Um die 200 Kneipen, Cafés und Bars drängen sich auf anderthalb Quadratkilometern. Foto: Stephan Floss
Dresden-Neustadt: Elternzeitväter, Kreative mit schicken Brillen, und ein Buchhändler, der sich drum kümmert, dass hier kein Disneyland wird, sondern ein Bürgerparadies bleibt. Mittendrin die evangelische Kirche – sie wächst und wächst. Eine Vorbesichtigung in der Kirchentagsstadt
14.04.2011

Drei Minuten geht sie vor, die Uhr von Thomas Schmidt. Und da wir nicht über irgendeinen x-beliebigen Zeitmesser, sondern die Turmuhr der Neustädter Martin-­Luther-Kirche reden, muss der Küster Treppen steigen. Viele Treppen. Schmidt, ein kräftiger Mann mit Vollbart, betritt die Uhrenstube und stoppt das tackende Pendel mit der Hand. Seit 26 Jahren ist der gelernte Elektromonteur, für den der ­Kirchenjob in den letzten, bleiernen DDR-Jahren vor allem ein willkommener Rückzugsraum war, rechte Hand des Pfarrers. ­Inzwischen nur noch halbe Tage; nahe dem „Blauen Wunder“, im schon dörflichen Loschwitz, betreibt er sein eigenes Antiquariat, die „Traumfährte“. Er mag diesen täglichen Rollentausch, der ihm Bodenhaftung gibt – sein Herz aber hängt hier, am Viertel um den Martin-Luther-Platz. Warum? „Die Neustadt ist kein normales Stadtviertel“, schnauft Schmidt, als die Turmspitze erreicht ist und Straßen, Häuser, versteckte Hinterhofparadiese und Dach­gärten, der sanfte Elbbogen mit der Waldschlösschenbrücke wie eine Spielzeuglandschaft unter uns liegen, „sie ist ein Lebens­gefühl“.

"Hier werden zu keiner Tages- oder Nachtzeit die Bürgersteige hochgeklappt"


Wer in Dresden Neustadt sagt, meint die Äußere Neustadt. Weil sie so anders ist als die vornehme Innere Neustadt mit ihren barockschnörkligen Palästen und Schickimicki-Boutiquen? Unberechenbarer? Das Quartier blieb von Bomben und Abrissbirnen weitgehend verschont. Anfang des 19. Jahrhunderts kamen böhmische Gärtner, mit der Industrialisierung Arbeiter und Klein­bürger, zu DDR-Zeiten Exknackis, viele Alte, aber auch Studenten, Künstler und Punks. Eine Insel, umspült von drei lärmenden Verkehrsadern; am Hinterausgang plätschert die Prießnitz. Nach der Wende wurde die Neustadt zum Szene- und Ausgehviertel Dresdens. Nicht nur zum jährlichen Sommerfest im Juni, der „Bunten Republik Neustadt“, schieben sich Tausende durch ihr Asphalt­labyrinth. Um die 200 Kneipen, Cafés und Bars drängen sich auf anderthalb Quadratkilometern. „Egal, zu welcher Zeit Sie kommen“, sagt Schmidt, „Sie müssen auf die Uhr schauen, um zu wissen, wie spät es wirklich ist. Wenn woanders längst die Bürgersteige hochgeklappt sind, ist hier immer noch was los.“

Rund 16 000 Menschen wohnen heute in der Neustadt. War das von sozialistischen Stadtplanern bewusst vernachläs­sigte und dann zum Flächenabriss freigegebene Viertel in den frühen 90er Jahren noch Mekka für Hausbesetzer und Randgruppen aller Couleur, hat das neue Bürgertum seinen Reiz längst entdeckt. Die Szene zieht weiter, ins angrenzende Hechtviertel oder nach Pieschen. Akademiker und IT-Spezialisten richten sich zwischen Stuckdecken und abgezogenem Parkett ein. Der Küster der Martin-Luther-Kirche bekommt den Zuzug gut situierter Jungfamilien ganz handgreiflich zu spüren: Im letzten Jahr ­wurden Kirchenbänke im Seitenschiff entfernt, um Platz für ­Kinderwagen zu schaffen; 22 hat Schmidt vor dem letzten Martins­umzug gezählt. Mehr als 80 Taufen gab es im letzten Jahr in der Gemeinde; allein zum kommenden Pfingstfest sind sechs ge­­plant. Schmidt wird Kerzen im Akkord verteilen und sich nach einem Assistenten umsehen müssen. „So ein Gottesdienst kann ja nicht ewig dauern.“ 

