Weil sie uns brauchen
Ein Altenheim. Irgendwo in Russland, in der Provinz. Wer hier wohnt, lebt einsam. Der Alltag ist trist. Doch manchmal kommen junge Frauen und Männer aus Moskau zu Besuch. Sie singen, laden zum Tanzen ein, erzählen lustige und traurige Geschichten
22.07.2011

Wenn Anatolij auf den kahlen Flur tritt, um seine Morgenzigarette anzuzünden, weiß er eigentlich immer, wie der Tag vergehen wird. Morgens bringen sie laue Grütze und Tee, manchmal einen Apfel, den er nur noch schlecht kauen kann. Mittags eine Suppe oder etwas anderes, abends dasselbe. Dazwischen passiert nicht viel. Vielleicht wird er ein bisschen auf dem Flur auf- und abgehen, ein bisschen lesen. Vielleicht wird einer der Nachbarn im Herren zimmer sich auf dem Metallbett aufsetzen und eine Geschichte erzählen. Oder einen Witz, wahrscheinlich einen, den alle schon kennen.

So geht es alle Tage im Altenheim von Pes, einem Dorf in der Region Nowgorod, auf halber Strecke zwischen Moskau und St. Petersburg. Anatolij ist 77 Jahre alt. Früher, als seine schmalen Hände noch Kraft hatten, hat er als Hafenarbeiter Säcke geschleppt, Schiffe in die Ferne ziehen sehen. Vor sechs Jahren ist Anatolijs Welt zusammengeschrumpft auf eine Etage, 30 alte und kranke Mitbewohner und zwei frustriert dreinschauende Pflegerinnen in Kittelschürzen.

"Wenn ihr kommt, ist Freude da"

Kinder, Enkel oder Freunde kommen nie zu Anatolij, auch sonst niemand hier bekommt noch Besuch. Aber seit zwei Jahren gibt es alle drei Monate diese besonderen Samstage, von denen das Heim noch wochenlang spricht. Dann reist eine Gruppe junger Leute aus Moskau an, und für ein paar Stunden kehrt Leben ein. An diesem fahlen Wintermorgen hat Anatolij schon vor dem Frühstück die Stimmen auf dem Flur gehört. Als er in seinem guten grauen Sakko auf den Flur tritt, kommen ihm Anja und Lisa entgegen. Die jungen Frauen in Jeans und Pullover könnten Urenkelinnen von Anatolij sein. Er drückt sie an sein Herz, als wären sie echte Verwandte. „Wenn ihr kommt“, seufzt der alte Mann, „ist gleich eine solche Freude da!“

Das ist der Moment, in dem sich auch die Gesichter der übernächtigten Mädchen aufhellen. Es hat sich wieder gelohnt, fünf Stunden im schaukelnden Nachtzug zu fahren, sich mit der Schaffnerin zu streiten, weil der Gang mit den großen Windelpaketen verstopft war, die sie mitgebracht haben. Es hat sich gelohnt, morgens um sechs bei 15 Grad minus die schweren Taschen zum Taxi zu tragen und acht Leute in dem Transporter mit sechs Plätzen eine gute Stunde durch die Schneelandschaft nach Pes zu fahren. „Egal, wie müde, deprimiert und abgespannt wir ankommen“, sagt Lisa, „dieser Moment der Begrüßung entschädigt immer.“ Manchmal kann sie es nicht fassen, dass man einen anderen, einen fremden Menschen glücklich machen kann – nur weil man da ist.

Ausflug in die Trostlosigkeit

Die 22-Jährige mit dem dicken blonden Zopf hat sich die Gruppenbesuche ausgedacht. Sie überredet regelmäßig ehemalige Kommilitonen und Freunde, übers Wochenende mit ihr zu den Alten zu fahren. Das schaffen wir schon, sagt die junge Lehrerin, wenn die anderen stöhnen, weil sie noch ein weiteres Altenheim auf das enge Programm gesetzt hat. In der Region Nowgorod hat sich Lisa diesmal sechs weit verstreute Altenheime vorgenommen: Fünf Heime haben sie schon öfter besucht, ein neues kommt heute dazu. Ein Wochenendausflug in die Trostlosigkeit.


