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"Märchen liefern goldene Schlüssel"
Märchen lehren uns, wieder in Bildern zu denken, sagt die Kinder- und Jugendbuch­autorin Cornelia Funke
23.10.2012

Wie haben Märchen auf Sie als Kind gewirkt?

Cornelia Funke: Nicht sehr, Göttersagen haben mir damals viel besser gefallen. Märchen sind schwarz und weiß. Gar nicht so, wie ich das sonst von Geschichten kannte: dass man den Figuren durch ihre Schwächen und Stärken ganz nahkommt, sie als ­seinesgleichen empfindet. Märchenfiguren wie Aschenputtel, Schneewittchen sind eben anders. Jeder kennt sie. Sie sind wie Scherenschnitte, aber sie bilden die Welt in ihrer Fremdheit sehr deutlich ab und geben einem das Gefühl, etwas über das Herz der Dinge zu erfahren, über die menschliche Natur und den Lauf der Welt.

Wenn Märchen Ihnen als Kind nicht gefielen, warum erzählen Sie jetzt mit „Jacob Reckless“ selbst eins?

Ich habe diese Welt zusammen mit Lionel Wigram gefunden, einem englischen Freund, der an der Neuverfilmung von Sherlock Holmes und einigen „Harry Potter“-Filmteilen mitgewirkt hat. Wir arbeiteten an einer Leinwandadaption von E. T. A. Hoffmanns „Nussknacker“ und stießen dabei auf die Märchenwelt, die erwachsen werden will und nach dem 19. Jahrhundert schmeckt. Ich beschloss, sie literarisch näher zu erforschen. Ich habe mich gefragt, was wohl wäre, wenn ich alle Märchenfiguren als das behandle, was sie sind: Kreaturen, die in einer ganz spezifischen Landschaft ansässig und mit Natur und Geschichte eines Landes verbunden sind. Eine Hexe in Russland sieht ganz anders aus als eine Hexe im Schwarzwald.

Das war der Anfang von „Reckless“?

Ja, ich dachte: Was für ein Abenteuer! Landschaften, Völker und Nationalitäten über ihre Märchen entdecken und aus ihnen eine Welt bauen, die zugleich die Historie unserer Welt und ihre erzählte Wirklichkeit zeigt. Wenn man all das zusammen mit Jacob in der Welt hinter dem Spiegel entdecken würde – im Kostüm des 19. Jahrhunderts: Wie würde sich das anfühlen? Wie würde das die Märchen verändern? Was würde ich dabei über Länder und Völker erfahren? Das hat mich neugierig gemacht. Ich habe viel über das 19. Jahrhundert recherchiert und mir unzählige Illus­trationen und Fotos aus dieser Zeit angeschaut. Und eben auch viele Märchen in unterschiedlichen Fassungen.

Einer, der auszog, das Fürchten zu lernen

Welche denn?

Angefangen habe ich mit Grimms Märchen. Im ersten Band von Reckless treibt sich Jacob in der Spiegelwelt hauptsächlich in „Austrien“ herum – was in etwa ein Abbild von Österreich und Ungarn ist. Ungarische und polnische Märchen habe ich auch gelesen. Der zweite Band spielt hauptsächlich in Lothringen, also Frankreich, und in Albion, dem Pendant zu England. Hierfür habe ich französische und englische Märchen gelesen. Gar nicht so einfach: In Frankreich wurden viele Volksmärchen fürs Hof-Entertainment umformuliert, man findet kaum noch die Originale. Für Albion habe ich die Artussage benutzt. Sie ist kein Märchen, dafür aber prägend im angelsächsischen Raum. Für den kommenden dritten Band lese ich ukrainische und russische Märchen – wieder eine vollkommen andere Welt.

Welches Märchenvorbild hat Jacob Reckless, der Held der ­Geschichte?

Jacob ist einer, der auszieht, das Fürchten zu lernen. Das kann er im Grunde nicht. Wann immer er der Furcht begegnet, will er sie besiegen. Genau wie mein Sohn Ben. Als er einmal einen zwei­fachen Rückwärtssalto vom Balkon in den Swimmingpool gemacht hat, habe ich ihn gefragt: Hast du keine Angst? Doch, hat er mir geantwortet, aber das ist ja gerade das Spannende. Diese körperliche Verwegenheit habe ich selbst gar nicht, ich bin seelisch verwegen, nicht körperlich.

Und wie ist Ihre Märchenfigur Fuchs, Jacobs Freundin, entstanden?

Lionel Wigram und ich haben lange darüber diskutiert, wie Jacob hinter dem Spiegel ankommen soll. Ich habe gesagt, da erwartet ihn irgendjemand, der ihm zur Seite steht. Und dann kamen mir die weisen Füchse aus den Märchen in den Sinn, die dem Held im Wald begegnen und ihm Rat geben. Wenn der Held nicht darauf hört, wird es ganz furchtbar. Oft rettet der Fuchs die Situation dann trotzdem, ohne gekränkt zu sein. Dieser Fuchs in „Reckless“ ist weiblich, das war gleich klar. Und dann hat sich die Füchsin beim Hexenhaus im ersten Band auf einmal in ein Mädchen verwandelt. Ach, schau mal, dachte ich, wie alt ist sie wohl, wo kommt sie her? Und warum ist sie Gestaltwandlerin? Und dann hat sie mir ihre Geschichte erzählt. Später hat mich meine japanische Verlegerin darauf aufmerksam gemacht, dass die Füchsin in ­Japan das Sinnbild für die Frau ist. Das wusste ich nicht. Der ­Tiefenpsychologe Carl Gustav Jung würde vielleicht sagen: aus der Ursuppe des Unbewussten gefischt. Fuchs ist mir jedenfalls die liebste Figur, die ich je geschaffen habe. Und nach den Rückmeldungen meiner Leserinnen zu urteilen, geht es vielen anderen Frauen auch so.