 

Der Superintendent und das Wunder von Dresden


In seinem Büro am Martin-Luther-Platz, ein Stockwerk unter Schmidts Dienstwohnung mit den deckenhohen Bücherregalen, langt Superintendent Albrecht Nollau nach der in Klarsichthülle verpackten Gemeindestatistik des Kirchspiels Dresden Neustadt. Der Sohn einer Mathematikerfamilie, der es als blutjunger Landpfarrer mit Menschen zu tun bekam, die zwei Weltkriege erlebt hatten, ist kein Zahlenfetischist, aber diese haben es in sich: ­Zwischen 2007 und 2010 stieg die Zahl der Gemeindeglieder des aus vier Gemeinden rechts der Elbe zusammengesetzten Kirchspiels um fast 10 Prozent, das Durchschnittsalter liegt bei 35. Nollau weiß, dass er jetzt ein Wunder erklären muss, er lacht: „Es gibt kein missionarisches Geheimnis, kein Kochrezept, das man nachkochen könnte. Wir trinken denselben Wein wie alle anderen.“
Für Nollau ist der Run auf die Gemeinde vor allem ein Resultat der Stadtentwicklung, der enormen Beliebtheit des Viertels bei jungen Familien. Das führt, auch unterm Kirchendach, zu einem Verstärkereffekt: Ein Ort, an dem man seinesgleichen trifft, lädt zum Bleiben, zum Mitmachen ein. Haben Sie ein Fest?, wird er gelegentlich von Touristen gefragt, die es zufällig in die Kirche verschlägt. All die jungen Leute...? „Nein“, antwortet der Pfarrer dann und schiebt – lakonisch, aber stolz – nach: „Es ist Gottesdienst.“ An der Luther-Kirche wird musiziert und gesungen – Bachchor, Kantorei, Gospelchor und Kurrende („Laufchor“) genießen weit über die Stadtgrenzen hinaus einen hervorragenden Ruf. „Ein Gottesdienst, in den Sie sich reinhängen können, der bunt ist, musikalisch und liturgisch gut gestaltet – das ist ein ­attraktives Angebot. Mehr machen wir nicht.“ Nollau streicht ­seine Klarsichthülle glatt, schaut durch die hohen Doppelglas­fenster hinaus auf den Platz, lächelt. „Wir sind nicht so bunt wie das Viertel. Aber wir sind eine unverzichtbare Farbe.“

Selbst Agnostiker Stübing versucht gelegentlich etwas "Rest-Transzendenz" zu erhaschen


