Steffen Roth
Die Lyrikerin und der Saxofonist übers Üben und die Wut, wenn etwas nicht klappt. Und über Prügel in der Kindererziehung
Tim Wegner
Hedwig Gafga, Autorin
08.12.2011

chrismon: Wir möchten mit Ihnen über Disziplin und Pflichterfüllung reden...

Klaus Doldinger: Da sind Sie bei mir an der richtigen Adresse! Mein Fach hat den Ruf, darin nicht federführend zu sein. Jazz steht für die Idee des freien Musizierens. Ich wurde von meinen Eltern vom 11. Lebensjahr an ins Konservatorium gesteckt, studierte ­Klavier, hauptsächlich klassische Musik. Man spielt Note für Note das, was der Komponist vorgibt. Ich habe aber schon als Kind lieber herumprobiert.

Bedeutet das: Auch wenn Lust und Begabung da sind, braucht man Disziplin?

Doldinger: Absolut. Was mich am Jazz fasziniert, ist die große Freiheit, die aber mit Disziplin in Verbindung steht. Die meisten Jazzmusiker orientieren sich an gängigen Formen, suchen dabei aber den eigenen Ausdruck. Das ist wie im richtigen Leben: dass man ein Freigeist sein kann, aber trotzdem die Normen des gesellschaftlichen Verhaltens anerkennt und auch befolgt.

Kathrin Schmidt: Disziplin bedeutet für mich, Zeit zum Schreiben zu finden. Ich habe zehn Jahre als Psychologin gearbeitet, und ich habe fünf Kinder. Früher schrieb ich nach acht Uhr abends. Seit 1994 arbeite ich freiberuflich und schreibe, wenn die Kinder nicht im Hause sind. Disziplin beschränkt sich darauf, mich dann sofort hinzusetzen. Alles Weitere, wie schöpferische Disziplin, ist nachgeordnet, das ergibt sich.

Kommt bei fünf Kindern nicht immer etwas dazwischen?

Schmidt: Mein Arbeitszimmer war das Esszimmer der Familie. Ich konnte in den ersten Jahren schreiben, wenn die Kinder um mich herumsprangen. Ich hatte nicht das Gefühl, dass sie sich dadurch gestört fühlten, und ich fühlte mich auch nicht gestört. Inzwischen möchte ich die Tür zuhaben.

Doldinger: Davor habe ich Hochachtung. Damit kann ich meine Situation mit unseren drei Kindern nicht vergleichen. Eine Frau, die Kinder hat und kreativ tätig ist, hat ein anderes Pensum zu absolvieren als ein Mann, der sich ohne weiteres davon abkoppeln kann. Ich habe zu Hause ein Studio und konnte mich zum Arbeiten dorthin zurückziehen.

Schmidt: Anfangs schrieb ich nur Gedichte. Ob ich Windeln wusch oder kochte, es arbeitete in mir. Das Gedicht war am Ende fertig, und ich brauchte es am Abend nur noch aufzuschreiben. Ich bin ja auch nicht allein mit den Kindern, ich hätte nicht ge­heiratet, wenn ich nicht gewusst hätte, dass der Mann sich ge­nauso an der Kinderarbeit beteiligt wie ich.

Doldinger: Leider wissen das nicht so viele im Vorhinein.

Schmidt: Das war deutlich zu merken. Als wir heirateten, hatte ich bereits zwei Kinder und er drei. Er hat mir immer den Rücken freigehalten für das Schreiben.

Ihre Filmmusik für „Das Boot“ ist ein Schicksalslied für eine verheizte Generation. Wie entsteht eine solche Komposition?

Doldinger: Was die Männer auf dem U-Boot erlebten, konnte ich emotional nachvollziehen. Ich habe den Zweiten Weltkrieg in Wien erlebt. Wir flohen mit meiner Mutter vor den russischen Truppen auf einem LKW nach Bayern, mein Vater holte uns im Herbst 1945 nach Düsseldorf. In dieser zerbombten Stadt spürte ich die Folgen des Krieges erst richtig. 

Wo komponieren Sie?

Doldinger: Vieles ergibt sich aus der Improvisation am Klavier. Manchmal fällt mir beim Spaziergang ein Motiv ein. Ich nehme einen Stift mit, singe oder pfeife in ein Diktafon, zur Not tut es auch eine Serviette. Es ist ein längerer Weg von einem Motiv zu einer ganzen Melodie. Selten hat man auf Anhieb den schlüssigen Einfall, der durchkomponiert ist. Bei der „Tatort“-Melodie und der Musik zum „Boot“ war es so.
 

