Foto: Janni Chavakis
Erst der Tsunami - dann auch noch Journalisten
Zwei Tsunami-Opfer und ein Journalist über Katastrophen und Medien.
Portrait Anne Buhrfeind, chrismon stellvertretende ChefredakteurinLena Uphoff
Tim Wegner
11.03.2011

Ulrich Meyer: Der 26. Dezember ist mein Geburtstag.

Karin Migdalek: Unserer auch, unser zweiter Geburtstag.

chrismon: Frau Migdalek, Herr Dechert, was haben Sie am 26. Dezember 2004 erlebt?

Thomas Dechert: Wir waren im Süden von Thailand, zweieinhalb Schiffsstunden von Phuket entfernt, auf Phi Phi Island. Dort hatten wir uns einen kleinen Bungalow gemietet. Ich habe, als ich morgens um halb acht im Bett lag, ein langes Grollen gehört. Wie ein Motor, der laut brummt.

Migdalek: Ich saß schon draußen und lernte für meine Tauchscheinprüfung. Ich dachte, das ist die Klimaanlage.

Dechert: Der Tag begann perfekt. Stahlblauer Himmel. Kein Windhauch. Keine Wolke. Das Meer spiegelglatt. Wir sind dann auf ein Boot, weil wir tauchen wollten. Wir waren noch in Strandnähe, da ging das Wasser plötzlich weg. Dann kamen die Wellen. Nicht die eine Welle, wie man immer meint, sondern mehrere.

Meyer: Hat Sie jemand gewarnt?

Dechert: Anfangs nicht. Es war eine gespenstische Ruhe. Karin ist über die Leiter runter vomSchiff. Ich hörte Schreie: "Hurry up!" Der Kapitän – ein Einheimischer – hatte Tränen in den Augen. Er spürte, was da kommt. Ich bin als Letzter von Bord, das Wasser stieg rasant. Ich hab nur noch braune Brühe gesehen.

Meyer: Sie haben sich aus den Augen verloren?

Migdalek: Ja, als ich von Bord bin, stand mir das Wasser bis zu den Knöcheln. Ich trug eine Schwimmweste und den Tauchanzug. Dann schrie einer: „Karin, hurry up!“ Ich war plötzlich unter Wasser. Jemand zog mich raus, ich weiß nicht wer. Ich war ohnmächtig. Als ich wieder zu mir kam, sagte ich, dass der Thomas noch auf dem Boot ist. Aber ein paar Männer haben mich weggeschoben, weg vomWasser. Wir liefen auf eine kleine Anhöhe.

Meyer: Und da war die eigentliche Bedrohung vorbei?

"Ich dachte einen Moment lang, ich schaffe es nicht"

Migdalek: Das wissen wir nicht. Wir haben bis heute Erinnerungslücken.

Meyer: Können Sie sich gegenseitig helfen, diese Erinnerungslücken
zu schließen?

Dechert: Es ist schlimm, dass ich das sagen muss, aber wir können uns gegenseitig nicht helfen. Wir haben nicht die Stärke.

chrismon: Wo waren Sie, als Ihre Frau schon auf der Anhöhe war, Herr Dechert?

Dechert: Ich war mit der Welle mitgerissen worden. Kurz war ich in Landnähe, dann wieder weit draußen auf dem Meer. Ich dachte einen Moment lang auch, ich schaffe es nicht. Dann sah ich plötzlich wieder den Strand – und Chris, meinen Tauchpartner. Ein Engländer. Der hat gewunken, er war meine Rettung, wie ein Leuchtturm. Dann sind wir hochgerannt.

Meyer: Und wann haben Sie sich gefunden?

Dechert: Nach drei Stunden. Man hatte keinen vernünftigen Gedanken, war voller Adrenalin, aber ohne Angst.

Migdalek: Also, ich hatte schon Angst. Da oben auf dem Berg hab ich zum ersten Mal realisiert, dass etwas Schreckliches passiert sein musste. Da waren vielleicht 150 Leute, auch schon Verletzte.

Dechert: Irgendwann sind der Chris und ich runtergegangen, da sahen wir das eigentliche Elend. Die Menschen sind ja nicht ertrunken, sondern jämmerlich gestorben, sie hatten abgetrennte Arme und Beine, wie im Kriegsfilm. Und trotzdem ist man nicht im Schock. Man macht einfach, man funktioniert. Wo geschrien wurde, da sind wir hingegangen.