Ob der bekennende Agnostiker Jörg Stübing das auch so sieht? Der Mann mit der Filzkappe, der in Leipzig beinahe Doktor der Philosophie geworden wäre, betreibt heute in der Louisenstraße, der Hauptschlagader der Neustadt, die Buchhandlung „Büchers Best“. An Weihnachten zog er früher mit seinem Daunenschlafsack unter einen Felsvorsprung der Sächsischen Schweiz. Seit auch er mit Frau und Kinderwagen durchs Viertel schiebt, ist es mit dieser Form der Freiübernachtung vorbei. Doch als Stübing letztens, der Heiligabend war bereits in seine späte Phase übergegangen, mit seinen Lieben „ein Stück Resttranszendenz er­haschen“ wollte, fand er die Tür der Luther-Kirche verschlossen. Schade eigentlich. Denn auf seine Weise ist auch das Kietzur­gestein Stübing ein Menschenfischer.
Nichts in seiner wie aus einem Woody-Allen-Film geborgten Buchhandlung bleibt dem Zufall überlassen. Selbst der Birma­katermischling, den erst die Erfindung des Flachbildschirms von seinem Stammplatz auf dem Computermonitor vertrieben hat, gehört zum Ladenkonzept. Miyamoto Musashi heißt er, nach ­Japans berühmtestem Samurai. Auch Stübing ist keiner, der sich hinter staubigem Papier verschanzt. Mit Gleichgesinnten hat er die Werbegemeinschaft Dresden Neustadt angeschoben; Stadtteilmarketing von unten. „Das soll hier kein Disneyland werden, wo wir wie die Koalabären mit Eukalyptusblättern den Touri­pferdetaxen nachwinken.“ Wer mit wachen Augen durchs Viertel geht, registriert auf Schritt und Tritt Veränderungen: Tante-­Emma-Läden, in denen plötzlich teure Sneakers oder Fahrräder verkauft werden, die Bierschänke, die zum Bioimbiss wird. Die Stadthäuser und Maisonettewohnungen, die oberhalb des Alaunplatzes entstehen, gehen weg wie warme Semmeln. „Volvo-Ghetto“ nennt der Volksmund das Megabauprojekt.
Mittagessen in der Postkantine, wo zu gedämpftem Bar-Jazz die erwachenden Nachtschwärmer ihre Latte macchiatos schlürfen. Im ersten Stock des 60er-Jahre-Baus mit der Riesenglasfront herrscht Hochbetrieb: Blaumänner, Angestellte, Nadelstreifentypen, auch einige Kreativwirtschaftler mit schicken Brillen ­beugen sich einträchtig über Kohlroulade oder Schweinesteak „Zigeuner Art“. Draußen, als Film mit abgestellter Tonspur, das Neustadtleben.

Mit Kindern in der Neustadt wohnen? Da war die Skepsis zunächst groß

 

Die Kirchtürme, allen voran der der Garnisonkirche, haben Susanne Lippold immer begleitet; vom eigenen Fenster am Martin-Luther-Platz blickte sie direkt auf die gewaltige ­Glocke der Luther-Kirche. Der charismatische, erst kürzlich pensionierte Pfarrer Klaus Goldhahn, der das Neustadtleben über die Grenzen der Gemeinde hi­naus mehr als zwanzig Jahre lang prägte, hat sie beeindruckt; bewundert hat sie als Kind die Gemeindeschwester, die mit ordentlich aufgestecktem Haarknoten und Haube bei Wind und Wetter per Fahrrad durchs Viertel flitzte. Als die Sozialpädagogin vor gut zehn Jahren mit ihrem damals fünfjährigen Sohn zurück in die Neustadt zog, gab sie sich burschikos: „Kann ich nicht gleich dort wohnen, wo ich abends ausgehe?“
Es gibt Freunde, die bis heute skeptisch, ja allergisch reagieren. Mit Kindern in die Neustadt? Enge Straßen, auf denen man dem Abfall der nächtlichen Partywalze ausweichen muss? Nie! Susanne Lippold sieht das anders; erst recht, seit sie in der Neustadt in Daniel Kindlimann, einem jungen Kollegen aus der Schweiz, eine neue Liebe gefunden hat und noch einmal Mutter geworden ist. „Für die Kinder ist die Neustadt lebendig und gut, alles ist nahebei: Waldorfschule, Elbe, Dresdner Heide.“

Brachen verschwinden, aus besetzten Löchern im Abriss werden Eigentumswohnungen


Im Alaunpark kann sich Kindlimann heute schon zum „Männer-Boule“ mit anderen Elternzeitvätern treffen; die Kinderwagen parken im Kreis. Die inzwischen vierköpfige Familie gehört zu denen, die bleiben, im Viertel Wurzeln schlagen wollen. Mit 15 anderen Familien haben Lippold und Kindlimann eben ein Areal am Ufer der Prießnitz gekauft. Die „Blaue Fabrik“, eine alte Dampfwäscherei, ist ein Offkulturzentrum mit Tanzsaal, Ateliers und Werkstätten, in denen sich Gitarrenbauer, Töpfer und ein Autoschrauber eingerichtet haben. Gemeinsam soll neu gebaut und saniert, der Kulturort erhalten werden. In der Neustadt gibt es bereits rund 15 solcher Wohnprojekte; von Familien, die in mehreren Generationen unter einem Dach leben, bis zu Vereinen oder losen Zusammenschlüssen.

