"Zu Anfang wurden wir Liquidatoren noch verehrt"
Igor Nikolaijewitsch Ostrezow, 72, hat damals mit in Tschernobyl aufgeräumt, wie Hunderttausende anderer. Viele leben nicht mehr
23.03.2011

Igor Nikolaijewitsch Ostrezow, er­innern Sie sich noch, wann und wo Sie von dem Unfall im Atomkraftwerk Tschernobyl erfahren haben?

Ich habe es gleich am Morgen des Unglücks, am 26. April 1986, erfahren. Ich war damals stellvertretender wissenschaftlicher Direktor am Sowjetischen Institut für atomenergetischen Maschinenbau. Als ich zur Arbeit kam, sagte man uns, dass es in Tschernobyl einen Unfall ge­geben hatte. Was genau passiert war, erfuhren wir nicht, aber uns war klar, dass es verheerend war.

Wann wurde denn die Bevölkerung in­formiert?

Den Leuten hat man tagelang gar nichts gesagt, das war ein sehr großer Fehler. Am 1. Mai haben die Menschen in Kiew, nur 100 Kilometer vom Reaktor entfernt, noch unbekümmert den Tag der Arbeit gefeiert. Ein Bekannter von mir lebte in Prypjat, der Stadt mitten in der heutigen Sperrzone. Als es zur Explosion kam, war er auf Dienstreise und seine Frau ging auf den Markt, so als sei nichts geschehen. Sie hat eine hohe Strahlendosis abbekommen und starb kurz darauf an Krebs.

Wie war die Situation vor Ort, als Sie in Tschernobyl ankamen?

Ich kam Mitte Mai in die Zone. Es war verregnet, chaotisch, komplette Verzweiflung und Ratlosigkeit. Niemand wusste, was er tun sollte. Alle warteten auf Entscheidungen von oben. Auch die Lebensbedingungen waren anfangs fürchterlich. Wir übernachteten in einem Kindergarten, 30 Mann in einem Zimmer. Duschen gab es nur am Zugang zum Reaktor. Am schlimmsten war es für die Soldaten. Sie haben sich nicht waschen können, nicht um­ziehen, deshalb sind vor allem die ­Soldaten schnell und zahlreich gestorben. Neben uns lag einer aus einer nahen Kaserne. Er sollte das Dach des dritten Blockes reinigen, wo nach der Explosion das hochradioaktive Graphit aus der Kühlung des Reaktors hingeflogen war. Der Mann ist wahrscheinlich schon lange tot.

Derzeit kämpfen im japanischen Fuku­shima wiederum Arbeiter gegen den GAU. Können Sie sich vorstellen, was in ihnen vorgeht?

Ich kann mir das gut vorstellen. Das sind Profis, die ihre Arbeit erledigen. Und ich kann verstehen, dass sie sich mit aller Kraft einsetzen. So haben wir es damals auch gemacht. Wer beruflich mit Atomenergie zu tun hat, weiß um die Gefahren. Meine Aufgabe war es in Tschernobyl, die Inbetriebnahme der ersten drei Blöcke vorzubereiten. Das habe ich selbstverständlich getan. Den Japanern geht es in gewisser Hinsicht schlechter als uns, weil sich die Situation so dramatisch hinzieht. Bei uns gab es eine Explosion und dann war Schluss.

Hatten Sie überhaupt keine Angst, als Sie nach Tschernobyl geschickt wurden? Nicht einmal ein mulmiges Gefühl? 

