Die Brückenbauer
Wie Marlehn Thieme und Petros Markaris den Griechen die Deutschen erklären - und den Banken die Kirche
Lena Uphoff
Tim Wegner
08.11.2012

Thieme: Ich war leider noch nie in Griechenland.

Petros Markaris: Sie müssen kommen, es ist wunderschön!

Thieme: Ich bin überrascht, wie Sie das Land in Ihren Büchern kritisieren. Dieses Klientelsystem, wie Sie es in „Zahltag“ beschreiben – das ist unglaublich!

Markaris: Die zwei großen Tugenden der Griechen sind: Sie sind unschuldig – und sie sind die Opfer.

Thieme: In Deutschland gilt genau das Gegenteil – die Deutschen sind immer schuldig, und sie fühlen sich für alles verantwortlich.

chrismon: Haben die Europäer über dem Euro vergessen, sich mit den gemeinsamen Werten zu beschäftigen?

Markaris: Ja! Es hat schreckliche Kriege und Opfer gekostet, bis die Menschen erkannten: Wir sind verschieden, aber wir können unter einem Dach leben. Aber nur, wenn wir Werte teilen. Zwei sind ganz wichtig: die Akzeptanz verschiedener Religionen. Und die Menschenrechte. Damit konnten wir gut leben, aber ich habe Angst, dass der Streit ums Geld das Dach kaputt macht.

Thieme: Nach dem Krieg war nur einer Bildungselite bewusst, wie wichtig diese Werte sind. Für die meisten Menschen war Europa nur ein Friedensprojekt, ganz pragmatisch. Irgendwann brauchte man nicht mal mehr einen Pass – oder Drachmen. Es fehlte eine Diskussion darüber, wie unterschiedlich Kulturen sind.

Markaris: Ich kam 1964 nach Athen, mein Vater ist Armenier, meine Mutter Griechin, ich wuchs in Istanbul auf. Was mich im Verhältnis von Griechen und Deutschen wunderte: Wieso nehmen die Griechen ihre ehemaligen Besatzer – die Deutschen – besser und offener auf als ihre Befreier, die Engländer und die Amerikaner? Ich habe das nie verstanden.

Haben Sie heute eine Idee?

Markaris: Die Deutschen wollten, vielleicht weil sie sich schuldig fühlten, den Griechen gefallen. Dazu kommt: Die Deutschen hielten sich aus dem griechischen Bürgerkrieg von 1946 bis 1949 heraus, der das Land gespalten hat – die Briten und Amerikaner waren Partei, aufseiten der Konservativen.

Thieme: Aber ist Griechenland nicht für die Deutschen auch ein Idealbild? Wir Deutsche sind vielleicht neidisch auf die unerträgliche Leichtigkeit des Seins, die uns abgeht.

Markaris: Neidisch? Bestimmt wehmütig! Die Deutschen, die Schweden, die Schweizer: Sie fahren in die Toskana, sie be­wundern die Landschaft. Aber was wissen sie von den Italienern? Sie bewundern die Strände, das Essen, haben einen wunderbaren Urlaub! Aber was wissen sie über die Griechen? Was über die uralte Mittelmeerkultur? Umgekehrt haben die Mittelmeerländer keine Ahnung von der mitteleuropäischen Kultur.

Frau Thieme, gibt es eine internationale Kultur des Geldes?

Thieme: Kultur? Es ist zunächst mal nur eine Kommunikation.

Gibt es eine Differenz zwischen dem Bankier und dem Banker?

Thieme: Es macht sicher einen Unterschied, ob man für das ­eigene Vermögen mithaftet oder nur für das Vermögen anderer verantwortlich ist. Aber das Bankengeschäft beruht immer noch auf Vertrauen: Kann ich dem anderen einen Kredit geben? Kredit kommt von credo, das heißt „ich glaube“.

Markaris: Bankiers, das waren Familienunternehmer. Dynastien!

Thieme: Und Banker sind Manager, die letztendlich auch ihren Ruf und ihre Reputation wahren müssen wie früher Bankiers. Die Volumen, die gehandelt werden, sind größer, das muss man anders absichern – umso wichtiger wird das Vertrauen.