Fast überall sieht es aus wie bei Anatolij in Pes. Derselbe lange nackte Flur mit Handläufen rechts und links an der Wand, der selbe Geruch von Urin, Putzmittel, Zigaretten und Kantinenessen. In den Mehrbettzimmern stehen Metallbetten mit dünnen  Matratzen und verknitterter bunter Bettwäsche, daneben ein Hocker Privatheit, auf dem die Grützeteller stehen, eine Cremetube oder eine Ikone der Muttergottes im Spielkartenformat. Viele, vor allem die Frauen, sind bettlägerig. Im Zimmer gegenüber wimmert eine hagere Frau vor Schmerzen.

Unglücklich und einsam

Eigentlich ist es in Russland üblich, dass sich Familien selbst um ihre Großeltern kümmern. Manchmal wurden Lisa und die anderen schon gefragt: Warum beschäftigt ihr euch mit diesen Alten? Es ist doch klar, dass das schlechte Menschen sind. Sie haben ihre Kinder und Enkel schlecht erzogen. Doch so einfach ist es nicht: Die Jungen ziehen weg aus der Provinz, weil sie keine Arbeit finden, oder sie sterben lange vor den Eltern, viele trinken sich zu Tode. Immer mehr alte Menschen, die nicht mehr alleine leben können, müssen ins Heim. Mit der winzigen Rente von umgerechnet 75 Euro, die hier die meisten bekommen, bleiben ihnen nur die überfüllten, staatlichen Einrichtungen. Dort sind die Pflegerinnen meist ungelernt, immer unterbezahlt, und der Arzt kommt nur selten.

Von diesem Leben sieht man normalerweise nichts. Es gibt keine Verbindung zwischen diesen Menschen und der Welt da draußen. Das ist ein Satz von Lisa. Sie hat es gemerkt, als sie für ihr Studium der Sprachwissenschaften vor vier Jahren in Altenheimen im Moskauer Umland nach Dialekten suchte. Die alten Frauen dort waren alle mager, unglücklich und einsam. Sie dürsteten danach, ihre Geschichte, ihr zerbrochenes Leben einem Gast zu erzählen. Jemandem, der das alles noch nicht tausendfach gehört hat wie die Zimmernachbarinnen, die früher oft Arbeitskolleginnen oder Nachbarinnen waren.

"Alter in Freude"

Damals hat Lisa beschlossen wiederzukommen. Monatelang hat sie Freunde und Bekannte bekniet, im Internet nach Freiwilligen gesucht. Lange ist sie allein mit ihrem Akkordeon und ihrer Freundin Marina zu den Heimen gefahren. Irgendwann kamen mehr junge Leute dazu. Heute sind es fast hundert, meist Frauen zwischen 20 und 30, die ein paar Mal im Jahr 60 Altenheime im 500-Kilometer-Radius um die russische Hauptstadt besuchen. Lisas Bewegung ist so bekannt geworden, dass sie sich einen Namen gegeben hat: „Alter in Freude“.

Warum opfern junge Moskauer ihr Wochenende für anderer Leute Großeltern? „Es ist die Dankbarkeit der Alten“, sagt Lisa. „Das Gefühl, dass jemand mich braucht. Das füllt mein Leben mit Sinn.“ Sie spricht von einem Leben, das auch ohne die Alten nicht leer wäre. Lisa arbeitet als Musik- und Sprachlehrerin an einer Schule für geistig behinderte Kinder, sie wohnt bei ihren Eltern, hat keinen Freund, aber viele Freunde und zwei Paar eigene Großeltern in der Nähe. Lisas Eltern finden es schön, dass sie sich für andere engagiert. Auf dem Flur vor der gemeinsamen Wohnung stapeln sich Windelpakete, klappbare Rollstühle und alle möglichen Geschenke, die Moskauer für die Heime vor beigebracht haben.

"Welches Lied ist das?"

