Foto: Barbara Dombrowski
"Langeweile ist gut"
Warum Kinder manchmal auch ­Leere brauchen. Und warum sich Erwachsene trotz besseren ­Wissens so schwertun, Kinder ­anzunehmen, wie sie sind
21.05.2012

chrismon: Was brauchen Kinder von ihren Eltern?

Remo Largo: Zeit. Das ist eines der kostbarsten Güter, die Eltern ihren Kindern schenken können. Zeit ist durch Beruf und Hobbys oft sehr knapp. Väter verbringen im Schnitt nur 20 ­Minuten am Tag mit ihren Töchtern oder Söhnen. Die Mütter sind zwar häufiger mit ihnen zusammen, aber oft mit anderen Dingen beschäftigt. Und das ist der entscheidende Punkt: Zeit zu schenken bedeutet, nicht nur anwesend, sondern verfügbar zu sein. Was zählt ist das „Ja“, wenn das Kind fragt: „Kannst du mit mir spielen?“ – und dass man dann auch wirklich bei der Sache ist.

Und warum die Eltern?

Largo: Zeit ist die Grundlage der Bindung zwischen Eltern und Kind. Studien zeigen: Im Fall einer Scheidung haben 50 Prozent der Väter nach ein bis zwei Jahren keine Beziehung mehr zu ihren Töchtern oder Söhnen. Das ist eine tragische Folge davon, dass gar nicht erst Nähe bestand. Ein Kind bindet sich übrigens auch an Eltern, die zwar Zeit mit ihm verbringen, ihm aber kaum Aufmerksamkeit schenken. Die es vielleicht oft stundenlang vor den Fernseher setzen, während sie selbst daneben am Computer hocken. Aber das Wohlbefinden der Kinder, das hängt ganz entschieden von der Qualität der Zeit ab, die sie mit den Eltern verbringen.

Welchen Einfluss hat der Kontakt zu Erziehern im Kindergarten und in der Schule auf die Entwicklung?

Largo: Schon die Kleinen brauchen Bezugspersonen neben den Eltern, und vor allem andere Kinder. Denn sie sozialisieren sich im Spiel gegenseitig. Früher hatte man Freunde direkt in der Nachbarschaft. Man ging raus und spielte nachmittagelang. Das fällt heute oft weg. Umso wichtiger sind Kitas und Schulen.

Gibt es ein bestimmtes Alter, ab dem man Kinder Ihrer Meinung nach in die Kita geben sollte?

Largo: Ich glaube, sie sind zu unterschiedlich, als dass man dazu etwas sagen könnte. Problematisch finde ich es aber, ein Baby im ersten Lebensjahr ganztags in die Krippe zu geben. Einfach weil das erste Jahr sehr wichtig ist als Grundstein für die Beziehung. Heute sind viele Kinder bis zum Nachmittag in der Kita oder der Schule, und danach geht es oft noch weiter: Englischkurs, Musikschule oder Karateunterricht. 

Manche Eltern bieten dem Nachwuchs, den sie in der Woche so wenig sehen, dafür am Wochenende ein besonderes Programm.

Largo: Das ist gut gemeint, aber viele dieser Aktivitäten führen doch dazu, dass die Eltern zuschauen. Zum Beispiel diese Indoor­spielplätze. Sie können das Kind da im Grunde abgeben und es nach zwei Stunden wieder abholen. Ich würde Eltern raten: Gehen Sie lieber an einen Bach im Wald und schauen Sie, was passiert. Ich glaube, viele Erwachsene haben Angst, das könnte den Kindern keinen Spaß machen. Das ist eigentlich nie so, aber die Großen können sich nicht mehr vorstellen, dass es spannend ist, draußen zu spielen. Dabei sind Kinder auf die Natur geprägt. Bis vor etwa 200 Jahren sind sie im Freien aufgewachsen. Sie wollen und sollten in ihrer Entwicklung die Erfahrungen machen, die die ­Natur ihnen bietet.

Brauchen Kinder Zeit zur freien Verfügung?