Der einfache Mann hat eine riesige Angst vor den Bankern

Markaris: Mein Problem ist: Für den einfachen Menschen war der Bankier erkennbar. Der Banker ist es nicht. Der einfache Mann bekommt eine riesige Angst vor den Bankern, wenn etwas schiefgeht. Ich erlebe das in Athen.

Thieme: Darum ist es wichtig, dass die Menschen, die Banken leiten, wieder erkennbar werden: Wie leben sie, wie geben sie sich, kann man ihnen vertrauen? Nicht umsonst werden die ­Ikonen der Finanzbranche von den Journalisten gejagt.

Der französische Aktienhändler Jérôme Kerviel sitzt in Haft; er hatte anderer Leute Geld verspekuliert, Milliarden. Er ist ein Beispiel dafür, dass kaum erkennbar ist, was Banker machen.

Thieme: Ich stand letzte Woche im Handelssaal der Deutschen Bank. Dort saß eine Frau, 28 Jahre alt, am Computer, und ich hörte sie sagen: „Vier Millionen für mich.“ Ich weiß nicht, um welche Währung es sich handelte. Aber sie gab einen Auftrag an jemanden durch, den sie gar nicht sehen konnte. Damit Ihnen jemand vier Millionen verkauft, müssen Sie vertrauen können – und Sie müssen verantwortlich handeln. Das war früher so, und das ist auf den heutigen Märkten nicht anders.

Markaris: Wenn Sie in Griechenland das Wort Märkte erwähnen, kriegt der kleine Mann eine Riesenangst, weil er nicht nachvollziehen kann, wer oder was das sind: die Märkte.

Thieme: Man muss immer deutlich machen, wie der griechische Staat gewirtschaftet hat, wie viele Griechen gelebt haben – und wie man als vernünftiger Mensch lebt. Der vernünftige Mensch versucht, sich nicht zu verschulden – und wenn er sich verschuldet, dann für Investitionen, die dafür sorgen, dass er hinterher mehr verdient – und die Schulden begleichen kann. Aber Schulden nur für den Konsum, das funktioniert nicht. Also: Die Griechen haben sich jahrelang nur für Konsum verschuldet, und nun glauben die Märkte nicht so schnell, dass neue Schulden in Inves­titionen wandern. Diese Folgen muss leider auch der einfache Mensch tragen.

Markaris: Da sind wir bei der Kultur! Ein Teil in Europas Süden hat einiges in der Geschichte nicht mitgemacht. Es ist eben nicht die Schuld des einfachen Griechen, dass Griechenland Teil des Osmanischen Reichs war und dadurch die Renaissance und die Aufklärung verpasst hat. Ohne die beiden kann man nicht so leicht über Geld und Investitionen sprechen. Die Griechen kennen die Kultur des Reichtums nicht.

Thieme: Aber trotzdem kennt man die Unterschiede zwischen Investitionen und Konsum. Auch die Osmanen, die Türken, sind gute Kaufleute. Für so doof halte ich die Griechen nicht!

Markaris: Ich erkläre es anders: Wenn ein Patient, der intravenös ernährt wird, wieder normale Nahrung bekommen soll, müssen Sie ihn stufenweise daran gewöhnen. Die Griechen waren seit ihrer Unabhängigkeit 1830 ein armes Land, das intravenös ge­füttert wurde. 150 Jahre später kam Europa, und der Patient bekam sofort einen Lammspieß. Das macht krank!

Thieme: Alle haben nicht genügend hingeguckt.

Markaris: Die große Schuld liegt bei den Griechen selbst. Auch ohne den Euro wären wir in einer Krise gelandet, weil man auf Kredit nicht leben kann. Mit der Drachme wäre es vielleicht nicht so heftig geworden, wir hätten nie so viele Kredite bekommen.

Als Bundeskanzlerin Merkel in Athen war, verkleideten sich ­einige Demonstranten als Nazis. Stehen sie für eine Minderheit?

Markaris: Ja, das ist eine Minderheit, die so aggressiv über die Deutschen denkt. Nun wurden die Griechen aber auch in den deutschen Medien beschimpft und mit Hohn und Verachtung bestraft. Andererseits sage ich in Griechenland: 40 Jahre waren die Deutschen die besten Freunde, und auf einmal sind sie zu Nazis geworden? Das ist doch nicht möglich! So wird die Freundschaft zerstört: Ein Teil der Deutschen ist arrogant, ein Teil der Griechen reagiert darauf mit Ressentiments.

