Brief aus Shanghai
Aus dem 29. Stock blickt der deutsche Pfarrer auf die chinesische Wirtschaftmetropole. Und ist doch mittendrin im Lebensgefühl
02.11.2011

Henning Mankell hat sie in seinem Krimi „Der Chinese“ beschrieben: arme, arbeitssuchende Chinesen, die am Abend mit Schnaps betäubt wurden und sich am Morgen auf einem rostigen Schiff auf dem Weg nach Amerika wiederfanden, wo sie dann als Sklavenarbeiter für den Eisenbahnbau endeten. Das war im 19. Jahrhundert. Heute fliegen gutgekleidete chinesische Businessmänner und -frauen in der First- und Businessclass in die Welt und machen gute Geschäfte. Sie kaufen sich überall ein, auch und gerade in Afrika. Und die ehemaligen Kolonialherren schäumen. Es geht um Geld, um Macht, um Ressourcen. Aber ging es je um etwas anderes?

In den Bann gezogen

Da sind wir schon mitten im Thema und mitten in Shanghai. Die 23-Millionen-Metropole ist eine Stadt zum Arbeiten, zum Geschäftemachen und zum Experimentieren. Es ist faszinierend zu sehen, wie schnell hier Neues entsteht, aber auch Altes verschwindet. Vor der Expo 2010 etwa wurde ein riesiges Areal mit Pavillons aus aller Welt bebaut, große Veranstaltungshallen wurden errichtet und alte Fabrikhallen umgebaut. Viele alte Viertel wurden so Opfer der Moderne. So nebenbei entstanden dabei drei neue U-Bahnlinien.

Shanghai, das sind auch die nachts fast kitschig beleuchteten Kulissen am Bund, der Uferpromenade des Flusses Huangpu, die bisher jeden in seinen Bann gezogen haben – auch mich mit meinem Fotoapparat. Das sind die zigtausend großen, kleinen, superteuren und extrem günstigen Restaurants. Essen steht für Chinesen ganz weit oben. Geknabbert wird fast immer irgend­etwas, mittags ab 11.30 Uhr und abends ab 18 Uhr sind die Restaurants voll. Gegessen wird gern mit der ganzen Familie oder mit Kollegen und Freunden. Man redet viel, telefoniert dabei, es herrscht eine Atmosphäre wie in der Bahnhofshalle, fröhlich und laut. Gut für mich: Man kann hier ohne Angst, sich den Magen zu verderben, alles essen, zumindest probieren. Auch Frosch, Schlange, gegrillte Ameisen, getrocknete Würmer, Hai, Krokodil oder Hund. Ich finde übrigens, es ist nicht recht, sich darüber zu erheben. In Deutschland essen wir junge Lämmer, und das zu Ostern.

Gottesdienst im Hofbräuhaus

In Shanghai wohnen circa zehntausend deutschsprachige Menschen. Hier steht eine große deutsche Außenhandelskammer, die größte deutsche Auslandsschule (1300 Kinder), die größte Konfirmandengruppe in einer deutschen Auslandsgemeinde (2011 waren es 40), eines der größten deutschen Generalkonsulate. Und hier ist die ökumenische deutschsprachige Gemeinde, als deren evangelischer Pfarrer ich seit 2006 hier lebe. Wir wollen eine Heimat bieten, zum „Auftanken“ einladen und die Menschen miteinander verbinden. Unsere Gottesdienste finden in verschiedenen Kirchen statt – eine eigene haben wir nicht – aber wir feiern sie auch schon mal in einem Hotel, in einem Discoclubraum oder im Hofbräuhaus. Davon gibt es in Shanghai übrigens zwei.

Ein Großteil der Deutschsprachigen in Shanghai und damit auch der Gemeindeglieder sind von Firmen entsandte sogenannte Expats (Expatriates). In der Regel sind sie für drei bis fünf Jahre in China. Es herrscht große Fluktuation. Das ist herzzerreißend, wenn man gerade Freundschaft geschlossen hat,  aber auch faszinierend. Denn allen, die nach Shanghai kommen, kann man die Lust ansehen, etwas und sich selbst zu beweisen. Sie sind neugierig auf Verantwortung, auf Neues und Fremdes. Natürlich geht’s da auch um Dinge, von denen sie in Europa nur träumen konnten: Karriere, Geld, eine gute Schulausbildung für die Kinder, luxuriöses Wohnen, Bedienstete. Viele Erwartungen erfüllen sich tatsächlich. Die deutschen Familien wohnen meist um die beiden deutschen Schulen herum, in sogenannten Compounds. Das sind Dörfer mitten in der Stadt, bewohnt vor allem von Ausländern aus allen Ländern und zunehmend auch von Chinesen aus dem sich neu entwickelnden Mittelstand. Umgeben sind die Compounds von Mauern und bewacht von Sicherheitsleuten – keine „schwarzen Sheriffs“, sondern freundliche Männer und Frauen, die aufpassen, auch, dass die Kleinkinder nicht auf die Straße laufen.

Ehekonflikte eskalieren schneller

Die Deutschen arbeiten in der Regel wesentlich mehr als zu Hause. Viele fahren morgens schon um 6.30 Uhr los und kommen abends wieder, nicht immer rechtzeitig zum Gutenachtkuss. Die Kinder gehen auf die deutsche oder auf internationale Ganztagsschulen. Die Ehepartner haben meist Haushaltshilfen, Fahrer oder Gärtner. Einige empfinden das Leben hier dennoch als bedrückend. Jobs zu finden ist nicht einfach, Shoppen und Stadtangucken wird irgendwann auch langweilig.