Meyer: Sie hatten noch keine Nachrichten, was passiert war?

Dechert: Nein. Es war um zehn Uhr morgens passiert, mehr wussten wir nicht. Wir haben uns aus Holzlatten und Wellblech eine Trage gemacht, damit brachten wir die Verletzten den Berg hoch und drückten sie Karin in die Hand. Manche sahen wirklich schlimm aus. Verdrehte Gelenke, Knochen guckten raus – das Schlimme war, dass man nicht helfen konnte. Karin hat Wasser geholt, die Wunden abgetupft, und wir dachten, jetzt kann doch mal irgendwer kommen. Zwei Stunden vergingen, vier Stunden, die Leute, die sind aufgedunsen, stöhnten vor Schmerz – aber es kam keiner. Natürlich sind da auch viele, na ja, …

Meyer: …Ihnen unter den Händen gestorben.

"Es gab Szenen, die man sein Leben lang nicht vergessen wird"

Dechert: Ja, so muss man das sagen. Und daran tragen wir immer noch. Warum haben wir überlebt? Warum haben wir einigen nicht helfen können? Wir machen uns heute noch Vorwürfe. Diese Tragödien, man kann sie gar nicht erzählen. Und der Geruch – das hat sich bei uns eingebrannt. Wir haben die Nacht durchgearbeitet, und es war immer nur eine Handvoll Leute, die geholfen haben, und, ich sag mal, neunzig Prozent sind oben auf dem Berg geblieben und nicht runtergegangen.

Meyer: Ich habe das Unglück wie Millionen andere Menschen auf der Welt erlebt: Ich hatte morgens um halb acht den Fernseher eingeschaltet. Man weiß, in Asien ist es später am Tag, die Nachrichtenlage wird immer besser, bald hat man Landkarten, den ersten Erlebnisbericht. Dann heißt es, die Bundesregierung hat die ersten Wolldecken zur Verfügung gestellt – und irgendwann kommt das erste Bild. Das dauert! Den gesamten zweiten Weihnachtstag haben wir die Lichter am Weihnachtsbaum gar nicht angezündet. Ein Tsunami, das ist schon was anderes, als wenn hinten in der Türkei die Völker aufeinander einschlagen. Es hat eine andere Unmittelbarkeit. Ich hatte das Gefühl: Genauso wie das Meer einen aufsaugt, muss ich diese Bilder in mich aufsaugen. Ich weiß, ich kann nichts tun, aber bin zutiefst ergriffen.

chrismon: Und dann konnte man doch etwas tun.

Meyer: Ja. Drei, vier Tage später brach eine weitere Welle los, die Welle der Hilfsbereitschaft. Viele TV-Sender stellten Spendengalas auf die Beine, die Millionen kamen nur so im Tiefflug geflogen. Das hängt damit zusammen, dass Menschen nicht nur eine Nachricht hatten – sie hatten ein Bild. Und darin fanden sie sich wieder. Das hätte ihnen nämlich auch passieren können. Keiner wird zum Helden im eigenen Wohnzimmer, aber die Bereitschaft, sich ergreifen zu lassen – die zog sich um die Welt.

chrismon: Wann konnten Sie die Insel verlassen?

Dechert: Nach drei Tagen kam das erste Schiff, da wollte natürlich jeder rauf. Deshalb haben wir Strohhalmziehen gemacht. Karin und ich hatten Glück. Und dann gab es Szenen, die man sein Leben lang nicht vergessen wird. Die, die den Kürzeren gezogen hatten und gar nicht wussten, wann vielleicht wieder ein Schiff kommen würde, halfen uns, die Sachen zu packen, und freuten sich für uns. Da kriege ich heute noch einen Kloß im Hals.

chrismon: Wann hatten Sie erstmals Kontakt mit den Medien?

Dechert: Dafür muss ich erzählen, wie es weiterging. Wir waren auf dem Schiff – und unsere Gedanken kreisten noch um das, was geschehen war: Wir dachten an das Kind, das gestorben ist. An den Mann, der durchgehalten hat – ein Franzose, Karin hatte ihm Lieder gesungen, bis nach 14 Stunden der erste von zwei Hubschraubern kam. Voller Adrenalin kamen wir in Phuket an. Stellen Sie sich das vor: eine schmale Gangway, und auf der anderen Seite der ganze Kai voller Kameraleute. Das war ein Spießrutenlauf! Dazu die Einheimischen, die uns berührten und "Lucky! Lucky!" riefen. Sie wollten von unserem Glück was abhaben, wir hatten ja überlebt. Die Fotografen hielten uns die Kameras ins Gesicht und fragten in allen Sprachen. Wir wollten selber fragen, wir hatten ja keine Ahnung vom Ausmaß der Katastrophe. Aber die haben gefilmt und gefilmt, da war kein Respekt, gar nichts.