Nicht alle Eltern sind begeistert. Marina, 26, mit kurzen braunen Locken arbeitet nach dem Sprachstudium in einem Moskauer Kindergarten. Ihre Mutter hätte gerne, dass sie sich endlich einen Ehemann sucht und Kinder bekommt, anstatt fast jedes Wochenende in Altersheimen zu verbringen. Anja, die Chorsängerin mit dem kecken Pferdeschwanz, weiß nicht, was sie werden will. Die Besuche bei den Alten machen sie traurig, sagt sie, aber irgendjemand müsse sich doch um sie sorgen. Warwara, 26, Physikerin, forscht an der Universität und arbeitet in den Pausen auf ihrem Laptop weiter. Sie will nicht zu oft zu den Alten fahren, damit es nicht zur quälenden Pflicht wird. Lena, 32, die Ingenieurin, hat selten Zeit. Aber sie schreibt drei Omas regelmäßig Briefe. Polina, die 19-Jährige mit dem runden Kindergesicht, in das die alten Frauen so gerne kneifen, sagt, dass ihr die einsamen alten Menschen leidtun.

Pünktlich um 10 Uhr setzt sich das Altenheim von Pes in Bewegung. Alle, die laufen können, schleichen zum Aufenthaltsraum mit dem Fernseher, dem Bücherregal, den Rankpflanzen und sichern sich einen Platz. Fünfzehn faltige Gesichter spannen sich erwartungsfroh. Die Moskauer geben bei jedem Besuch ein kleines Konzert. Lisa hat ihr weißes Akkordeon umgehängt. „Jetzt spiele ich den Anfang eines Liedes, und Sie müssen erraten, welches Lied das ist“, moderiert die junge Frau. Die Alten kennen das Ritual. Blitzschnell haben Anatolij und zwei andere das Lied erraten. „Ach, es blüht der Schneeballstrauch am Feld nahe dem Bache...“ Fast alle Lieder im Programm handeln von unglücklicher Liebe, von Soldaten, die von ihren Liebsten erwartet werden. Für Lisa und die anderen sind es uralte Klassiker, für die Alten sind es die Lieder ihrer Jugend. Sie singen laut, kennen jedes Wort in jeder Strophe, auch wenn sie vieles andere längst vergessen haben. Einer alten Frau im geblümten Kittelschürzenkleid laufen Tränen über die Wangen.

Die Alten lachen

Einmal bei jedem Konzert wird getanzt. Damenwahl. Anatolij wartet darauf, dass Anja ihn auffordert. Er legt die Hand um die Hüfte der jungen Frau, führt, dreht sich, ist noch einmal der junge Kavalier, der er vor einem halben Jahrhundert war. „Du wartest, Lisaweta, auf einen Gruß vom Freund“, singen die anderen. Die Mädchen tanzen mit den Herren, die noch beweglich genug sind. Polina hat eine alte Dame mit schweren Beinen aufgefordert, die ziert sich erst und wiegt sich dann selbstvergessen zur Musik. Beim nächsten Lied fliegen bunte Luftballons durch den tristen Raum. Die Alten lachen, strecken sich, stupsen die Ballons zurück, sind lebendig wie sonst nie. Eine gute Dreiviertelstunde dauert der Ausflug ins Leben. Dann sind alle Lieder gesungen, alle Spiele gespielt. Die Alten kehren langsam zurück in ihre Zimmer. Lisa und die anderen singen in kleinen Gruppen für die Bettlägerigen, bevor sie gehen.

Bei jeder Reise gibt es irgendwann, irgendwo in einem der Heime einen Moment, der so ins Mark geht, dass die Freiwilligen sich verstohlen eine Träne wegwischen. Auf dieser Reise passiert es in Anziferowo, im zweiten Altenheim. Mitten im Konzert rollt ein Rollstuhl mit einem Ruck über die Schwelle in den Gemeinschaftsraum. Es ist der Mann mit den amputierten Unterschenkeln, der stets in der Raucherecke am Eingang sitzt. Er wolle den jungen Gästen gerne etwas sagen, sagt der alte Herr. „Wir warten alle auf euch, wir lieben euch. Ihr kommt zu uns und bringt uns einen großen Energiestoß. Ihr öffnet uns das Leben, das ist wunderbar.“  Er rollt vor und zurück während seiner kleinen Rede. Lisa versteckt ihren Kopf in den Armen über dem Akkordeon. Im Hintergrund fangen Omas an zu greinen, sie wollen Musik.

