Illustration: Martin Burgdorff
Die Freiheit nehm ich mir, schlägt die Wirtschaft vor. Dann schon lieber Luther: „Ein Christenmensch ist jedermann untertan“
Die Freiheit nehm ich mir, schlägt die Wirtschaft vor. Dann schon lieber Luther: „Ein Christenmensch ist jedermann untertan“
21.11.2011

Wir haben die Freiheit verloren. Sie hat sich in so viele kleine Freiheiten aufgelöst, dass ihre Summe alles Mögliche ergibt – nur keine Freiheit. Die Erfinder des Werbeslogans für eine der vielen Kreditkarten, „die Freiheit nehm ich mir“, haben vermutlich gar nicht gemerkt, auf welches Nanoformat sie damit den Wert Freiheit schrumpften. Das Lebensgefühl vieler, vor allem, aber nicht nur junger Leute trafen sie allerdings genau.

Rollator-Fahrer und ungeduldige Autofahrer

In meiner Nachbarschaft versammeln sich immer mal wieder Menschen jeden Alters in den Räumen eines Kölner Rudervereins, um Hochzeiten, Kindstaufen, Geburtstage oder Konfirmationen zu feiern. Dann herrscht in der engen Straße ein Durch­einander von Autos, die Parkplätze brauchen, Aussteigenden, die mit Geschenkpaketen, Blumen und sonstigen Angebinden nicht so schnell sind, oder weil Rollstuhl und Rollator Zeit zum Ausladen und Inbetriebnehmen brauchen. Autofahrer, die ein wenig warten müssen, hupen ungeduldig, kurven gefährlich nah durch das Geschehen, lassen ihrer Rücksichtslosigkeit freien Lauf. So geht es nicht selten zu, wo viele Menschen gleichzeitig in Bewegung sind: in öffentlichen Verkehrsmitteln, Einkaufszentren, auf Straßen, Autobahnen.

Höflichkeit erntet inzwischen Erstaunen

Freiheit kennt jeder: seine eigene. Mir wurde – an dieser Stelle jedenfalls mit Erfolg – beigebracht, in derartigen Situationen und an solchen Plätzen ein Mindestmaß an Höflichkeit, Hilfe und Rücksicht an den Tag zu legen. Tue ich das heute, erlebe ich Dankbarkeit bis Freude – gepaart mit etwas ­völlig Neuem: Staunen bis Verblüffung. Weil offenbar niemand damit rechnet, nicht ignoriert oder angepöbelt, genötigt und ­beschimpft zu werden.

Ob Straßenbahn, Café, Warteraum, Geschäft oder Büro – überall suchen Menschen Kontakt. Gesprochen wird permanent. Aber oft nicht mit dem Gegenüber, sondern mit irgendjemandem am anderen, virtuellen Ende der mobilen Verbindung. Mutter und Tochter treffen sich im Café. Kaum haben sie Platz genommen, greift die Tochter zum Handy, weil sie angerufen wird. Als sie gar nicht mehr aufhört, in dieses laut hineinzureden, holt Mutter ihr mobiles Ding heraus und telefoniert auch. Nach einer Stunde verlassen beide den Ort des Geschehens, ohne wirklich miteinander gesprochen zu haben. Die Freiheit nehm ich mir?

Rücksichtslosigkeit hat sich in der Arbeitswelt breit gemacht

Studien berichten, dass die Zahl der Menschen ständig steigt, die in ihren Betrieben und Büros längst innerlich gekündigt haben, weil ihre Arbeit von ihren Vorgesetzten nicht gewürdigt und ihre Person nicht geachtet wird. Gallup erhebt das Verhältnis der Mitarbeiter zu ihren Betrieben jährlich. An der TU Chemnitz wird den „psychosozialen Kosten entgrenzter Arbeit“ nachgegangen, in Heidelberg läuft seit Jahren das Forschungsprojekt Innere Kündigung. Die Liste ist lang, wenig landet in den Medien.