Largo: Ja, das ist äußerst wichtig für ihre Entwicklung. Und dass heute schon Vierjährige von morgens bis abends Programm haben, ist nicht gut. Kinder im Vorschulalter müssen weder Englisch noch Karate können. Was sie brauchen, sind ganzheitliche Erfahrungen, etwa im Wald. Dort haben sie Bewegung und können mit allen Sinnen die Welt erkunden. Ein weiteres Problem der vollen Terminkalender ist, dass die Kinder dadurch mehrheitlich fremd­bestimmt sind. Was sie tun und denken, wird ihnen viel zu oft von außen aufgetragen. Sie kommen gar nicht dazu, herauszufinden, was sie selbst wollen. Das ist höchst bedenklich.

Warum?

Largo: Weil jeder Mensch eine gewisse Leere braucht, um zu spüren, was er will. Wie soll man sonst im Laufe der Zeit erkennen, wer man ist und welcher Beruf einen ausfüllen könnte? Es ist bedauernswert, dass diese Leere heute oftmals fehlt. Langeweile ist gut. Übrigens auch in der Zeit, die Kinder gemeinsam verbringen. Es macht kreativ, wenn man erst mal überlegen muss, wozu alle Lust haben.

In der Grundschule werden häufig Entwicklungsstörungen wie das Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom ADHS festgestellt.

Largo: Kinder sind sehr verschieden. Und ich frage mich: Warum können Erwachsene das nicht akzeptieren? Es gibt einfach Menschen, die mehr Bewegung brauchen als andere. Wenn man sie in ein Klassenzimmer sperrt, hat man ein Problem. Wenn man mit ihnen in den Wald geht, nicht. Vielleicht könnte ein Fußmarsch zur Schule oder eine Unterrichtsstunde Sport am Tag schon ­helfen. Natürlich haben manche Schüler tatsächlich ADHS, aber beim Großteil, würde ich meinen, ist das nicht der Fall. Das Problem liegt bei den Erwachsenen. Häufig heißt es, Kinder seien heute auffälliger oder schwieriger als früher. Das stimmt nicht! Die Kinder haben sich überhaupt nicht verschlimmert im Vergleich zu früheren Generationen. Sie sind seit 10 000 Jahren gleich.

Warum tun sich Erwachsene schwer damit, Kinder so anzu­nehmen, wie sie sind?

Largo: Ich denke, ein wichtiger Grund ist, dass das Spektrum an beruflichen Tätigkeiten immer schmaler wird. Vor 30 Jahren gab es noch viel mehr körperliche Arbeit. Heute haben wir in Deutschland über 70 Prozent Dienstleistungsberufe. Das bedeutet akademische Anforderungen: lesen, schreiben, rechnen und soziale Kompetenz. Damit steigt der Druck auf die Lehrer und die Eltern, Kinder früh zu „optimieren“. Man testet sie, um Schwächen gleich zu erkennen und durch Förderung auszugleichen. Was dabei oft zu kurz kommt, ist das Vertrauen der Kinder in ihre Fähigkeiten zu stärken. Ihnen zu vermitteln, dass sie zu dem Menschen werden können, der in ihnen steckt.

Wie kann man denn die 800 bis 1000 Stunden, die Kinder jedes Jahr in der Schule verbringen, dafür besser nutzen?

Largo: Wir sollten aufhören, Wissen durch Auswendiglernen in sie hineinzustopfen, denn das vergessen sie sowieso ganz schnell wieder. Stattdessen sollten wir ihnen ein sinnvolles Angebot an Lernstoff machen, das jedem Einzelnen hilft, seine Interessen zu entdecken und sich weiterzuentwickeln.

Eine akademische Ausbildung ist in Deutschland für viele Eltern ein Muss. Sonst fürchten sie um die Zukunft ihrer Kinder.

Largo: Das halte ich für eine völlig unbegründete Angst. In Deutschland gehen zwischen 30 und 50 Prozent der Schüler aufs Gymnasium. In der Schweiz haben wir nur 19 Prozent Abiturien­ten. 80 Prozent der Jugendlichen machen eine Berufslehre. Ohne dass es ausgeschlossen wäre, dass sie anschließend studieren. Und die Schweiz hat eine der niedrigsten Arbeitslosenquoten in Europa.

Sie halten den Umweg über die Lehre zum Studium nicht für Zeitverschwendung ?