Wie erklären Sie in Griechenland die Deutschen?

Markaris: Schwierig! Die Griechen erleben eine tiefe Krise, Leistungen werden gekürzt und Arbeitsplätze vernichtet, da gibt es Zorn und Empörung. Das sind Gefühle, die mit dem Verstand nichts zu tun haben. Drum erkläre ich den Griechen: Die Deutschen sehen mit dem Verstand auf uns, sie erklären, was die Griechen alles falsch machen. Ihr Verstand trifft auf unser Gefühl.

Wenn man nicht miteinander redet, hat man schon verloren.

Und wie erklären Sie in der Bank die Kirche, Frau Thieme?

Thieme: Ich verstehe mich als Brückenbauerin, die Sinn und Werte auf beiden Seiten kennt. Aus meinem Glauben heraus sage ich: Die Kirche steht für Werte, auf die Gesellschaft und Wirtschaft nicht verzichten können: Menschlichkeit, Respekt, Fairness. Umgekehrt erkläre ich in der Kirche, dass Banken auf der Grundlage von Vertrauen Investitionen ermöglichen, ohne die wir ebenfalls nicht existieren können. In der Kirche gibt es bis heute Leute, die mir nicht die Hand reichen; sie denken, ich arbeite in einer verbrecherischen Organisation. Aber wenn man nicht miteinander redet, hat man schon verloren. Das ist genau der Punkt in Europa: Wir müssen reden.

Gibt es, mit Blick auf die Wirtschaft, einen Unterschied zwischen Orthodoxie und der Reformation?

Markaris: Die Orthodoxie kam nach dem Fall von Konstantinopel. Die Kirche ist reich. Aber sie richtet sich eher an Bauern als an Stadtmenschen.

Ist es Zufall, dass der protestantisch geprägte Norden Europas anscheinend nicht so sehr in der Krise steckt?

Markaris: Ich glaube, der Protestantismus spielt dabei keine Rolle. Italien ist überwiegend katholisch. Die Norditaliener sind reich, in Süditalien werden sie als „die Deutschen“ bezeichnet; in Mailand dagegen nennen sie die Süditaliener „die Griechen“.

Thieme: Auch die Katholiken gingen ja durch die Aufklärung.

Markaris: Aber die Renaissance ist wichtig. Ihr Fehlen ist der Grund dafür, dass es in Griechenland kein Bürgertum gibt. Bürger­tum, da denkt man in Griechenland an die Stinkreichen.

In welche gesellschaftliche Schicht würde sich Ihr Kommissar, Kostas Charitos, einordnen?

Markaris: In die Bourgeoisie! Wie alle Polizisten dieser Welt. ­Polizisten sind Kleinbürger. Das ist nicht überheblich gemeint: Charitos, das heißt so viel wie der Graziöse.

Thieme: Ein Kleinbürgertum gibt es, aber kein Bürgertum?

Markaris: Es gab keine Industrialisierung. Wer ins Gymnasium geht, gilt schon als Intellektueller. Aber es gab für diese Menschen keine Arbeitsplätze, also sind sie massenhaft Beamte geworden.

Thieme: In Deutschland gehören auch Lehrer oder Richter zu den Menschen, die als Bürger Verantwortung übernehmen.

Markaris: In Griechenland können Sie diese Gruppe nur mit dem Gehalt erklären, nicht durch eine historische Entwicklung. Ich bin froh, in einer Stadt aufgewachsen zu sein, die als einzige in Os­manien ein Bürgertum hatte – Istanbul. Wäre Istanbul die Hauptstadt der Türkei geworden, wäre die Türkei ein anderes Land. Wenn ich mich streite, schimpfe ich: „Ihr Griechen!“ Dann sagen die Leute: „Petros, du bist Grieche!“ Ich sage: „Nein, Istanbuler!“

Nur ein gutes Drittel der Deutschen hat Grundbesitz

Thieme: Genau das ist es: Wir brauchen in Europa ein Verständnis dafür, was das Denken der Menschen geprägt hat. Nehmen Sie Deutschland mit der Inflationserfahrung! Die wirkt nach. Bis ­heute hat ein gutes Drittel der Deutschen Grundbesitz. Die Übrigen haben verständlicherweise Sorge, dass ihr Geld weniger wert ist.