Üben ist wahnsinnig schwer, wenn man selber nicht dran glaubt (Doldinger)


Sie wollten unbedingt Musik machen beziehungsweise schreiben. Woher kam die klare Orientierung?

Doldinger: Mein Vater war Diplomingenieur, er hasste den Jazz. Ich aber wollte Musiker werden. Es war der Wunsch nach innerer Unabhängigkeit und Entfaltung, auch Rebellion. Mit 16 hatte ich Freunde, die so tickten wie ich. Als Inge, meine spätere Frau, ­auftauchte, waren meine Eltern entsetzt, sie stand hinter meiner Musik. Mein Vater fürchtete, das endete als Tingeltangel.

Schmidt: Ich schrieb schon als Kind Gedichte. Das gehörte so sehr zu meinem Leben, dass ich es mir als Broterwerb nie hätte vorstellen wollen. Ein Lehrer schickte meine Gedichte zu den Poetenseminaren der FDJ. Man lud mich ein – für mich als Provinzei der Aufbruch in die große Welt. Dort waren Dichter, die uns jenseits aller Parteidoktrin Anleitung geben konnten.

Doldinger: Auch ich hätte mir anfangs nicht vorstellen können, mit der Musik einen Lebensunterhalt für eine Familie zu be­streiten. Damals verdiente meine Frau als Model mehr als ich. Aber als Beamter in einem Orchester zu spielen, war nie mein Ziel.

Es gab Zeiten, Frau Schmidt, da war nicht klar, ob Sie je wieder schreiben könnten.

Schmidt: Ja. 2002 ist in meinem Kopf ein Aneurysma geplatzt. Ich erwachte nach längerem Koma halbseitig gelähmt und ohne Sprache und ohne Gedächtnis. Ich kann mich an die erste Zeit danach gar nicht erinnern. Ich weiß nur, dass meine Depression auf einmal weg war. Ich war überhaupt nicht mehr depressiv, obwohl es jeder von mir erwartet hätte. Das war wahrscheinlich meine Rettung. Ich habe die Situation so annehmen können, wie sie war, und versucht, mich da wieder herauszuwursteln.

Haben Sie damit gehadert, dass Ihr Körper Ihnen bestimmte Dienste verweigert hat?

Schmidt: Schon. Ich habe vorher Klavier gespielt, das kann ich nicht mehr. Das kommt mich auch jetzt noch manchmal traurig an. Aber das, was ich wieder kann, freut mich viel mehr. Ein erster Glücksmoment war, dass ich merkte: Wenn jemand sprach, ­kamen die Worte zu mir zurück. Anfangs blieben sie noch nicht hängen, aber nach ein paar Monaten wurden die Zeiträume, in denen ein Wort im Kopf blieb, länger, bis sie irgendwann blieben. Ich hatte meine Sprache wiedergefunden!

War es Ihr Vokabular, das zurückkam, oder eine neue Sprache?

Schmidt: Es war etwas, das verschüttet in Schubladen lag, und darauf musste ich erneut zugreifen. Zum Beispiel konnte ich jahrelang keine Gedichte schreiben. Ich wusste gar nicht mehr, was ein Gedicht war. Bei einer Lyriklesung hörte ich Ron Winkler, und ich verstand ihn einfach nicht. Daraufhin las ich alle seine Bücher und versuchte, ihn zu knacken. Nach einem halben Jahr gelang es, und in diesem Moment kam bei mir das Gedicht zurück.

Sie ließen nicht locker.

Schmidt: Das hatte mehr mit Wut zu tun als mit Disziplin. Weil ich mich vor allem als Lyrikerin verstand. Es war für mich undenkbar, dass das nicht mehr gehen sollte. Ich hatte mir vorher das Reich der Prosa zurückerobert, gleich 2003 hatte ich begonnen, einen Roman zu schreiben, zu einer Zeit, als ich nur eine halbe Stunde am Stück konzentriert arbeiten konnte. Der Roman war nicht gut – aber damit habe ich mich herausgekämpft.

Herr Doldinger, auch Sie erlebten Krankheiten und Unfälle. Wie haben Sie sich zurückgekämpft?