"Die Geschichte eines Menschen aufzuschreiben, hat viel mit Respekt zu tun"

Meyer: Das waren örtliche Fernsehteams. Deren Bilder werden eingespeist in die sogenannten News Feeds und laufen um die Welt. Wenn irgendwo was passiert, kriegen wir die Bilder in die Redaktion – und machen uns doch selten darüber Gedanken, ob es jemandem Schmerzen zugefügt hat, dass es diese Bilder gibt. Aufmerksamkeit ist das teuerste Gut in der Informationsgesellschaft, jeder will sie. Was Sie da erlebt haben, ist der Beginn des Transmissionsriemens – das ist die Presse bei der Arbeit. Und wenn man in meinem Beruf für etwas um Entschuldigung bitten muss, dann dafür, unter welchen Umständen, ja mit welchen Auswüchsen diese Bilder zustande kommen. Muss man.

chrismon: Machen diese Leute das gern?

Meyer: Keiner. Na gut, manche machen es gern. Aber alle Reporter wollen authentisch berichten. Dort am Kai standen die Leute mit dem Bildernetz. Ohne ihren Kameraeinsatz hätten wir ihre Bilder nicht. Und ohne Bilder keine Spenden.

chrismon: Haben Sie diese Erfahrung auch gemacht?

Meyer: Ja, das muss jeder mal selber machen. Heute wollen viel zu viele Menschen nur noch beurteilen, nicht mehr selber hinsehen. Aber unser Beruf hat mit Menschenkenntnis zu tun, die muss man schärfen. Da muss man als junger Journalist klingeln und sagen: "Ich weiß, es ist was Furchtbares passiert, können Sie uns das noch mal genau erzählen, ich komm von der Zeitung." Ein Journalist fühlt sich dabei nicht wohl. Wenn er dann vor seinem geistigen Auge abhakt, was er noch für die Geschichte braucht – ein Foto von den trauernden Eltern, vielleicht ein Video –, kommt Ihnen das bestimmt respektlos vor, aber es mündet in ein Produkt, das voller Respekt ist. Denn die Geschichte eines Menschen aufzuschreiben, hat viel mit Respekt zu tun. Denken Sie nicht, ich separiere mich von diesen Menschen, die da mit der Kamera stehen. Nein, ich weiß, wie die sich fühlen, und das Adrenalin, was Sie gespürt haben, das spüren die auch!

Dechert: Noch eine Situation: Wir waren noch auf der Insel, waren mit den Toten beschäftigt, die wir in Leintücher eingewickelt hatten. Aber wir mussten ihnen doch einen Namen geben. Wir haben sie wieder ausgepackt, den Anblick werde ich mein Leben nicht vergessen. Ich hab dann "Heinrich" auf einen Zettel geschrieben . . . Also, ich mache das Tuch auf, und auf einmal kommt da eine Kamera, "Foto machen!" – und jemand macht ein Foto.

Migdalek: Das war ein Australier aus Hongkong. Er hat nur im Weg gestanden, nicht geholfen. Ein Jahr später brachte er ein Buch über den Tsunami heraus, da war sogar eine noch zugeklebte Seite drin: "Nur für starke Nerven!", stand da drauf.

Meyer: Ich habe dafür keine Entschuldigung. Das sind Menschen, die ihren Benefit, ihren Nutzen, aus einer Katastrophe ziehen.

Dechert: Wir wollen Sie auch nicht in diese Schublade tun, und mir kommen schon wieder die Tränen, wenn ich höre, dass Sie sich entschuldigen, das tut gut. Damit habe ich hier gar nicht gerechnet. Das rechne ich Ihnen hoch an.

"Wenn der Reporter auf Menschen trifft, die Nein sagen, muss er das akzeptieren"

Meyer: Aber ich muss Ihnen ganz deutlich sagen: Ein Nachrichtenmann kann seine Arbeit nicht machen, wenn es diese Leute nicht gibt. Und ich werde mich nie darauf zurückziehen können, dass ich nicht so bin wie die. Die Bildbeschaffer sind ein Teil des Medienapparats, der die Nachrichten um den Globus wälzt.