Einen Skandal aufgedeckt

Er will noch mehr sagen, der Herr. „Auf euren Gesichtern sehen wir Bildung, eure Verehrung und Achtung für uns, eure Anständigkeit, eure Menschlichkeit.“ Peinliche Stille unter den Gästen. Es hat in all den Jahren noch nie jemand von den Bewohnern eine solche Dankesrede gehalten. Kaum hat er geendet, rollt der Mann hinaus, steckt sich eine halbe Zigarette an. Er heißt Walerij Petrowitsch, war Navigator auf einem Schiff, später Bergmann. Die zweite Frau ist gestorben, die Tochter weit weg. Er hat geraucht und getrunken, bis sie ihm die Beine abnehmen mussten. Aus dem Krankenhaus brachte man ihn vor drei Jahren direkt hierher. „Natürlich habe ich mir nicht gewünscht, mein Leben so zu beschließen“, sagt Walerij. „Aber was kannst du machen?“ In seinem Heim ist es kalt, die Toiletten sehen so aus, als seien sie lange nicht geputzt worden. 

Das ist noch völlig in Ordnung hier, sagt Lisa abgeklärt. Das schlimmste Heim, das sie je gesehen hat, war in der Pskowskaja Oblast, im Dörfchen Jam. Dort kamen die Pflegerinnen nur unregelmäßig zur Arbeit. Die 30 Alten blieben sich selbst überlassen, hatten Geschwüre, waren wund, weil man ihnen so selten die Windeln wechselte. Binnen eineinhalb Jahren starben 14, eine selbst für russische Verhältnisse extrem hohe Zahl. Der Direktor sagte Lisa, dass kein Geld da sei, für Windeln, Möbel, Renovierung. Die jungen Leute haben gesammelt, Möbel gekauft, sind selbst zwei Wochen hingefahren, um die Wände zu streichen. Aber nichts hat sich gebessert. Was wollt ihr denn?, sagte der Direktor dann. Die Leute sind alt, sie sterben ohnehin bald. Da hat Lisa an den Gouverneur der Region geschrieben, im Internet über den Skandal berichtet. Das Fernsehen kam, der Gouverneur hat das Heim geschlossen. Offiziell, weil es baulich in einem schlechten Zustand war.

Als Erstes die eigene Großmutter besucht

Auf dieser Fahrt ist alles gutgegangen, wird Lisa auf der Rückfahrt denken. Keiner ist gestorben. Sechs Mal haben sie ihr Programm abgespielt, Hände gehalten, Geschichten angehört. Die Geschenke haben für alle gereicht, auch die Windelpakete. Im neuen Heim waren die Pflegerinnen erst skeptisch, haben argwöhnisch in die Pässe geschaut. Und dann haben die Alten nach dem Konzert noch im Flur vor den Zimmern der Bettlägerigen an der Wand gelehnt, um die Lieder wieder und wieder zu hören. In der Holzhütte mit dem Plumpsklo in Okulowka haben alle einen Schlafplatz gefunden, Spiegeleier gebraten und Geschichten aus den Heimen erzählt. Am Sonntagabend sind sie hinter dem Nachtzug hergelaufen und haben ihn gerade noch erreicht.


Manchmal wünscht sich Lisa, dass sie nicht die Einzigen in Russland wären, die sich um die Alten kümmern. Sie wünscht sich, dass die Bewegung wächst, dass sie noch mehr Freiwillige findet und dass sich die öffentliche Meinung über Altenheime und ihre Bewohner ändert, dass sich jeder Einzelne ändert. Ein junger Mann, der einmal mit Lisa und den anderen in die Heime gefahren war, konnte nicht wieder mitkommen, er hatte keine Zeit. Aber als er zurück nach Moskau kam, hat er als Erstes seine eigene Großmutter besucht.

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