Doldinger: Das Entscheidende war, neuen Mut zu fassen. In einer Phase, in der ich extrem viel arbeitete, ich komponierte gerade die Musik zu dem Film „Das Boot“, hatte ich eine Lungenentzündung. Ich wurde mit dem Rollstuhl in die Klinik hineingefahren, an den Tropf gelegt, nach zwei Stunden kam ich erhobenen Hauptes raus aus der Klinik. So ging das eine gewisse Zeit, bis ich beschloss, etwas für meine Konstitution zu tun – seitdem kaue und gurgele ich Öl. Es wirkt positiv auf mein Immunsystem.
 

Unsere Kinder wollten auch nicht immer üben – aber sie wollten Konzerte geben (Schmidt)


Können Sie sich ein Leben ohne Disziplin und Arbeit vorstellen?

Schmidt: Vorstellen schon. Aber seit ich den Buchpreis vor zwei Jahren gewonnen habe, habe ich viele Terminverpflichtungen und bin viel unterwegs, ich komme kaum zum Schreiben. In­sofern habe ich sogar eher Sehnsucht nach der Disziplin, die es zum Schreiben braucht, und schiebe die Vorstellung eines Lebens ohne Disziplin und Arbeit weit weg. Nur in meinen sehr, sehr heimlichen Träumen sehe ich mich am Bodden an der Ostsee auf einem Bauernhof sitzen. Aber selbst da ginge es wohl ohne Arbeit nicht, auch landwirtschaftliche Arbeit stelle ich mir schön vor.

Doldinger: Abgeschiedenheit könnte ich mir nicht vorstellen. Ich brauche den öffentlichen Auftritt. Die Stunde der Wahrheit: Hier und jetzt zu spielen und eine musikalische Aussage zu machen. Wenn ich das nicht mehr könnte, würde ich vermutlich um zehn Jahre altern. Manchmal denke ich tagsüber: Ach, ich fühle mich gar nicht so gut. Aber auf der Bühne zu stehen, das reißt mich derart mit, das ist wie ein Drogenrausch. Ich brauche noch nicht mal ein Glas Whiskey. Ich konnte mir nie vorstellen, dass ich mal 75 werde und gerne mit anderen Menschen zusammen lebe und Musik mache. Nun bin ich dem lieben Gott dankbar dafür.

Es gibt eine Form der Disziplin, die Kreativität tötet...

Schmidt: ...wie in den letzten Jahren der DDR, als wir unter einer Käseglocke lebten und merkten, dass woanders völlig andere Verhältnisse herrschten und viel mehr möglich war. Da stellte sich eine gewisse Grundlähmung ein. Viele meiner Altersgenossen – ich auch – flüchteten sich ins Kinderkriegen, weil wir die Illusion hatten, dass man uns da nicht so leicht reinreden könne. Wir ­haben dann aufbegehrt. Seit 1985 hatte ich enge Kontakte zur Opposition. Dort fanden wir unsere Nische, kreativ zu sein. Ich hatte in meinem Leben nie das Gefühl, nur zu funktionieren.

Doldinger: Ich empfand die 1950er Jahre in Westdeutschland als bleierne Zeit, der Jazz war nicht gern gesehen. Aber ich habe das nicht als Belastung begriffen, eher als Ansporn.

Die Helene aus Ihrem Buch „Du stirbst nicht“ beschließt, ihre Epilepsietabletten abzusetzen, und die Ärzte wollen sie ent­mündigen lassen...

Schmidt: ...das Tablettenschlucken erlebe ich immer als Diszi­plinierung. Ich nehme nicht jede Pille, die man mir verordnet. Überall werden mehr Regeln erlassen als früher, ein Beispiel: Eine Klassenfahrt meines Sohnes kann nur stattfinden, wenn ein männlicher und ein weiblicher Begleiter mitfährt. Man muss unterschreiben, wie weit sich das Kind von der Gruppe entfernen darf, ob es baden darf oder nicht. Für alles braucht man eine ­Absicherung. Das halte ich für eine sehr deutsche Mentalität.

Doldinger: Als ich ein Junge war, spielten wir auf Trümmern, ­lieferten uns Steinschlachten, ließen Sachen explodieren...

Schmidt: Und heute ist alles geordnet, Jungs dürfen sich nicht prügeln, Kinder nicht über Stock und Stein springen.

Doldinger: Da gebe ich Ihnen recht, wir konnten uns abreagieren.