Migdalek: Ich differenziere bei Journalisten zwischen denen, die mich fragen, ob ich reden will, und anderen, die einfach draufhalten, obwohl man Nein sagt. Auf dem Flug zur Jahresgedenkfeier war so einer. Ich kannte ihn aus dem Fernsehen und hatte seinen Mut als Kriegsberichterstatter immer bewundert – aber was er da machte, war unter aller Würde. Das habe ich ihm auch gesagt.

Meyer: Das war ja nicht mehr die Stunde der größten Not. Wenn der Reporter auf Menschen trifft, die Nein sagen, muss er das akzeptieren. Er kann die Bilder rein rechtlich ja gar nicht zeigen.

Migdalek: Aber er hat leider nicht Schluss gemacht. Da war eine Grenze überschritten, das hat auch bei den anderen einen Schock ausgelöst. Sie haben gemerkt: Man ist nicht wirklich sicher.

Meyer: Nun wünschen wir Journalisten uns aber auch, dass unsere Gesprächspartner Emotionen zeigen. Gefühle vermitteln sich viel stärker als das gesprochene rationale Wort. Natürlich müssen wir irgendwann Schluss machen, wir wollen mit den Menschen ja oft Monate später noch einmal sprechen. Dieser Journalist wird an anderer Stelle dafür gebüßt haben, denn Sie haben ja nicht mehr mit ihm geredet.

chrismon: Ist es nicht auch eine Hilfe, wenn Journalisten hören und vermitteln möchten, was Ihnen geschehen ist?

Dechert: Noch ein Fall, ein Jahr nach dem Tsunami, am Strand von Khao Lak: Eine Gruppe von Betroffenen und Angehörigen hatte dort die Möglichkeit, Abschied zu nehmen. Das war eine private, sehr emotionale Situation. Wir warteten, bis die Kamerateams weg waren. Ich habe meine Rose lange in der Hand behalten, dann hab ich gedacht: Jetzt kannst du hingehen. Ich leg die Blume hin, bin für mich so in einer Ruhe, nehme den Gottesdienst wahr – und erfahre später durch einen Anruf, dass ich im Fernsehen war! Jemand hatte eine Kamera in den Sand eingegraben. Auch meine schwerkranke Mutter wurde angerufen von der Presse. Man fühlt sich wie ein Stück Wild, und dann: Kamera aus, Nächster! Da wird nicht gefragt: „Wie geht’s denn Ihnen? Können wir Ihnen helfen?“ Im Gegenteil: Wir haben denen geholfen!

chrismon: Waren denn alle Journalisten gleich?

Migdalek: Einer vom ZDF war sehr feinfühlig und seriös. Er fragte, ob wir reden könnten und wie es uns geht: "Wenn wir berichten, würden wir Ihnen gerne diese Frage stellen, wenn Sie nicht möchten, machen wir etwas anderes." Die Grenzen wurden abgesteckt und auch nicht überschritten.

Meyer: Sie müssen sich die Medien vorstellen wie ein Hochhaus. Unten ist der Posteingang. Da ist alles mit robustem Naturstein ausgelegt, da müssen Sie durch. Und je weiter Sie vorankommen, desto feiner wird es. Irgendwann setzt bürgerliches Benehmen ein, dann kommt sogar höfisches Zeremoniell, und ganz oben gehen Sie auf weichen Teppichen, da sind die Leute so philosophisch, dass Sie das Gefühl haben: wie schön, dass es so feine Menschen gibt. Trotzdem machen in dieser arbeitsteiligen Welt alle den einen Job: Sie versuchen, ein Produkt zu liefern, das uns in die Lage versetzt, mit der Welt da draußen umzugehen. Wenn ich den Menschen aus dem Hochhausparterre begegne, kann ich mir gar nicht vorstellen, dass weiter oben einer sitzt, der aus chinesischem Porzellan Tee trinkt. Aber das Ganze ist EIN Gewerbe.

chrismon: Es gibt aber viele Medienhäuser. Und es gibt die Frage: Geht es um die Informationspflicht oder ums Geschäft?

Dechert: Und was ist mit der Würde des Menschen?

