Illustration: Dorota Wünsch / Dressler Verlag
Kinder, hört nicht auf die Eltern!
Hört lieber auf Opa Gert. Salah Naoura erzählt eine Geschichte, die er fast selbst erlebt hat
27.08.2012

In „Dilip und der Urknall“, einer etwas verrückten Familiengeschichte, macht der Salah Naoura Kindern Mut, ­ihren eigenen Weg zu gehen: Der neunjährige Anton ist Märchenberichtiger und Erzähler. Seine Eltern beschließen, dass sie ein zweites Kind wollen, ­einen zweiten Sohn. Zum Glück wird es Adoptiv­bruder Dilip, gebürtiger Inder. Doch erst knallt es einmal richtig in Antons Familie.

Wie viel Salah Naoura steckt in Anton?

Salah Naoura: Mein Vater war – wie Antons Vater – sehr stark auf bestimmte Schulfächer fixiert. Das hat mich als Kind gestört, weil mir damit suggeriert wurde: Wenn du in diesen Fächern nicht gut bist, wird deine Zukunft grau und trübe. Und natürlich waren das genau die Fächer, in denen ich schlecht war oder die mich nicht interessiert haben.

Und wie haben Sie damals darauf reagiert?

Naoura: Ich habe gesagt, ich glaube nicht, dass man nur eine Zukunft hat, wenn man gut Mathe und Physik kann. Schön wäre gewesen, wenn mein Vater sich mal richtig gefreut hätte, wenn ich gut in Deutsch, Kunst und Sprachen war, und das war ich eigentlich immer. Aber das fand er dann einfach nicht so wichtig. So stellte er sich als Bankmanager eben meinen Werdegang vor. 

Wer hat Sie damals unterstützt?

Naoura: Meine wunderbare Patentante. Ich hatte auch ein paar gute Lehrer. Man braucht als Kind andere Erwachsene, bei denen man das Gefühl hat, da kann ich hin, wenn ich andere Impulse brauche. Ich glaube, erst wenn man andere Meinungen als die der Eltern hört, traut man sich als Kind überhaupt aufzustehen und zu sagen: Das möchte ich so nicht machen. Ein Kind liebt ja seine Eltern und neigt dazu, die Aussagen und Wünsche der Eltern als absolut anzusehen. Und das muss sich irgend­wann zurechtrücken.

Ich möchte alle Kinder auffordern, sich Ratgeber außerhalb der Familie zu suchen

Anton und sein Adoptivbruder Dilip in „Dilip und der Urknall“ haben ganz ähnliche Sorgen. Wie wehren sie sich?

Naoura: Auch Antons und Dilips Vater reitet immer darauf herum, dass man gut in Mathe und im Fußball sein muss. Einmal behauptet er sogar: Wenn man nicht gut in Mathe ist, muss man zur Müllabfuhr. Da fragt Anton: Ist Müllabfuhr denn was Schlimmes? Anton wehrt sich also, indem er Fragen stellt, auf die die Erwachsenen oft erst mal keine Antwort haben. Und er erfindet sogenannte Märchenberichtigungen, die er mit seinem Kassettenrekorder aufnimmt. Das heißt, er schreibt – oder spricht Märchen um, wie es ihm gefällt. Er wehrt sich also gewissermaßen auch mit seiner Fantasie. Das habe ich übrigens als Kind auch getan. Ich habe mich auch in selbst erfundene Geschichten geflüchtet und daraus Hoffnung für die Zukunft geschöpft.

Und wo holt sich Anton Unterstützung?

Naoura: Bei seinem Opa Gert und seiner Lehrerin Frau Raddatz, einer alten Flower-Power-Frau, die gerne demonstriert. Er fragt sie wörtlich: Glauben Sie, dass man im Leben nichts werden kann, wenn man schlecht in Mathe ist? Und sie antwortet: So ein Quatsch, wie kommst du denn darauf? Und später sagt sie seinem Vater, dass er sich um seinen Sohn keine Sorgen zu machen braucht, weil Anton viel Fantasie und Einfühlungsvermögen hat und sich nichts gefallen lässt. Das ist für Anton eine ganz wichtige Rückversicherung.

Eine Botschaft an Ihre Leser?

