familien zugänglich gemacht hat. Zuvor galt der Park für die Kriminalpolizei als „Friedhof von Los Angeles“.
Seit Alfred Lomas auch „Gang Tours“ durch das Ghetto anbietet und Gäste mit früheren Gangmitgliedern zusammenführt, schreiben die amerikanischen Zeitungen über ihn. „Slum-Tourismus“, kritisieren manche, „Voyeurismus“ auf Kosten der Ghettobewohner. Dabei wolle er lediglich aufklären, beteuert Lomas, die Gang­gewalt weder glorifizieren noch dämoni­sieren. „Ich zeige auch den tristen Alltag dieser Menschen.“

Auf dem Rückweg ins Dream Center hält er an einem vermüllten Parkplatz: Ein schwarzer Junge im Grundschulalter übt  Kunststücke auf seinem Fahrrad: „Hey Chuckie“, ruft Lomas, „sag deiner Tante, dass ich morgen mit dem Lebensmitteltransporter komme. Und Respekt für ­deinen Sport!“ - „Ich bin auf Drive-by Greeting umgestiegen“, witzelt der Exgangster. Statt Drive-by Shooting.

Neuen Kommentar hinzufügen

Der Inhalt dieses Feldes wird nicht öffentlich zugänglich angezeigt.

Plain text

  • Keine HTML-Tags erlaubt.
  • Zeilenumbrüche und Absätze werden automatisch erzeugt.
Wählen Sie bitte aus den Symbolen die/den/das Roller aus.
Mit dieser Aufforderung versuchen wir sicherzustellen, dass kein Computer dieses Formular abschickt.