Die Knochenfrau
In Ruanda, Bosnien und anderswo gräbt Clea Koff Skelette aus und analysiert, wie Opfer von Gewalt zu Tode kamen. So hilft sie Hinterbliebenen, Abschied von ihren Toten zu nehmen. Und den Gerichten, Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu ahnden
05.12.2012

Große Augen, ebenmäßiges Gesicht, strahlendes Lachen, sie könnte ein Model sein. Doch die 40-jährige Amerikanerin ist forensische ­Anthropologin. Sie analysiert die Knochen von Gewaltopfern. International bekannt wurde sie durch ihr Buch „Die Knochenfrau“ (2004), in dem sie von ihrer Arbeit für das UN-Kriegsver­brechertribunal berichtet. Von 1996 bis 2000 grub sie mit einem Team von Wissenschaftlern Hunderte von Leichen in Ruanda und Ex-Jugoslawien aus. Aufgrund der Beweise, die sie erbrachten, konnten zahlreiche Kriegsverbrecher in Den Haag angeklagt werden. Die Prozesse dauern heute noch an. Bei einer Begegnung im Militärhistorischen Museum in Dresden spricht Clea Koff über ihre Arbeit, ihr Leben und die Wahrheit der Knochen.

Frau Koff, warum interessieren Sie sich für Knochen?

Clea Koff: Ich war schon immer fasziniert von Knochen, ich fasse sie gern an, sie sind interessante Objekte, und wir haben sie alle in uns. Wir forensischen Anthropo­logen arbeiten Seite an Seite mit den forensischen Pathologen. Sie machen die Autopsie, das heißt, sie arbeiten mit fleischlichen Überresten. Wir kümmern uns um die Knochen. Sobald man also einen Körper hat, der stark verwest und skelettiert ist, braucht der Pathologe den Anthropologen. Wir lesen in den Knochen.

Was erzählen sie?

Koff: Sagen wir, ein Mensch ist getötet worden und am Straßenrand liegen ge­blieben, und man weiß nichts über seine Identität. Die erste Frage ist: Wer ist das? Durch den Blick auf ein Skelett erfahren wir sofort etwas über den Menschen. Das Geschlecht erkennen wir zum Beispiel am Becken, das ist bei Frauen breiter. Das Alter lässt sich am Schambeinknochen abschätzen.

Der liegt wo?

Koff: Zwischen den beiden Hüftknochen. Je älter wir werden, desto mehr verändert er sich. Anfangs sind an der Stelle, wo sich die Knochen treffen, noch Furchen und Hügel. Mit etwa 30 geht es los, dass die Furchen und Hügel glatter werden. Aber die Knochen erzählen noch viel mehr. Die Verletzung, die einem Menschen kurz vor seinem Tod zugefügt wurde, ist in seinem Körper für immer eingekapselt, denn die Knochen hören auf, zusammenzuwachsen. Man sieht das Leiden des Menschen im Moment seines Sterbens. Aber auch das, woran er vorher gelitten hat, Unfälle, Operationen, Behinderungen. Alle diese Spuren, die das Leben im Skelett hinter­lassen hat, führen zu seiner Identität.

Das heißt, Sie sehen nicht nur die Knochen, sondern den ganzen Menschen?

Koff: Was diesen Beruf so speziell macht, ist, dass man versucht, einen Toten zu identifizieren, aber man beschäftigt sich mit dem lebendigen Menschen. Ich habe das Gefühl, ich gebe den Toten eine Stimme.

Bei Ihrer Arbeit für die UN haben Sie viele Kinderleichen ausgegraben. Wie erträgt man das?

Koff: Wenn man die Knochen eines jungen Menschen sieht, ist das schwer zu ertragen. Sie sind noch nicht fertig ausge­bildet, man sieht in den Knochen, dass das Leben unterbrochen wurde. Ein Prozess, der im Körper einprogrammiert ist, wird gestoppt. Zähne etwa, die noch im Kiefer liegen. Das ist schlimm, aber ich weiß ja: Wenn wir diese Körper nicht exhumiert hätten, ihnen nicht geholfen hätten, ihre Geschichten zu erzählen, dann würden die Familien nicht wissen, was mit ihren Angehörigen passiert ist. Und die Täter, die sie umgebracht haben, hätten gesiegt.