Naoura: Ich möchte alle Kinder dazu auffordern, nicht nur auf die Eltern zu hören, sondern sich auch Ratgeber außerhalb der Familie zu suchen. Ich glaube, jedes Kind erlebt Erwartungsdruck in seiner Familie. Es ist wichtig, dass Kinder lernen, auf sich selbst zu vertrauen, ihre eigenen Fähigkeiten schätzen und einschätzen lernen und sich dann auch trauen, von Erwartungen abzuweichen. Andere Erwachsene können dabei helfen. Eltern sind normale Menschen mit eigenen Wertvorstellungen und eigenen Vorlieben, die sie gerne auf ihre Kinder projizieren und weitergeben wollen. Aber das muss nicht immer passen.

Welche Rolle spielt dabei Opa Gert?

Naoura: Als Verwandter ist er ein wichtiger Verbündeter außerhalb des engsten Familienkreises, an den Anton und Dilip sich wenden können. Er ist ja in gewisser Weise Künstler, der Anton anders gewähren lässt als der Vater. Aber dieses Künstler­dasein fordert natürlich auch seinen Preis: Opa Gert hat nicht viel Geld verdient und damit aus Sicht von Antons Vater seine Pflichten als Familienvater vernachlässigt. Aber das ist eben immer eine Frage der Perspektive. Der Vater von Anton würde vielleicht sagen: Es geht mehr ums Materielle. Und Opa Gert würde wahrscheinlich sagen: Es geht mehr ums Dasein. Für Anton ist er das Vorbild des Freaks, der seinen eigenen Weg geht. Und der einfach nur dadurch, dass er da ist, Anton Mut macht, von den Vorstellungen seiner Eltern abzuweichen. 

Jan Ullrich ist ein kleiner Che Guevara, ein Freiheitskämpfer

Bei seiner Lehrerin Frau Raddatz schreibt Anton eine Märchenberichtigung von ­Rapunzel, die nun nicht mehr ergeben in ihrem Turm auf ihren Prinzen wartet, sondern aus ihrem Turm nach Freiheit schreit. Damit löst Anton eine Sitzblockade aus. Die halbe Schule protestiert gegen zu strenge Regeln vor dem Zimmer des Direktors. Was war Ihnen an der Szene wichtig?

Naoura: Dass man etwas erreichen kann, wenn man aufsteht und seine Meinung sagt. Dass man Unterstützer findet. Und noch etwas: die Macht des Wortes. Sein Vater pocht ständig darauf, wie wichtig Zahlen sind. Anton dagegen macht die Erfahrung, dass Sprache und Worte viel bewirken können.

Außerdem schleppt Anton einen Klassenhamster an, der ausgerechnet Jan Ullrich heißt – nach dem Radrennfahrer.

Naoura: Jan Ullrich ist ein kleiner Che Guevara, ein Freiheitskämpfer: Kaum hat er die Möglichkeit, aus seinem Hamsterrad, sprich Käfig, auszubrechen, rast er unaufhaltsam davon – leider auf die Straße, in den Tod. Also steht zwischen den Zeilen, dass es auch ganz schön gefährlich werden kann, wenn man von der Norm abweicht. Das ist zuweilen eben der Preis der Freiheit.

Welche Rolle spielt Humor in Ihren Büchern?

Naoura: Es ist fast unmöglich, ohne Humor zu leben oder zu überleben. Ich versuche an schwierigen Situationen immer auch das Komische aufzuzeigen. Und so ist es ja auch im Alltag. Absurditäten machen, wenn man sie entdeckt, das Problematische besser erträglich. Mit Humor bekommt man auch mehr Abstand zu den Dingen. Das schont den Gefühlshaushalt und verhindert tiefe Abstürze. Ich möchte, dass meine Leser über die ernsten Probleme, zum Teil auch läppischen Problemchen der Figuren in meinen Büchern lachen können – und sich zugleich darin wiedererkennen. Vielleicht lachen sie dann im echten Leben auch leichter über sich selber. Das nimmt den Alltagsdruck in unserer Leistungsgesellschaft.

Der Vater findet das am Wichtigsten, was er selbst am schlechtesten kann

In „Dilip und der Urknall“ hat der Vater gerade einen neuen, noch besser bezahlten Job bei einer Bank angenommen. Er kauft ein Haus und ein teures Auto. Und dann verschweigt er seiner Familie einen Monat lang, dass er den Job wieder verloren hat und arbeitslos ist. Das ist ja nicht gerade das, was im Mittelstand typischerweise als erfolgreich gilt?