"Der eigentliche Feind des Menschen ist die Angst"

Im zweiten Band gerät Fuchs in die Hände eines „Blaubarts“, nach der Märchenvorlage ein Mann, der seine Frauen nach der Hochzeit schlachtet. Warum geben Sie gerade diesem Märchen so viel Raum?

Zum einen ist es eines der dominanten Märchen in Frankreich, und der zweite Band spielt ja hauptsächlich in Lothringen, also quasi in Frankreich. „Blaubart“ stammt eher vom französischen Märchensammler Charles Perrault als von den Brüdern Grimm. Außerdem geht es in der Geschichte von Jacob und Fuchs ja auch um unausgesprochene Begierde und um Liebe. An der Blaubart-Episode wird deutlich, dass beides schwer zu trennen ist, aber auch, wie Liebe und Begierde sich unterscheiden.

Ihr Blaubart heißt Guy de Troisclerq. Er ernährt sich von der Angst der Frauen, die wie weißer Saft in eine Karaffe fließt, bevor er sie tötet. Um welche Urangst geht es da?

Der eigentliche Feind im Leben ist die Angst. Wo wir nicht hingehen, davor steht oft die Angst als Wärter. Wenn wir aber an ihr vorbeikommen, öffnet sich eine ganz andere Welt. Aber durch die Angst müssen wir hindurch.

Der Psychoanalytiker Bruno Bettelheim hat gesagt, Kinder ­brauchen Märchen, weil sie die eigenen Ängste und andere starke Gefühle widerspiegeln und so damit umgehen helfen.

So war es doch eigentlich schon immer. Die alten Griechen nannten das in ihrem Theater  Katharsis: Man reinigt sich, indem man seine finstersten Gefühle im Theater auslebt – oder eben im Buch auf einer Seite Papier. Wir sind sehr gut darin, Leiden, Angst und Tod wegzuschließen und in einer Entertainmentwelt zu leben, und wir bilden uns ein: Ach, wir sind alle pausenlos glücklich und zufrieden. Wir verdrängen, dass der Tod allgegenwärtig ist, dass das Leiden zum Leben gehört und dass wir nicht festlegen ­können, was am nächsten Tag passiert, auch wenn wir drei Ver­sicherungen abgeschlossen haben. In der Märchen-Fantasy kommen Grund­ängste und Gefühle wieder zum Ausdruck. Ich glaube, dass es eine große Sehnsucht gibt, solche intensiven Gefühle zu benennen, sie auszusprechen.

Muten Sie deshalb Ihren jungen Lesern mit „Blaubart“ eines der blutrünstigsten Märchen überhaupt zu?

Um den Blaubart kommt man nicht herum, wenn man mit französischen Märchen arbeiten will. Meine Version ist etwas weniger blutrünstig. Im Originalmärchen öffnet die Heldin die Tür zur Kammer, in der sie ihre Vorgängerinnen, Blaubarts frühere Frauen, findet: Sie sind zerstückelt, und alles schwimmt im Blut. Das wollte ich dann doch nicht, ich habe es zensiert. Der Schrecken besteht bei mir vor allem in der Angst, die ja auf ganz andere Art mächtig ist. Mir wird ja manchmal vorgeworfen, „Reckless“ sei allzu düster und grausam. Aber das können nur Menschen sagen, die lange keine Märchen gelesen haben. „Reckless“ ist für Leser ab 14 gedacht und im Vergleich zur Vorlage geradezu zahm.

"Märchen bringen bei, in Bildern zu denken"

Brauchen Erwachsene Märchen?

Ich bin nicht sicher, ob sie sie brauchen. Aber auch Erwachsene sollten ab und an die echten Märchen lesen, um auch der Ver­gangenheit unserer Welt ins Gesicht zu blicken. Weil sich darin noch eine ganz andere Spiritualität spiegelt: heidnischer Glaube, die schamanistische Tradition und eine große Naturverbundenheit, die wir immer mehr verlieren. Und gleichzeitig die dunklen Aspekte der menschlichen Natur: Ängste, Wut, Rachegelüste, die Sehnsucht nach Reichtum, nach Macht, der schönsten Frau, dem schönsten Mann, der Heirat mit dem Prinzen oder der Prinzessin.

Welche Wirkung hat das auf die Leser?

Man kann sich in den verschiedensten Rollen ausleben, das Gestaltwandeln wieder lernen. Und dann gibt es da diese unglaublichen Bilder. Zum Beispiel Frauen, denen die Arme abgehackt werden und die dann ohne ihre Arme ihr Kind im Wald aufziehen müssen. Ihre Arme wachsen erst wieder, als sie das alleine schaffen. Das sind Bilder für menschliche Stärke, die unvergesslich sind. Ich glaube, dass Märchen einem wieder beibringen können, in Bildern zu denken. Bilder erfassen unsere emotionale und unbewusste Realität oft wesentlich besser, ohne dass wir sie immer ganz verstehen müssen. Wir verstehen sie intuitiv, mit der Seele. Märchenbilder liefern goldene Schlüssel dazu.

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