Zahlreiche von ihnen wurden angeklagt und vom UN-Kriegsverbrechertribunal verurteilt.

Koff: Ja, und zwar aufgrund der Beweise, die wir erbracht haben. Dražen Erdemovi´c war einer der Ersten, die vor dem UN-Kriegsverbrechertribunal in Den Haag am Massaker in Srebrenica für schuldig befunden wurden. Wir konnten belegen, dass die Menschen, die wir in den Massengräbern um Srebenica ausgegraben hatten, mit gefesselten Armen auf dem Rücken erschossen worden waren, dass sie Binden über den Augen trugen, die zum Teil in den Nacken gerutscht waren, wenn die Kör­per schon allzu stark verwest waren. Ohne diese Beweise hätten die Täter ihre Verbrechen leugnen können.

Sie waren 23 Jahre alt, als Sie sich entschieden, mit dem ersten Team, das die UN beauftragte, nach Ruanda zu gehen. Was hat Sie dazu bewogen?

Koff: Ich hatte schon in meinem Studium mit der Polizei an Fällen gearbeitet. Wir gingen in die Gerichtsmedizin, analysierten die Körper und halfen dabei, sie zu identifizieren. Ich hatte das Gefühl, ich leis­te einen wichtigen Dienst. Und dann fragten mich die UN, ob ich in einem Team von 16 Wissenschaftlern mitmachen will. Ich war geradezu glücklich über die Gelegenheit, Kriegsverbrechen aufzuklären. Ich empfand es als einen Dienst an der Gerechtigkeit. Und dieses Gefühl hat mich auch begleitet, während ich in den Gräbern stand, die Körper von der Erde befreite.

Manchmal standen Sie bis zu neun Stunden in einem Massengrab.

Koff: Es ist eine sehr mühevolle, monotone Arbeit. Und man muss dabei sehr sorg­fältig sein. Die Knochen, die zu einem ­Körper gehören, zusammensuchen, sie in Tüten packen, sie reinigen, später unter­suchen. Dabei denkt man nicht so sehr an den Menschen. Leute, die uns an den Massengräbern besucht haben, Diplomaten, Soldaten, Politiker, standen mit aufgerissenen Augen und den Händen über ihren Mündern am Rand, so schockiert waren sie. Wir im Grab spürten diesen Horror nicht, weil wir so nah waren.

Sie konnten immer diese innere Distanz wahren?

Koff: Nein. Einmal habe ich in den Taschen eines Jungen Murmeln gefunden. Wenn man so etwas findet, während man in einem Massengrab steht, ist es, als würde man einen ganz individuellen Menschen sehen, nicht nur seine Knochen. Das ist so laut, unüberhörbar, als würde ein Kind sprechen. Ich kann mich an diesen Tag sehr gut erinnern. Die Murmeln fielen aus der Tasche. Das hat mich umgehauen. Ich musste mich setzen.

In Ihrem Buch schreiben Sie, dass die ­Angehörigen der Toten sich an solche Fundsachen klammern, sie glauben den Murmeln mehr als den Knochen.

Koff: Ja, denn es sind Lebenszeichen. Die Dinge, die wir mit uns tragen, haben eine größere Bedeutung für jeden, der uns kennt, als unser Skelett. Eine Brieftasche, eine Uhr. So etwas erkennen die Leute sofort. Dabei kann eine Brieftasche gestohlen sein. Während das Skelett einen Menschen unwiderlegbar identifiziert.

Warum ist es wichtig für Menschen, die Überreste eines Vermissten zu finden?