Schmidt: Wir haben fiese Streiche gespielt: Ein Lehrer ekelte sich vor abgeschnittenen Haaren. Wir sammelten also abgeschnittene Haare, füllten damit einen Papierkorb und legten Wecker hin, die im Abstand von ein, zwei Minuten klingelten. Der Lehrer traute sich nicht, da reinzufassen. Das wäre heute undenkbar, dafür ­würde mein Sohn von der Schule fliegen.

Wie wurde Ihnen Disziplin beigebracht?

Schmidt: Bei uns ging es immer um Königsberger Klopse. Die habe ich gehasst.

Doldinger: Bei uns wurde auch gegessen, was auf den Tisch kam. Wenn meinem Vater etwas nicht passte, zog er halt mal den Gürtel raus, und zack!

Schmidt: Ja, Prügel habe ich auch gekriegt. Das hängt wohl damit zusammen, dass unsere Eltern selbst so erzogen waren. Damals gehörte das dazu.

Wie haben Sie Ihren Kindern Disziplin vermittelt?

Schmidt: Meine älteste Tochter konnte alles sehr früh, aber sie konnte keine Melodie halten. Wir wollten ihr etwas geben, woran sie wirklich zu knacken hätte, also sollte sie Geige lernen. In der ersten Stunde legte sie sich auf den Boden. Der Lehrer sagte. „Na, dann kommst du eben in einem halben Jahr wieder.“ Das wollte sie nicht. Es stellte sich heraus, dass sie das absolute Gehör hat. Und weil ich immer mit den anderen Kindern im Schlepptau zum Geigenunterricht ging, wollten sie alle Geige lernen. Sie wollten nicht immer üben, aber sie wollten ihre kleinen Konzerte geben.

Doldinger: Unsere Kinder hatten Klavierunterricht. Es ist entscheidend, den richtigen Lehrer zu finden, der die Liebe zur ­Musik vermittelt. Uns war das nicht vergönnt. Die Kinder haben sich andere Felder gesucht und sich, was Disziplin betrifft, sicher auch an mir orientiert. Ich übe viel. Eine meiner bedrückendsten Vorstellungen ist, ich hätte eine Woche nicht geübt und müsste auf die Bühne hoch. Selbst im Urlaub habe ich ein Saxofon dabei und nutze Räumlichkeiten, wo ich andere Gäste nicht belästige.

Haben Sie eine Idee, wie man Kindern innere Disziplin beibringen kann?

Schmidt: Leider nicht. Mein jüngster Sohn ist 15, ihn würde ich als absolut undiszipliniert beschreiben, sogar als computersüchtig. Wir haben ihm den Computer wieder abgenommen, den wir ihm geschenkt hatten, weil wir dachten, er würde ihn für die Schule brauchen. Pustekuchen! Er hat sogar unsere Passwörter geknackt und sitzt stundenlang davor. Im Moment bin ich ratlos.

Amy Chua, amerikanische Buchautorin, drohte ihrer Tochter, sie würde all ihre Stofftiere verbrennen, wenn sie ein Musikstück nicht perfekt spielen könne.

Doldinger: Ich hätte es bei meinen Kindern nie so gemacht, aber ich kann mir vorstellen, dass es funktioniert.

Schmidt: Bei meinen Kindern hätte das nicht geklappt. Die hätten sich aufgelehnt. Viele Kinder tun in der Schule, was man von ­ihnen verlangt. Mein Sohn nicht. Ist das gut? Ist das schlecht? Ist es mein Versagen? Ist es nicht mein Versagen? Ich weiß es nicht.

Doldinger: Meine Kinder hätten sich auch geweigert. Das Üben eines Instruments ist wahnsinnig schwer, wenn man nicht dran glaubt. Entscheidend ist, ob ein innerer Antrieb da ist, etwas gerne zu tun. Sagt sich leicht, wenn man erfolgreich ist, nicht wahr?

Welche Disziplin ist Ihnen die wichtigste?

Schmidt: Essmanieren. In der DDR wurde strikt darauf geachtet, dass die Kinder ordentlich mit Messer und Gabel an der Schulspeisung teilnahmen. Da dachte ich, wenn sie das beherrschen, sparen sie sich viel Ärger. Den sollten sie im Zweifel ausleben können, wo es wichtiger ist, als mit Messer und Gabel zu essen.

Doldinger: Ganz strenge Regeln finde ich auch nicht richtig. Aber gemeinsam eine Mahlzeit einnehmen, warten, bis jeder seinen Teller hat und sein Getränk – das vermittelt Gemeinschaft.

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