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"Wir müssen zwischen guter und falscher Scham unterscheiden lernen"
Ob Finanzkrise oder Missbrauch: Wenn in der Öffentlichkeit von Scham die Rede ist, geht es meist um die Opfer, selten um die Täter. Der Theologe Johann Hinrich Claussen über den richtigen Umgang mit einem archaischen Gefühl
10.03.2011

Schämen sich immer die Falschen, Herr Claussen?

Johann Hinrich Claussen: Man hat den Eindruck, dass diejenigen, die es nötig ­hätten, sich oft nicht schämen. Ich habe das bei der Finanzkrise gedacht – aber das ist natürlich von außen betrachtet. Ob sich ein Mensch wirklich schämt, ist für andere schwer zu erkennen, weil Scham immer etwas mit Rückzug und Sich-Verbergen zu tun hat.

Ist Scham für Sie ein soziales oder ein privates Gefühl?

Beides. Scham ist eine unmittelbare körperliche Reaktion, also etwas ganz Persönliches, zugleich aber ein höchst soziales Gefühl, weil man darauf reagiert, wie man von den anderen wahrgenommen wird. Insofern hat Scham immer auch eine soziale Steuerungsfunktion. Das kann in einem gewissen Maß auch sinnvoll sein, wenn man durch die Scham dazu gebracht wird, sich in ein Gemeinwesen einzugliedern. In einem Übermaß aber hat es eine unglaubliche Härte und schließt diejenigen aus, die zu einer solchen Anpassung nicht in der Lage oder nicht bereit sind.

Etwa die verschämten Armen?

Genau. Es gibt eine gezielte Beschämung, die nicht dazu führt, dass Menschen integriert, sondern dazu, dass sie ausgeschlossen werden. Das gilt für Fremde, für Arme, für alle, die anders sind. Mir scheint, dass einige, die von ungerechten Verhältnissen profitieren, ihr Unbehagen an sich selbst bei denen abladen, die darunter leiden.

Hat die Kirche in der Missbrauchsdebatte dazu beigetragen, dass sich die Falschen geschämt haben?

Es scheint zur perfiden Logik von sexueller Gewalt zu gehören, dass das Opfer mit Scham beladen und die Rolle von Täter und Opfer verkehrt wird. Es muss unglaublich mühsam für die Opfer sein, diese falsche Beschämung zurückzuweisen. Auch wir in der Kirche haben erst lernen müssen, wie massiv diese Scham-Macht ist. Inzwischen wissen wir, dass man dieser Macht nur begegnen kann, wenn man Vorfälle sexueller Gewalt schnell, nach klaren Regeln und im Team bearbeitet. Wer ins Schweigen flieht, wird mitschuldig.

Warum funktioniert diese Verkehrung von Opfer und Täter so gut?

Traumapsychologen sagen, dass Opfer von traumatischen Erlebnissen dazu neigen, sich eine Teilschuld zu geben, um so besser mit dem Schlag, der Erschütterung umzugehen. Schuld ist vielleicht für sie leichter zu ertragen als Scham.

Und doch haben Sie in einer Predigt über die Scham gesagt, dass sie der Beginn der Weisheit sein kann. Inwiefern?

Schamhaftigkeit im Sinne einer guten Scham beschreibt eine Sensibilität dafür, dass es etwas Kostbares gibt im innersten Eigenen, das es zu schützen gilt, gerade in einem Zeitalter, wo fast alles öffentlich wird. Es ist ein Freiraum für einen selbst.

Gibt es eine neue Scham-Debatte?

Debattiert wird das Thema nicht ausdrücklich, weil man über Scham so schlecht reden kann. Aber ich glaube, dass sie ein geheimes Thema in ganz vielen Themen ist. In der unsäglichen Sarrazin-Debatte oder in der Art, wie über das sogenannte Prekariat gesprochen wird, steckt viel Aggressivität und eine große Lust daran, andere zu beschämen. Eine Rest-Mittelschicht versucht, sich damit einer Position zu vergewissern, die sie gar nicht mehr hat.

Sie selbst sind Pastor in einer eher wohlsituierten Hamburger Gemeinde. Spielt Scham dort überhaupt eine Rolle?