Koff: Sie sind etwas, das man anfassen kann. Und das hilft uns buchstäblich, zu begreifen. Ich habe einmal eine Frau ­kennengelernt, die Erde von einem Tatort mitgenommen hat, weil sie glaubte, dass dort ihr Mann gestorben war. Solange die Angehörigen nach einem Vermissten ­suchen, können sie nicht trauern und so Abschied nehmen. Wenn man jemanden verliert, macht man verschiedene Stadien der Trauer durch, und die helfen dabei, dass man gesund bleibt und sich irgendwann wieder stark fühlt. Wenn man den Vermissten nicht findet, dann kann die Seele nicht heilen.

Die Gewalt setzt sich in den Hinterblie­benen fort.

Koff: Genau. Im Fall von Kriegsverbrechen kann man sagen: Auch wenn der Krieg vorbei ist, geht er in den Menschen weiter. Sie hängen oft in der Vergangenheit fest, kommen nicht voran. Sie leben mit einem Fuß in der Vergangenheit, mit dem anderen in der Gegenwart. Sie sind erschöpft. Das ist die Macht des ursprünglichen Verbrechens. Die Macht des Verschwinden­lassens. Sie zerstört auch die Lebenden.

Durch Ihre Aufklärung haben auch Sie eine große Macht. Sie verändern das Leben der Hinterbliebenen.

Koff: Nach der Identifizierung einer Leiche ist für die Angehörigen nichts mehr wie vorher. Ich habe immer das Gefühl gehabt, dass ich eine besondere Verbindung zu den Hinterbliebenen habe. Ich beeinflusse ihre Erinnerung und damit ihr Leben.

Sind die Menschen Ihnen dafür dankbar?

Koff: Nicht immer. Ich zerstöre ja auch ­ihre Hoffnung, dass der Vermisste lebend zurückkommt. Und manche möchten lieber weiter in dieser Hoffnung leben, auch wenn alles dagegen spricht. Aber ich ­glaube: Nicht zu wissen, was passiert ist, bewirkt oft, dass Hinterbliebene die schlimms­ten Horrorvisionen haben. Ich sammle Artikel, in denen Familien über Vermisste sprechen. Alle sagen, sie wollen wissen, was passiert ist. Und wenn der ­Vermisste tot ist, möchten sie ihn ordentlich begraben. Der Wunsch, zu wissen, wird mit der Zeit stärker als die Hoffnung, dass er lebt.

Sie waren 19 Jahre alt, als Sie sich für diesen Beruf entschieden. Wie kam es dazu?

Koff: Ich war schon als Kind davon fas­ziniert, wie Körper sich in Skelette verwandeln. Mein Bruder und ich begruben tote Vögel immer an derselben Stelle in unserem Garten. Und einmal, als ich wieder einen Vogel begrub, stieß ich auf die Knochen eines anderen, alles war voller Insekten. Eklig, aber interessant. Ich fing an, die Stellen zu markieren, wo ich einen Vogel beerdigt hatte, und sah zwischendurch nach, was mit ihm passierte. Irgendwann war alles voller Maden. Das nächste Mal packte ich den Vogel in eine Tüte, weil ich dachte, dann passiert diese Schweinerei nicht, damit die Insekten nicht ran­kamen. Und diese Tüte brachte ich meinem Biologielehrer...

...der entsetzt war.

Koff: Nein, aber er fand mich wohl ein ­bisschen sonderbar. Später im Studium dachten das wohl einige auch von mir. Ich brachte die Knochen manchmal mit in mein Zimmer. Wenn ich dort Besuch ­bekam, waren die Leute oft schockiert, wenn sie einen Schädel auf meinem Schreibtisch sahen.

Später begannen Sie, sich selbst zu fürchten. In Ihrem Buch erzählen Sie, dass Sie sich einen durchsichtigen Duschvorhang kauften, um rechtzeitig zu sehen, wenn jemand in Ihr Bad kommt.

Koff: Ich hatte wirklich Angst. Mir wurde in dieser Zeit bewusst, wie zerbrechlich das Leben ist. Wenn man einen Menschen auf dem Autopsietisch sieht, dann sieht man auch sich selbst. Zu dieser Zeit wurde mir meine Sterblichkeit bewusst. Und ­dieses Gefühl dauerte lange an. Und dann gewöhnte ich mich daran.