Markaris: Daran habe ich nicht gedacht, danke! Ein interessanter Zusammenhang. Das nehme ich in den nächsten Roman auf.

Thieme: Wer ein Haus hat, aber kein Geld, kann sich immerhin sagen: Ich saniere eben nichts, sieht nicht schön aus, aber ich habe ein Dach über dem Kopf. Inflation trifft die Ärmsten. Sie vergrößert die Ungleichheit.

Markaris: In Griechenland ist es so: Der Hausbesitz war der große Traum der Menschen. Als ich 1964 kam, sah man einstöckige ­Häuser, und in die Höhe ragten Eisenträger, das Gerüst für den zweiten Stock. Hässlich! Aber die Familien haben sich den zweiten Stock vom Mund abgespart. Seit 1981 kam eine Generation nach, die das nie verstanden hat. Die hat alles auf Kredit gemacht.

Und das Geld kam aus Europa?

Thieme: Nicht nur, aber mit dem Euro kam besonders viel.

Markaris: Ich bin sauer auf die Europäer! Jahrelang kam keiner und sah nach, wie die Leute mit dem Geld umgingen.

Thieme: Viele haben vertraut. Wenn eine deutsche Firma in ­Griechenland eine Straße bauen oder Maschinen dorthin liefern kann, macht sie ein Geschäft. Und bezahlt hat es ein anonymer Staatshaushalt. – Deswegen bin ich dafür, die Staatshaushalte möglichst gering zu halten. Ein großer Staatsapparat begünstigt Ressourcenverschwendung, Korruption, Klientelsystem.

Markaris: Das gibt es in Deutschland nicht?

Thieme: Doch! Auch bei uns gibt es so was.

Warum haben die Banken in Griechenland nicht hingesehen?

Thieme: Nicht nur für die Banken war vieles unvorstellbar. Einige haben es dennoch eher gemerkt, dass etwas nicht stimmt.

Markaris: Aber Sie haben doch gut an Griechenland verdient!

Thieme: Natürlich. Ich hatte privat griechische Anleihen, verzinst mit acht Prozent. 2007 habe ich gedacht: Ich verkaufe die lieber.

"Sie brauchen das Geld nicht?" - "Nein, ich will den Kredit nicht!"

Markaris: Ich erzähle Ihnen dazu eine Geschichte: Meine Tochter hat Filmregie studiert. Für ihre Ausbildung habe ich einen Kredit aufgenommen. Ich bin zur Citibank, 10 000 Euro, bitteschön, kein Problem! Ich hatte die Hälfte zurückbezahlt, als ich eine schöne Frauenstimme am Telefon hörte: „Herr Markaris, wir geben ­Ihnen einen neuen Kredit, 15 000 Euro. Mit 5000 Euro lösen Sie den alten Kredit aus – dann haben Sie 10 000 Euro!“ Ich sagte: „Nein!“ Die Stimme klang erstaunt: „Sie brauchen das Geld nicht?“ Ich sagte: „Nein, ich will den Kredit nicht!“ Neun von zehn Griechen hätten dieses Geld bekommen. So waren die Banken!

Thieme: Als vernünftiger Mensch achtet man darauf, sich nicht abhängig zu machen und Kredite verantwortlich zu nutzen. Mit der Stiftung der Deutschen Bank schulen wir Lehrer, damit die den Schülern zum Beispiel beibringen können, dass ein Handyvertrag ein verkappter Kredit sein kann. Das ist eine echte Bildungsaufgabe!

Wenn Sie nach Griechenland fahren, was wollen Sie sehen?

Thieme: Die antiken Stätten! Aber nach allem, was Sie erzählen, bin ich unsicher, wie ich mich in Griechenland verhalten sollte.

Markaris: (lacht) Unsicher? Typisch evangelisch!

Und was wollen Sie in Deutschland noch sehen?

Markaris: Im Saarland war ich noch nie!

Thieme: Eine Melange aus Deutschland und Frankreich.

Markaris: Klingt nach „im Herzen Europas“ – klingt gut!

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