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Wer im Ausland lebt, sieht mehr als nur die Oberfläche. Gefängnisse in Venezuela, Sterbekliniken in Schweden, Krisenopfer in Spanien - Christen berichten aus ihrer fremden Heimat.

Betreff: Julio und die Krise

Von: Manfred Benzing aus Spanien

Spanien vor der Wirtschaftskrise, das war ein Land im Immobilienfieber. Fast 40 Prozent des Bruttoinlandproduktes wurden in dieser Branche erwirtschaftet. Millionen von Arbeitsplätzen lockten ein Heer von Einwanderern, vor allem aus Südamerika, Afrika und Osteuropa, an und brachten viele Jugend­liche  dazu, hier einzusteigen, anstatt zu studieren. 2008 brach dieser Markt zusammen wie ein Kartenhaus. Die sozialistische Regierung verkannte die Krise, lieh sich Unmengen Geld, um die Löcher zu stopfen, die sich nach und nach überall auftaten.

Seit November 2011 regiert das rechte Lager und spart: Studieren ist teurer geworden, die Gesundheitsversorgung nicht mehr kostenlos, Unternehmer können ihr Personal leichter entlassen. Die Banken werden mit Milliardenbeträgen aus Brüssel wieder flottgemacht. Da man aber für notleidende Menschen keinen Cent hat, wächst der Zorn unter den Linken. Im November kam es zum Generalstreik.

Unser Presbyterium liegt in Andalusien. Dort sind 35 Prozent arbeitslos – zehn Prozent mehr als im Landesdurchschnitt. In wohlhabenderen Familien hat jetzt nur noch ein Elternteil Arbeit. Man kündigte der südamerikanischen Putzfrau. Und mäht den Rasen wieder selbst. Ungleich härter trifft es die Menschen am Ende der Kette, wie etwa meinen nigerianischen Freund Julio Otemi. Weil er arbeitslos ist, wird seine Aufenthaltsgenehmigung nicht erneuert. Noch lebt er mit seiner pflege­bedürftigen spanischen Lebensgefährtin Remedio zusammen. Ihnen steht jetzt die Zwangsräumung bevor, sie können die Miete nicht zahlen.

Unsere Gemeinde sucht nun fieberhaft eine kleine, günstige Wohnung. Dann gibt es vielleicht einen Ausweg: Durch ein relativ neues Pflege­gesetz kann Remedio Geld beantragen und jemanden einstellen, der sie zu Hause pflegt: Julio. So hätte er eine Arbeitsstelle, ein Einkommen und in der Folge eine ­Aufenthaltsgenehmigung. Das wäre Glück im Unglück – und leider eine Ausnahme.

 

Betreff: Gefangenenbesuche

Von: Norka Kresling aus Venezuela

Besuchstag im Männergefängnis. An allen Fenstern, Zäunen und Türen hängen die Häftlinge, schreien uns Beleidigungen zu, wedeln mit T-Shirts, fordern Geld oder Freiheit. Dahinter liegt die Hölle: Waffen- und Drogenhandel, Schießereien. Bei ­„Gladiatorenspielen“ bekämpfen sich zwei Mitglieder verfeindeter Banden vor den Augen aller anderen mit Messern, bis einer stirbt. Die Bewacher schweigen, halten dafür zum Teil die Hand auf. In bettenlosen Sälen schlafen bis zu 200 Männer dicht gedrängt auf Matratzen, Decken oder in Hängematten. Mächtige Gefangenenclans vergeben die Plätze: Ein Deutscher, der keine „Miete“ zahlen konnte, saß die ganze Nacht auf der Treppe, immer wieder geschubst von Vorbeilaufenden.

Wir kümmern uns derzeit um etwa 15 Deutschsprachige, die in Venezuela ein­sitzen. Alle wurden als Drogenkuriere verhaftet. Darunter viele Frauen um die 40, deren Partner gesagt hätten, für sie sei das Risiko nicht so groß. Wenn möglich, besuchen wir alle einmal im Monat, bringen Wäsche, Matratzen, Hygieneartikel, Medikamente. Auch Zeitungspapier und Plastiktüten: In einer Abteilung gibt es für 45 Frauen nur zwei Toiletten, auch diese in Mafiahänden, also „kostenpflichtig“.

Was mir auffällt: Die Männer freuen sich sichtbar über unsere Besuche, auch über mitgebrachten Kuchen oder Süßes. Die Frauen bringen dagegen selten ein "Danke" über die Lippen. Sie treten mir vorwurfsvoller entgegen, beschweren sich, dass die Botschaften nicht genug für sie tun. Ich frage mich, ­woran das liegt. 


Betreff: Von guten Mächten wunderbar geborgen

Von: Michael Dierks aus Schweden

"Sterben, wie macht man das eigentlich?“, fragte ich Richard Skröder, Palliativmediziner in der Klinik Stockholms Sjukhem, als ich ihn für unseren Gemeindebrief interviewte. Wir trafen uns in einer Abteilung, in der durchschnittlich zwei Patienten täglich sterben, 700 im Jahr. Dr. Skröder antwortete, Sterben sei eine Art umgekehrter Geburtsvorgang: Als Ungeborenes spürt man zuerst die Mutter, dann hört man im Bauch Geräusche und Stimmen, schlägt bei der Geburt die Augen auf und fängt an zu schreien. Sterbende dagegen hören zuerst auf zu sprechen, schließen dann für immer längere Zeiten die Augen, ihr Atem wird unregelmäßig. Schließlich werden Hände und Füße kalt, „Sie werden nicht mehr gebraucht.“ In dieser Phase seien Ansprache, Berührung oder bloße Nähe wichtig. Mancher Sterbende aber kann auch erst dann loslassen, wenn er allein ist.

Der Tod ist in Schweden kein großes Tabuthema, in der Öffentlichkeit spricht man viel darüber. Dennoch ist die Versorgung alter und sterbender Menschen nicht immer gut. In vielen Altenheimen gibt es zu wenige oder häufig wechselnde Ärzte. Das Sjukhem ist auch für Schweden einzigartig, was Kompetenz und Ausstattung angeht.
Skröder sagt, es werde auch gelacht. Er ­redet mit Patienten immer offen, auch mit den Angehörigen, selbst wenn es Kinder sind.

Todkranke brauchen die Sicherheit, dass die Hinterbliebenen den Verlust bewältigen werden. Erst dann können sie loslassen. Mit dem Tod, so sagt er, lasse sich manchmal ein Aufschub aushandeln, etwa um die Ankunft eines nahen Menschen abzuwarten. Ob religiös oder nicht, die meisten seiner Patienten glauben, dass nach dem Tod noch etwas kommt. „Gott hat viele Namen”, sagt Skröder. „Bei den Sterbenden spüre ich vor allem eins: ihre Hoffnung.“

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