Illustration: Marco Wagner
An der absoluten Belastungsgrenze
Portrait Eduard KoppLena Uphoff
15.05.2012

Jeden Mittwoch rollte die Arztpraxis durch die indischen Dörfer. Neben der amerikanischen Missionsärztin Ida Scudder nahmen im offenen Auto Platz: eine Gehilfin mit Taschen voller Verbandszeug und Medizinflaschen, die Frau eines Pastors mit Stapeln von Ansichtskarten, auf deren Rückseite Bibelverse geklebt waren, eine indische Apothekerin, ein Fahrer, der beim Auspacken half: Operationsbesteck, sterile Tücher, Salben, Pillen. Die Patienten lagerten bereits am Straßenrand oder ließen sich durch das Gehupe des Fahrers herbeilocken.

Die Arbeitsweise der Missionsärzte kann man aus heutiger Sicht nur abenteuerlich nennen. Ida Scudder, die junge Amerikanerin, behandelte die Kranken nicht nur im Krankenhaus im südindischen Vellore, sondern auch im Schatten von Tamarinden in den Dörfern, im eigenen Auto, am Straßenrand, in den Zellen des Frauengefängnisses, in äußerst ärmlichen Privathäusern.

Kein männlicher Arzt durfte eine Hindu-Frau behandeln

Es hatte einen Grund, dass sie in ihren ersten Berufsjahren oft zu Patienten gerufen wurde: Sie war eine der ganz wenigen Frauen im Arztberuf. Kein fremder Mann durfte in das Haus eines Hindus oder Muslims, um zum Beispiel dessen hochschwangere Frau zu untersuchen. „Es ist besser, wenn sie stirbt, als dass ein anderer Mann sie sieht“, sagte ihr einmal ein Brahmane, dessen Frau die Komplikationen der Schwangerschaft nicht überlebte. Aber der Kontakt zu einem Mann hätte die Regeln seiner Kaste verletzt. Genau an diesem Problem setzte Ida Scudder mit ihrem Lebens­projekt an: der ärztlichen Versorgung von und für Frauen in Indien.

Ida Scudder entstammte einer tradi­tionsreichen Missionarsfamilie. Schon ihr Großvater hatte als Arzt in der südindischen Provinz Madras gearbeitet. Bereits als Kind lebte Ida in Indien. Traumatische Erlebnisse hatte sie in dieser Zeit: Sie war Zeugin der Hungersnot von 1877–79, die mehr als fünf Millionen Menschen, einem Zehntel der Bevölkerung Südindiens, den Tod brachte. Sie war froh, nach Amerika zurückzukehren. Erst als sie erneut ihre kranke Mutter in Indien besuchte, drehte sich das Blatt. Dies muss die Zeit gewesen sein, in der sie angesichts der schlechten Versorgungslage der indischen Frauen ­ihre westliche, großstädtische Lebensweise infrage stellte und sich entschied, Ärztin zu werden. In Philadelphia, dann in New York studierte sie Medizin. Gleich nach dem Examen machte sie Pläne für ein Krankenhaus von Frauen für Frauen. Mit einiger Mühe gelang es Scudder, nachdem sie den Auftrag der Arcot-Missionsgesellschaft erhalten hatte, Geld für ein Krankenhaus zu sammeln.

Cholera und Pocken: die Heimsuchungen einer Göttin?

Ida Scudder arbeitete an ihrer abso­luten Belastungsgrenze, kämpfte gleich mit mehreren Herausforderungen: der un­überschaubaren Zahl der Erkrankungen, dem notorischen Geldmangel, dem Aberglauben der Bevölkerung, der Abwertung der Frauen durch die Männer. 1902 entstand in Vellore das Krankenhaus, das bis heute ein hohes Ansehen genießt, dann 1908 eine He­bammen- und Krankenschwesterschule.

Cholera-, Pocken- oder Pestepidemien erschienen damals vielen Dorfbewohnern noch als Heimsuchung einer unbekannten Göttin. Kranke wurden zu Hause in dunklen Kammern gehalten, manche gar von Haus zu Haus verschleppt, um einem angeblichen bösen Geist zu entgehen. Ein Abszess im Bein durfte nicht berührt werden, weil er das Abbild eines Gottes hätte sein können. Und dann die vielen Kinderschwangerschaften und die Tempelprostitution – die Rolle der Frauen war es, sich den Männern zu unterwerfen.

Ihre Studentinnen gehörten den verschiedensten Religionsgemeinschaften an

Zu Ida Scudders Ruhmestaten zählte 1918 die Gründung einer „Medizinischen Schule für Frauen“, des ersten wissenschaftlichen Colleges für Frauen in der ganzen Region. Auch hier galt der Grundsatz der Bekenntnisfreiheit: Ihre Studentinnen waren Protestantinnen und Katholikinnen, syrische Christinnen und Hindus, während der Missionsausschuss ihrer Heimatkirche noch darüber diskutierte, ob das in Ordnung sei. Doch mit ihr wusste Ida Scudder souverän umzugehen. Dass ihr Krankenhaus und ihr College zu national beachteten Institutionen wurden, hat mit ihrer unbeirrbaren Menschenliebe zu tun. (Weitere Informationen unter: www.freundeskreis-vellore.de.)

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