Meyer: Das ist der erste Satz im Grundgesetz: Die Würde des Menschen ist unantastbar, immer. Sie haben ein Recht auf Privatheit, das steht immer zwischen Ihnen und mir. Aber ich mache mich Ihnen erkennbar und sage, dass ich möglicherweise ein Teil der Lösung Ihres Problems bin – lassen Sie uns miteinander reden! Gut, ich würde nicht meine Kamera im Sand verstecken, um Trauernde abzufilmen. Trotzdem verdanken wir dieser Arbeitsweise einige Bilder, die vielleicht mal als Foto des Jahres gewürdigt werden. Die Würde des Menschen leitet uns, trotzdem müssen wir Ihnen auf den Leib, die Seele rücken – das ist der hässliche Teil dieses Berufes, aber wir müssen das tun.

"Die Notfallseelsorger haben uns geholfen"

Migdalek: Das Problem der Journalisten ist ja, dass die Nachfrage so groß ist. Da müssen wir uns auch als Kunden überprüfen. Je schmerzhafter, je dreckiger ein Bericht ist, desto höher ist die Quote. Und Sie müssen Quote bringen und die Würde des Menschen beachten. Dabei sind die besseren Bilder für Sie doch die, die mehr Quote machen.

Meyer: Es stimmt nicht, dass die Steigerung des Dramas durch Schock höhere Quote bringt. Das Foto von Ihnen am Strand mit der Blume transportiert mehr von diesem Drama, mehr Gefühl als eines mit Blut und Knochen. Das Foto von Prinzessin Diana im zerstörten Auto – es hat wohl zehn Jahre gedauert, bis eine Zeitung das druckte. Keiner hat diese Fotos gekauft. Weil man wusste: Hier ist die Grenze. Wenn aber der US-Präsident Dinge tut, die er in seinen Reden ablehnt, ist das eine Information über seine Glaubwürdigkeit, dann muss sofort berichtet werden. So, wie Sie das möchten: höflich fragen, mitfühlen, so arbeiten wir in unserer Magazinredaktion auch. Weil wir einen zeitlichen Abstand zum Geschehen haben, den andere Kollegen nicht haben. Darum haben die eigentlich nicht Verachtung verdient.

chrismon: Aber es gibt doch die skandalösen Bilder, bei denen der Verantwortliche sagt: "Ich muss das bringen!"

Meyer: Es ist nicht unbedingt die Skandalisierung. Wonach ich jage, ist die Geschichte, die unter dem Brennglas das Weltgetöse individualisiert. Ich brauche das eine Gesicht, das für Hunderttausend steht, die eine Geschichte, ein Bild für das Drama. Wir kennen das Bild von dem napalmverbrannten Mädchen in Vietnam, das die Landstraße entlangrennt. Dieses Foto hat zum Ende des Vietnamkriegs vielleicht mehr beigetragen als politische Verhandlungen. Weil plötzlich weltweit klar war: So geht es nicht.

Dechert: Herr Meyer, Sie bringen mit den Emotionen bestimmte Botschaften rüber. Erzählen Sie Ihren Zuschauern doch mal, was nach der Katastrophe passiert, was das ist, ein posttraumatisches Belastungssyndrom. Wir waren in unterschiedlichen Kliniken. Was das gekostet hat! Und dann kommen die Rückschläge.

Meyer: Verbindet Sie Ihre Erfahrung, trennt Sie das?

Migdalek: Ein Therapeut hat zu uns gesagt: "Stellen Sie sich vor, Sie sind beide in einem Krankenzimmer, Sie haben Arme und Beine in Gips, und Sie wollen sich Kaffee bringen. Das geht nicht. Sie sind beide verletzt, Sie brauchen beide Hilfe von außen."

Dechert: Trotzdem kommt leicht der Vorwurf an den Partner: Warum hilfst du mir nicht raus? Man fühlt sich nicht geborgen, sondern entzweit. Die Notfallseelsorger haben uns geholfen. Später die Therapien – jedem für sich. Und vor allem die Angehörigentreffen des Projekts "Hoffen bis zuletzt."

Migdalek: Die Leute wissen zu wenig, die Ärzte verschreiben Tabletten, statt die Adressen von Notfallseelsorgern zu geben.

Meyer: Wir Journalisten lernen ja auch. Wir können uns unter dem PTBS,dem posttraumatischen Belastungssyndrom, was vorstellen. Das will ich gern vermitteln. Wenn Sie mir böse wollen: auch um damit Geld zu verdienen – aber im Wesentlichen, weil ich anderen Menschen sagen will: Das geht euch an!

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