Largo: Ich sehe es genau umgekehrt. Die Jugendlichen gewinnen Zeit auszutesten, was sie wollen. Durch eine Lehre sind sie viel früher gezwungen, sich zu überlegen: Was entspricht mir? Dagegen ist Abitur gleich Abitur gleich Abitur. Es ist völlig offen, was danach kommt. Viele landen auf der Universität ohne eine ­Ahnung, was sie machen wollen. Dabei geht wirklich Zeit ver­loren. Die Glückseligkeit liegt nicht im Abitur oder in einem Uniabschluss, sondern darin, dass ein Mensch sich selbst verwirk­lichen kann! Eine meiner drei Töchter hat uns mit zwölf Jahren gesagt, sie wolle Gärtnerin werden. Mit 16 ging sie von der Schule ab, lernte diesen Beruf. Heute ist sie 35, hat eine eigene Gärtnerei und ist sehr glücklich.

In Deutschland hat man in vielen Bundesländern die Schulzeit bis zum Abitur von 13 Jahren auf zwölf Jahre verkürzt.

Largo: Ich finde das unmöglich!

Warum?

Largo: Die Sozialisierung leidet. Ein Beispiel: Ein Mädchen ist voll auf der Schiene des Turbogymnasiums, lernt nur noch, vernachlässigt seine Freundschaften. Irgendwann realisiert es, dass es sozial total isoliert ist. Dann geht es ihm sehr schlecht, und die Eltern können überhaupt nichts machen. Denn es ist unmöglich, einem Kind seine Beziehungen zu organisieren, das muss es selbst tun. Und dafür braucht es Zeit. Wenn Jugendliche keine zuverlässigen Bindungen mit Gleichaltrigen haben, ist das nach meiner Erfahrung übrigens ein häufiger Grund für eine Magersucht.

Viele Eltern fühlen sich hilflos, wenn ihre Kinder in der Pubertät sind. Was sagen Sie diesen Eltern?

Largo: Also, etwas plakativ gesagt ist es doch so: Wenn die Kinder klein sind, verlangen sie zu viel Aufmerksamkeit. Aber in den Jugendjahren tendiert die Zeit, die sie mit den Eltern verbringen wollen, oft gegen null. Und wenn man versucht, die Teenager herbeizuzwingen, etwa für Familienanlässe oder die Ferien, dann sind sie nicht freiwillig da – das vermiest allen die Stimmung. Viele Eltern empfinden das Desinteresse der Jugendlichen als Kontrollverlust. Aber es ist blauäugig, nicht zu akzeptieren, dass man zwischen dem 12. und 16. Lebensjahr immer mehr den Einfluss auf den Nachwuchs verliert. Und man bekommt auch immer weniger Zuneigung von den Kindern. Oft leiden Eltern unter diesem Liebesentzug.

Sie sind eben nicht mehr die Nummer eins im Leben ihrer ­Kinder.

Largo: Nein, überhaupt nicht. Gott sei Dank!

Und was raten Sie diesen Eltern dann?

Largo: Ich plädiere für eine passive Haltung in dem Sinne, dass man den Kindern nicht nachläuft, sondern einfach Zeit für sie hat, wenn sie einen brauchen. Wichtig ist auch, dass die Eltern weiterhin ihre Meinung zu anstehenden Entscheidungen sagen, dabei aber deutlich machen: Der Entschluss und die Verantwortung dafür liegen bei dir. Denn die Ablösung von Mutter und Vater ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg ins selbstständige Leben. Freunde übernehmen in diesem Alter die Rolle der Ratgeber und Unterstützer. Die Clique ist die Eintrittspforte in die Gesellschaft. Doch die Eltern sind wichtig als doppelter Boden. Ihre Botschaft sollte sein: Wir glauben an dich, und wir unterstützen dich, ganz gleich, was kommt. Die Pubertät kann für beide Seiten turbulent sein, aber Eltern sollten wissen: Das Interesse und die Liebe ihrer Kinder bekommen sie wieder, wenn die erst mal auf eigenen Beinen stehen. Und dann ist Zeit das kostbarste Geschenk, das Kinder ihren Eltern machen können!

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Chrismon hat eine einschläfernde Wirkung ! Gähn..., äußerst spirituell !

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