Naoura: Dilips und Antons Vater ist ja erst mal erfolgreich, scheitert aber an seinem Karrierestreben, weil er nicht auf sein Innerstes hört. Geld spielt für ihn eine große Rolle. Die Diskrepanz zwischen Wunsch und Wirklichkeit ist interessant. 

Wie haben Sie in der Hinsicht Ihren eigenen Vater erlebt?

Naoura: Mein Vater hat auch bei einer Bank gearbeitet und wollte, wie in seiner Generation üblich, Karriere machen. Dass ihm das so wichtig war, hatte natürlich Auswirkungen auf unsere Familie. Als Kind kam mir das immer ziemlich verbissen und zwanghaft vor, dieses „Das muss so sein, weil es den gesellschaftlichen Standards entspricht“. Ich wollte davon erzählen, wie Kinder so etwas empfinden und wie man sich dann als Kind verhält.

Antons Vater sagt, ohne Mathe komme man nicht durchs Leben. Nun verliert er seinen neuen Job bei der Bank ausgerechnet deshalb, weil er Fehler beim Rechnen macht. Eine Ironie des Schicksals?

Naoura: Ich möchte in meinen Geschichten ja nicht eins zu eins erzählen, wie es sich real zugetragen hat oder wahrscheinlich zutragen könnte. Mir ist es wichtig zu gestalten, Dinge bewusst herauszustellen oder zu vernachlässigen, um Spannung und Witz zu erzeugen. Was mich dabei besonders interessiert, ist das Absurde. „Ironie des Schicksals“ ist ja ein Phänomen, das einem im realen Leben sehr oft begegnet. Ich finde es spannend, dass der Vater ausgerechnet das am Wichtigsten findet, was er selbst am schlechtesten kann: Mathe. Grund dafür ist sein übertriebenes Prestigedenken. Seine Vorstellung von einem erfolgreichen Leben ist der Job bei der Bank, der die materiellen Annehmlichkeiten und Statussymbole ermöglicht, die Antons Vater für wichtig hält: Haus, Auto, Geld.

Wie rettet er sich schließlich?

Naoura: Die Rettung liegt im Scheitern und der damit verbundenen Notwendigkeit umzudenken. Als der Vater merkt, dass Frau und Kinder trotz der Entlassung zu ihm stehen, traut er sich, alle Ansprüche an sich selbst über Bord zu werfen und sich zum ersten Mal ganz ernsthaft die Frage zu stellen: Was  will ich eigentlich im Leben? Was macht mich wirklich glücklich? Durch diese Veränderung ist die­ ganze Familie plötzlich einen enormen Druck los.

Ich könnte nie mehr mit dem Risiko leben, angestellt zu sein.

Sie waren auch kein Mathegenie und sind nicht Bankmanager, sondern Autor und Übersetzer geworden. Was erleben Sie, wenn Sie von Ihrem Beruf erzählen?

Naoura: Dass kaum jemand eine Vorstellung davon hat, wie man als Autor lebt und was man da tut. Bei Freiberuflern mischt sich das Berufliche oft mit Privatem, vor allem, wenn man zu Hause arbeitet. Schon das kann man schwer vermitteln. Und künstlerische Arbeit verstehen ohnehin nur Leute, die etwas Ähnliches machen.

Wie reagieren Sie auf die Frage: Können Sie als freier Autor denn vom Schreiben leben? 

Naoura: Ich freue mich, mit Ja antworten zu können. Als ich noch vorwiegend als Übersetzer gearbeitet habe, war ich oft am Rande des Existenzminimums. Jetzt, wo sich meine Bücher halbwegs gut verkaufen, kann ich davon leben. Man kann heutzutage ja auch wunderbar zurückfragen: Kannst du denn als Angestellter überleben? Das ist ja auch nicht mehr so selbstverständlich. Wenn Angestellte sagen: Ich könnte nie mit deinem Risiko leben, antworte ich: Ich könnte nie mehr mit dem Risiko leben, angestellt zu sein. Da ist man ja auf Gedeih und Verderb einem Arbeit­geber ausgeliefert. Als Freiberufler kann ich mein Risiko auf viele Schultern verteilen. Dadurch fühle ich mich letztlich viel sicherer.

Und was sagt Ihr Vater jetzt zu Ihnen, seinem erwachsenen Sohn und erfolgreichen Autor?

Naoura: Nicht viel. Wir leben eben in verschiedenen Welten.

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