Vom Fachkräftemangel reden Manager, Medien und Politiker, während krasser Egoismus, nackte Ignoranz, Kälte und Rücksichtslosigkeit die Arbeitswelt bestimmen – ohne nennenswerten Unterschied zwischen Staat und Privat. Dort, wo wir Menschen hilflos sind, vor Banken, Behörden und Versicherungen, entschwindet mancherorts das Menschliche ganz und gar.
„Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemand untertan. Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.“ Nichts ankert fester in meinem Denken zur Freiheit als diese zwei kurzen Sätze in Martin Luthers fundamentalem Traktat „Von der Freiheit eines Christenmenschen“. Seine Berufung auf den Apostel Paulus empfinde ich wie den Klang des Nagels, mit dem diese Wahrheit der Freiheit für alle Zeit an die Wand geschlagen wird: „Ich bin frei in allen Dingen und habe mich eines jedermanns Knecht gemacht“ (1. Korintherbrief, Kapitel 9,19).

Der einzige rote Faden ist die Kontinuität von Ich, Ich, Ich

Freiheit zur Verantwortung dürfen wir das wohl übersetzen. Aber wer würde unter dieser Formulierung schon verstehen, was noch Paulus und Luther meinten? Schon das Wort von der Nächstenliebe stößt heute im besten Fall auf mildes Lächeln, öfter aber auf Achselzucken. Der Umgang mit den Kindern zu Hause, in Kindergarten, Schule und Hochschule, Berufsausbildung, dann der der Erwachsenen untereinander in der realen Arbeitswelt und erst recht mit den überflüssig gewordenen, ja lästigen Alten kennt vielfach nur einen einzigen roten Faden: die Kontinuität von Ich, Ich, Ich. Mit der unausweichlichen Folge, dass die stärkeren Ichs die weniger starken Ichs missachten. Nein, die zweite Hälfte von Paulus’ und Luthers Postulat gehört nicht zum Selbstverständnis unserer Breiten und Zeiten. „Die Freiheit nehm ich mir“ kann man auch so formulieren: Ich bin ein freier Herr über alle Dinge, und alle sind mir untertan.

Man muss schon in andere Teile unserer Welt schauen, die insofern eben nicht die eine ist. Leib und Leben riskieren Menschen in anderen Ländern, um ihre Freiheit einzufordern: von China und Indien, Iran und Arabischem Golf bis Nahost und Nord­afrika. Viele, vor allem junge Leute hoffen auf ein Stück vom westlichen Wohlstand und auf Freiheit. Aber sie kämpfen nicht nur für ihre eigene Freiheit und Zukunft, sondern auch für die der anderen. Was wir Schuldenkrise nennen, rief in New York „Occupy Wall Street“ hervor und geht als Occupy-Serie um die Welt. Immer mehr Menschen, nicht mehr nur junge, engagieren sich in Nichtregierungsorganisationen. Vielleicht erwächst aus dem „Widerstand einer gebildeten Mittelschicht“ (Claus Leggewie) neues soziales Engagement. Vielleicht strahlt es aus auf das Zwischenmenschliche.

Die im Dunkeln sieht man in den Statistiken nicht

Vielleicht entdecken wir den Wert Freiheit bei uns dort wieder neu, wo Menschen unter uns leben, die ernsthaft von der Sorge um ihre Existenz umgetrieben werden. Ich rede von denen, die den Gang in Arbeitsagenturen, Sozialämter und ähnliche Einrichtungen tun müssen. Aber auch von den vielen, die von der Hand in den Mund leben und wissen, dass sie spätestens im Alter wirtschaftlich vor dem Aus stehen werden. In staatlichen Statistiken sieht man die im Dunkeln nicht. Weil sie um jeden Preis nicht gesehen werden wollen. Sie haben gelernt, ihre Umstände geschickt vor denen zu verbergen, deren soziale Nähe sie nicht verlieren dürfen, wollen sie sich nicht selbst aufgeben. 

Was bleibt ihnen von ihrer Freiheit? Die zweite Hälfte des Pos­tulats von Luther und Paulus. Sie sind ihres Allernächsten Knecht und auch mancher Nächsten, denen es noch schlechter geht. Hilfe, haben sie gelernt, kriegst du oft nur von denen, die selbst Hilfe brauchen.

Kommt von nirgendwo ein Lichtlein her? Doch. Von der Generation der ganz Jungen heißt es, sie legten mehr Wert auf Gemeinschaft als auf Karriere. Ich weiß nicht, ob das stimmt. Aber ich möchte es gern glauben. Um der Freiheit des Christenmenschen willen.

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