Hat Ihre Arbeit Ihren Glauben beeinflusst?

Koff: Ich komme aus einer Familie mit gemischten Religionen. Mein Vater ist Jude, meine Mutter Protestantin, und mein ­Bruder und ich sind mit beiden Traditionen aufgewachsen. Ich hatte niemals den Gedanken: Wie konnte Gott das zulassen? Denn ich habe immer die Täter vor mir gesehen. Jede Kugel in einem Körper wurde aus einer Pistole abgefeuert, bei der ­jemand auf den Abzug gedrückt hat. Und so kreisen meine Gedanken mehr um diese Welt als um die Welt dahinter. Aber natürlich beschäftigt man sich mit spirituellen Fragen, wenn man mit Toten umgeht. Viele glauben, dass die Seelen der Toten nicht ruhen können, wenn sie nicht ordentlich beerdigt sind. Ich hatte immer das Gefühl, dass etwas im Ungleichgewicht ist, wenn ich ein heimliches Grab gefunden habe.

Wie hat die Arbeit für die UN Ihr Leben verändert?

Koff: Als ich nach Hause kam, war ich sehr müde. Meine Mutter sagte zu mir, ich ­mache auf sie den Eindruck, als hätte ich mit offenem Mund in den Gräbern ge­standen, und all das Leid breche jetzt aus mir heraus. Darüber zu schreiben, half mir, das zu verarbeiten. 2006 war ich noch einmal für die UN auf Zypern, da haben wir Gräber aus den 70er Jahren ausgehoben. Also nach über 30 Jahren – so wusste ich, dass ich es mit Skeletten zu tun habe. Das war für mich wichtig. Ich kann mir auch heute noch vorstellen, bei einem ­UN-Einsatz mitzuarbeiten, aber ich muss mich heute sicherer fühlen. Auf vermintem Gelände wie damals in Bosnien würde ich mich nicht mehr bewegen.

Sie haben dann einen Verein gegründet, der sich um die Angehörigen von Vermissten kümmert. Was ist Ihr Ziel?

Koff: Wir wollen ein Archiv über vermisste Menschen aufbauen, das umfangreiche Informationen über die Vermissten enthält. Und auf das man Zugriff hat, wenn eine Leiche gefunden wird. In den USA gibt es gegenwärtig geschätzte 40 000 unidenti­fizierte Leichen. Demgegenüber stehen rund 110 000 Vermisste. Wir wollen bewusst machen, dass Polizei und Gerichtsmedizin enger miteinander und mit den Familien der Vermissten zusammenar­beiten müssen. Viele Städte können die Leichen nur bis zu zwei Jahre in Kühlan­lagen aufbewahren, und dann kommen sie ins Krematorium. Die Anstrengung, diese Leichen zu identifizieren, sollte größer sein.

Warum arbeiten Sie nicht mehr in der ­Gerichtsmedizin?

Koff: Die Vorstellung, einen toten Körper nach dem anderen zu analysieren, schreckt mich im Moment ab. Ich mache das seit 20 Jahren. Ich werde diese Arbeit nicht mehr los. Wenn ich spazieren gehe, glaube ich oft, Knochen auf der Erde zu sehen. Ich sehe ständig irgendwo Knochen. Auch beim Essen. Da lacht schon meine ganze Familie drüber. Ich sehe das Huhn auf dem Teller und kann nicht hingucken, weil es mich an ein Baby erinnert.

Aber Sie essen noch Huhn?

Koff: Ja, aber ich esse nicht gern Fleisch, das an Knochen hängt, oder schneide da mit dem Messer rein.

Heute schreiben Sie außerdem Krimis über das Thema. Eine weitere Strategie, Ihre Erfahrungen zu verarbeiten?

Koff: In den Krimis erschaffe ich mir ­eine ideale Welt. Sie handeln von forensischen Anthropologen, die für die UN gearbeitet haben und die darüber sprechen, was das mit ihnen gemacht hat. Und wie man in den USA mit unidenti­fizierten Leichen besser umgehen kann: Indem man sie als Menschen sieht, die eine Geschichte haben.

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