Meine Frau hatte furchtbare Angst um mich. Ich selbst war ganz ruhig. Wissen Sie, das Angstgefühl stumpft sehr schnell ab, wenn man erst einmal vor Ort ist. Ich erinnere mich an eine Episode, die zeigt, wie zynisch wir geworden sind. Es war im Juni, wir saßen nach dem Mittag noch auf der Bank vor der Kantine, Vögel zwitscherten, Sonnenschein. Neben uns saß ein Dosimetrist (Strahlenmesstechniker, d. Red.) mit seinem Messgerät. Plötzlich kam aus dem Gebüsch eine Katze zu ihm gelaufen. Es gab damals viele herrenlose Haustiere in der Sperrzone. Der Kollege schaltete seinen Geigerzähler ein und hielt ihn vor die Katze. In der nächsten Sekunde sprang er auf und schleuderte das Tier mit einem Fußtritt auf die andere Straßenseite. Es hatte eine wahnsinnig hohe Strahlendosis abbekommen. Anstatt uns zu erschrecken, sind wir anderen in wildes Gelächter ausgebrochen. So war die Stimmung. 

Wussten denn wirklich alle, die zu den Aufräumarbeiten geschickt wurden, Bescheid über die Gefahren? 

Alle wussten Bescheid, wohin sie sich da begeben. Nur die ersten Feuerwehrmänner von der Werksfeuerwehr hatten keine Ahnung. Das waren junge Männer, die völlig schutzlos das Feuer gelöscht haben. Sie ­haben nicht einmal einen Mundschutz getragen. Diese Männer haben natürlich das radioaktive Material geschluckt, binnen weniger Tage war ihr Knochenmark völlig zerstört. Sie sind alle 28 im sechsten Krankenhaus in Moskau gestorben, gar nicht weit von hier. Wir Liquidatoren aus Moskau treffen uns jedes Jahr am 26. April auf dem Friedhof, wo man sie begraben hat.

Sie selbst waren zwischen Mai 1986 und Juli 1987 regelmäßig in Tschernobyl. Hatten Sie keine medizinischen Probleme?

Doch, Tschernobyl hat auch bei mir sehr schnell seine Folgen gezeigt. Schon 1988 begannen bei mir schwere Herzrhythmusstörungen. Ich habe fast ein Jahr im Krankenhaus gelegen. Dann in den 90er Jahren kam der Verdacht auf Krebs, man hat mich mehrfach operiert. Offiziell habe ich 50 Becquerel Strahlung pro Kilogramm Körpergewicht abbekommen, das ist der Grenzwert. Aber die Kontrolle war natürlich unzuverlässig. 

In der Sowjetunion hatten die Liquidatoren Heldenstatus. Haben Sie das selbst erlebt?

Besonders zu Beginn haben die Leute uns Liquidatoren verehrt. Ich bin damals mit dem Auto in Moskau unterwegs gewesen und bin falsch abgebogen. Ein Polizist hielt mich an, ich habe ihm gesagt, dass ich aus Tschernobyl komme. Da hat er meine Papiere zurückgegeben und mir ­alles Gute gewünscht. So war das damals. Heute haben die Leute vergessen, wer in Tschernobyl gekämpft hat. Jeder kümmert sich um seine eigenen Probleme. 

Wie geht denn der Staat mit Tscher­no­byl-Invaliden um? Gibt es für sie aus­reichend Unterstützung?

Die Gesetze sind gut, aber sie werden nicht befolgt. Offiziell erhalten wir eine Kompensation in der Höhe des Verdiensts, den wir damals bekamen. Aber wenn man dies beantragt, fangen die Schwierigkeiten an. Ich habe vom Ende der 90er Jahre bis 2009 durchgehend Prozesse geführt und nun endlich recht bekommen. Nicht alle haben so viel Hartnäckigkeit. 

Gerade in Deutschland hat die japanische Katastrophe eine breite Debatte um die Zukunft der Atomkraft ausgelöst. Sind Sie nach allem, was Sie erlebt haben, ein Atomkraftgegner geworden?

Nein, ich bin nicht gegen Atomenergie. Man hat mich in diesen Tagen schon ­anders zitiert, aber das stimmt nicht. Ich bin für eine sicherere Atomenergie. Es ist eine gute Entscheidung, dass Merkel und andere die alten Reaktoren überprüfen lassen.  

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