Häuserlücken schließen sich, Brachen verschwinden, aus besetzten Löchern im Abriss werden Eigentumswohnungen. Doch noch immer ist die Neustadt ein Ort, der die unterschiedlichsten Lebenskonzepte zulässt. Und es fehlt nicht an Menschen, die die­se Freiräume gestalten wollen. Ralf Knauthe, den alle nur Knafffi nennen, ist so einer. Vor 18 Jahren schmiss Knauthe seinen Versicherungsjob, um für Jesus in den Außendienst zu gehen: An der Seite von Sabine Ball, einer sendungs­bewussten Ostpreußin, die in den 70ern eine Hippiekommune in Kalifornien um sich scharte, baute er den Verein Stoffwechsel für sozial benachteiligte Kinder und Jugendliche auf. 2009 ist Ball hochbetagt gestorben; seit 2005 leitet Knauthe das übergemeindliche Werk, das inzwischen 14 Projekte in fünf Stadtteilen betreibt – von der einstigen Dresdner „Bronx“ hat sich der Arbeitsschwerpunkt in soziale Brennpunktviertel wie Pieschen oder Gorbitz verlagert.
Von Albrecht Nollaus Schreibtisch am Martin-Luther-Platz ­lassen sie sich wie in einem Brennglas beobachten: die Frauen- und Kinderbuchhandlung „Pusteblume“, die „Wir-AG“, ein ­offenes ­Büro linker Stadtteilinitiativen, an der Ecke vis-à-vis das „Café Stoffwechsel“, Keimzelle von Knauthes sozialdiakonischer ­Jugendarbeit. In den angrenzenden Straßen lassen verwitterte Schaukästen, filzstiftbeschriftete Klingelbretter, Messingschildchen, halb abgerissene Flyer und geheimnisvolle Graffiti ahnen, was Nollau meint, wenn er die Neustadt als „religionsproduktiven Ort“ bezeichnet. Mennoniten, Methodisten und Adventisten sind hier unterwegs, dazu zahlreiche Hausgemeinden, Gebetskreise, eine Bibelschule. Seit das „Purple Haze“, eine Musikkneipe in der Alaunstraße, dichtgemacht hat, hört man hinter herunterge­lassenen Rollläden die Jugendkirchler vom Kraftwerk e. V. singen.

"Vergabeordnung Bau" - selbst für den Superintendenten keine Unbekannte


„Wir versuchen sehr bewusst, die Kirche offenzuhalten“, sagt Nollau, „als Ort im Quartier.“ Das klingt gut und sagt sich leicht. Bürgerforen im Gemeindehaus hin, Stadtökumene her. Schon der Link von der Website des Kirchspiels zu Knauthes „Stoffi“ ist manchen seiner Schäfchen ein Dorn im Auge; die Proteste gegen den Großaufmarsch der Neonazis im Februar 2009 wurden schnell zum Lackmustest. Während Nollau sich in die Menschenkette einreihte, zu der die Dresdner Kirchen aufgerufen hatten, waren unter den Blockierern am Neustädter Bahnhof viele Mitglieder seiner Gemeinde. „Warum habt ihr uns alleingelassen?“, musste sich der Superintendent danach fragen lassen. „Ihr habt Händchen gehalten, wir haben die Nazis gestoppt!“
Als Nollau 1988 als Pfarrer begann, hätte er sich nicht träumen lassen, wie wichtig Arbeits- und Mietrecht, das Einmaleins von Organisationsentwicklung und Konfliktbewältigungsstrategien für ihn werden würden. Von der „Vergabeordnung Bau“ ganz zu schweigen. Er wird sich weiter einmischen, keine Frage. Und ­dabei, mitten in der Neustadt, die Kirche im Dorf lassen.

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Toll recherchiert, hier haben Sie sich Zeit genommen und vermitteln ein breites Bild. Klasse!

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