Scham spielt für jeden Menschen eine Rolle, aber wir erleben in Hamburg und in anderen Städten, wie sich die Stadtteile voneinander abkoppeln, es entstehen Wohlstandsenklaven und Armutsghettos. Scham in einem guten Sinne kann be­deuten, sich mit den Augen der anderen und anders Lebenden zu betrachten. Die Möglichkeiten dazu aber werden immer weniger. Ein Kollege, der in einem armen Stadtteil in Hamburg arbeitet, erzählte mir, dass bei ihm, wo alle gleichermaßen von Armut betroffen sind, die Scham schwindet. Das führt gelegentlich zu einer Un-Verschämtheit, die man umgekehrt auch in den Wohlstandsvierteln findet. Es verliert sich der Sinn dafür, was „normal“ ist.

Hat das Ausschließen der Armen und Erfolglosen auch mit der protestantischen Leistungsethik zu tun?

Die mag im Hintergrund mitspielen. Auf der anderen Seite lebt der klassische evangelische Glaube weniger vom Scham- als vom Schuldthema. Und Schuld kann vergeben werden – ohne Leistung, aus reiner Gnade, während man die Scham kaum loswird. Insofern weist die Scham-Thematik auch darauf hin, dass der alte evangelische Glaube der Rechtfertigung aus Glaube allein viele Zeitgenossen nicht mehr innerlich trägt.

Was ist ein guter Grund, sich zu schämen, und was nicht?

Ein Erwachsener würde darin ein gutes Schamempfinden beweisen, dass er in aller Freiheit sein Gewissen befragt, wofür er sich schämen sollte, wo er sein Intimstes schützen und sich zugleich in sein soziales Umfeld einpassen sollte. Schamhaftigkeit an sich ist etwas Schönes. Es gibt aber auch eine gute Un-Verschämtheit, die sich falschen Normierungen eben nicht unterwirft.

Hat das Schamgefühl eher ab- oder zu­genommen?

Ich bin kein Freund allgemeiner Verfallsgeschichten. Bei manchen nimmt Schamhaftigkeit wohl ab. Aber was es heute nicht mehr gibt, ist eine archaische Scham, die Angst, das Gesicht zu verlieren – und das finde ich gut so. Wir können heute offener über das sprechen, was uns beschämt. Die öffentliche Thematisierung sexueller Gewalt ist da ganz wichtig. Über psychische Erkrankungen wird nach dem Tod von ­Robert Enke viel freier gesprochen. Es gibt also Fortschritte dahin, dass wir zwischen guter und falscher Scham zu unterscheiden lernen. Das verhindert hoffentlich, dass sich um eine erste Not, die uns trifft – wie etwa Krankheit, Armut oder Arbeitslosigkeit –, die Beschämung dann noch wie eine zweite Not legt.

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Ich schäme mich meines Lebens absolut, meiner Dummheit, meines Vertrauens, die dazu geführt haben, dass ich auf eine Religion hereingefallen bin, und nicht in der Lage war zu erkennen, was ich tue.
Die Folge ist, dass ich nun in einem Land lebe, das ich von Herzen verabscheue.

Die klassische Täter Opfer Geschichte hat insofern mit Scham zu tun, weil das Opfer vom Täter in der Regel entwürdigt wird. Auf vielerlei Weise.
Und man muss nicht immer nur an sex. Missbrauch dabei denken.

Schamlosigkeit macht auch aus einem Opfer einen Täter, und Schmalosigkeit kann auch dazu führen, dass man irgendwann vergißt, wer man eigentlich ist.

Als Pfarrer " einer wohlsituierten Gemeinde " , darin ist schmeichlerische journalistische Taktik erkennbar, die der liebe gute Herr Claussen gerne akzeptiert, und in seinem gewohnten Plauderton weiter fortsetzt, denn er ist ja schliessslich Kenner , Eperte und Weiser zugleich. Kraft seines Amtes, versteht sich.

" Hat das Ausschließen der Armen und Erfolglosen auch mit der protestantischen Leistungsethik zu tun? "

" Ich bin kein Freund allgemeiner Verfallsgeschichten."

Das waren die Nationalsozialisten und evangelische Pfarrer einst, die diese Partei beförderten ganz sicher auch nicht. Sie waren frei von Scham, selbstgerecht und überzeugt.

" Scham spielt für jeden Menschen eine Rolle, aber wir erleben in Hamburg und in anderen Städten, wie sich die Stadtteile voneinander abkoppeln, es entstehen Wohlstandsenklaven und Armutsghettos."

Eine sehr, sehr große Bitte:

Stellen Sie das / Ihr " Erleben " nicht in den Fokus allgemeiner Betrachtung.
Ihre Beobachtungen sind einseitig, weil sie nur Ihre einseitigen Beobachtungen wieder geben.
Außerdem besagen diese obeflächlichen Beobachtungen nichts anderes als was überall zu lesen ist.

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