Nach der ersten Zeit der Faszination fragen sich fast alle irgendwann: „Was mach ich eigentlich hier?“ Freunde und Verwandte fehlen, die unterstützend eingreifen können. Auch deshalb eskalieren Konflikte unter Paaren und Familien schneller und heftiger als zu Hause. Es kommt schneller zu Trennungen. Wie immer leiden dabei vor allem die Kinder. Neben meiner Tätigkeit als Pfarrer arbeite ich auch in einer großen deutschen Firma als „Consultant“ für die Expat-Familien. Dort und in der Gemeinde bin ich dann oft als Lebensberater und -begleiter gefragt, da helfen mir meine Fortbildungen zum Beispiel als Mediator und Seelsorger und Familienaufsteller.
 

Mit Übersetzer-App unterwegs

Eines habe ich hier aber immer wieder erlebt: Selbst in traurigen und schweren Lebenssituationen schleichen sich oft der Optimismus und die Kraft der Stadt in die Gefühle der Menschen und machen wieder Mut auf neues Leben. Shanghai ist scheinbar eine gottlose Stadt. Und doch ist Gottes Wirken für mich überall zu spüren und trägt über manche Schwierigkeiten hinweg.

Ich kam vor fünf Jahren hierher, alleine, mit einer Fernbeziehung nach Würzburg. Auch ich habe hier einiges gefunden, was mir wichtig geworden ist: das Gefühl von Sicherheit etwa, auch nachts in einsamen Straßen – keine Alkoholisierten, keine marodierenden Jugendlichen. Der Blick aus dem 29. Stock in dem Hochhaus, in dem ich lebe, auf die quirlige Stadt. Und eine schöne, wenn auch komplizierte Sprache. Drei Versuche habe ich unternommen, mit einer Lehrerin die chinesischen Schriftzeichen zu lernen. Aber ich bin wohl etwas zu faul. In der Gemeinde spreche ich Deutsch, und ansonsten komme ich mit Englisch und einem „Überlebenschinesisch“ ganz gut durch, außerdem gibt es ja noch die Übersetzer-App auf dem Smartphone.

Einlass per Fotobeweis

Mindestens alle zwei Tage lese ich bei „Spiegel Online“ Fragen wie: Was wollen die Chinesen? Geschäfte oder Herrschaft, Augenhöhe oder Übermacht? Aber nur wenig fundierte Antworten. Kein Wunder, wir Europäer haben uns nie intensiv mit Asien auseinandergesetzt. Die Hälfte der Weltbevölkerung hat uns offenbar einfach nicht interessiert. Das ändert sich jetzt zwangsläufig und rasant. Es tut sich eine Wirtschaftsmacht im Osten auf, doch uns fehlen noch die Handwerkzeuge und die wirklichen Experten, diese zu interpretieren. Vorschnelle Ablehnung ist gewiss nicht der richtige Weg.

Natürlich gibt es im Alltag Dinge, an die sich unsereiner nur schwer gewöhnt. Das laute Spucken, das morgendliche Einkaufen im Schlafanzug und ein sehr hörbares Essgebaren. Das Chaos im Straßenverkehr. Eine für Deutsche oft anstrengende Flexibilität, etwa, wenn der Abwasserablauf mehrmals mit Klebeband fixiert wird, anstatt „richtig“ repariert zu werden.

Aber manchmal profitieren auch wir davon: Neulich stand ich vor dem Eingang zu einem Naturpark und hatte meine Zweitageskarte, die ich am Tag vorher gekauft hatte, vergessen. Der Guard zeigte auf meinen Fotoapparat, ich zeigte ihm die Bilder vom Vortag – schon war das Problem gelöst. Auch das ist Shanghai. Kommen Sie mal vorbei und schauen Sie, wie’s Ihnen hier geht!
 
Permalink

Eine derart abstoßende Stadt habe ich selten erlebt.
Die meißten, die in ihr leben müssen und entwurzelt sind, machen gute Miene zu bösem Spiel.
Was bleibt ihnen übrig, wenn sie für ihre Karrieren Kinder und Seelen aufgeben.
Wie sagte Theodor Wiesengrund Adorno doch einst so treffend: "ES GIBT KEIN WAHRES LEBEN IM FALSCHEN"
Auch diese Babylon wird fallen.
Es schön zu reden nur weil man aus der Provinz kommt und es so "schön bunt" ist, oder die zwiespältige Auslandszulage lockt, ist unwahr und rächt sich.
Aufgrund des Wohlstandsgefälles können sich die meißten Arbeitnehmer hier mehr leisten als zu Hause.
Endlich einmal "Bedeutung" haben aber vorsicht, der Schein trügt.
Diese Darstellung Shanghays ist sehr positivistisch und einseitig.
Da will der Pfarrer scheints verzweifelte Seelen locken.
Tun Sie es nicht.

Neuen Kommentar hinzufügen

Der Inhalt dieses Feldes wird nicht öffentlich zugänglich angezeigt.

Plain text

  • Keine HTML-Tags erlaubt.
  • Zeilenumbrüche und Absätze werden automatisch erzeugt.
Wählen Sie bitte aus den Symbolen die/den/das Skateboard aus.
Mit dieser Aufforderung versuchen wir sicherzustellen, dass kein Computer dieses Formular abschickt.