Anne Ackermann
Manchmal bin ich ein Engel
Ein Tag mit Lynette aus Kampala. Sie ist zehn,
liebt das Lesen und eine saubere Schuluniform.
Ihre Mutter lebt auf dem Land in Uganda,
aber allein ist Lynette nicht. Mit ihrer Freundin Hadija
bewohnt sie ein kleines Zimmer in ihrer Schule

Draußen ist es dunkel. Leise stehe ich auf. Hadija schläft tief und fest. Wir beide teilen uns das Bett. Aber ich bin morgens immer die Erste, die aufwacht. Der Boden ist hart und kalt. Ich knie mich trotzdem hin, das mache ich jeden Morgen. Ich falte die Hände und denke an meine Mutter. Sie lebt wieder in unserem Dorf, weit weg von hier, weil sie so krank ist. Asthma. Oder ist es der Virus, den so viele Leute haben? Mein Vater ist daran gestorben, das ist schon lange her. Ich bete, dass meine Mutter schnell wieder gesund wird. Ich glaub ganz fest daran, dass Gott auf mich aufpasst. Schließlich heiße ich mit Nachnamen Aturinda. Das bedeutet „Gott beschützt uns“. 

"You have to be neat!" sagt Miss Olivia

Ich bin zehn und wohne in meiner Schule. Zusammen mit Hadija und Jared, meinen zwei Freunden, die sind ein paar Jahre älter und wie meine Geschwister. Wenn der Unterricht aus ist, sind wir hier alleine. Na ja, fast, der Wachmann der Schule ist auch noch da.  Der Schulhof: Den Tag über spielen hier über tausend Kinder, aber frühmorgens gehört er noch mir. Der rote Sandboden ist kühl, es ist still. Am Wassertank waschen wir mittags immer unsere Teller ab. Jetzt drehe ich den Hahn auf und lasse das Wasser über meine Haut laufen, es ist kalt. Als ich ins Zimmer zurückkomme, ist Hadija auch aufgestanden. Ich creme mich ein. Meine Haut soll immer zart sein und gut riechen. „You have to be neat. You have to be smart“, sagt Miss Olivia immer, die Direktorin der Railway Children Primary School. Sie ist meine zweite Mutter, das ist sie wirklich. Wegen ihr darf ich hier sein. 

Auf dem Hof sind jetzt immer mehr Stimmen zu hören. Die anderen Schüler trudeln ein. Ich muss schnell machen, ziehe ­meine Schuluniform an und renne rüber in mein Klassenzimmer. Der Unterricht fängt eigentlich erst um acht Uhr an, aber um sieben Uhr haben wir Lesestunde. Das war Miss Olivias Idee. Hier im Stadtviertel können viele Kinder gar nicht lesen. Zu Hause kommen sie nicht dazu, in den engen Hütten, da hat man immer die Geschwister, Cousins, Tanten und Onkels um sich herum. Und wenn alle schlafen, gibt’s kein Licht. Deshalb lesen wir jetzt ­immer alle zusammen in der Schule. Ich liebe das! Die, die schon richtig gut sind, suchen sich einfach Bücher aus und setzen sich damit in die große Halle. Ich bin noch bei den anderen, wir üben zusammen mit den Lehrern im Klassenzimmer. Miss Olivia sagt, wir sind alle schon viel besser geworden.

Die Jungs neben mir nerven

Später im richtigen Unterricht ist unsere ganze Klasse zu­sammen, wir sind fast hundert Kinder. Auf den Holzbänken ­sitzen wir zu dritt, manchmal zu viert. Die Englischlehrerin hat Sätze an die Tafel geschrieben und neue Wörter, alles rund ums Thema „Music, Dance and Drama“. Sie sagt sie laut vor, wir sprechen sie im Chor nach. „Right everybody?“, fragt sie dann. Unsere Antwort, natürlich: „Right!“ Und wir dürfen Gedichte aufsagen. Wir melden uns fast alle. Wer drankommt, stellt sich hin, bevor er spricht. Die Jungs neben mir sind ziemlich laut. Sie sollen still sein, zische ich ihnen zu. Ich möchte jedes Wort verstehen. Ja, ich will gut sein in der Schule. Mama soll glücklich und stolz auf mich sein. Später will ich Lehrerin werden wie Miss Olivia. Oder Ärztin? Ich weiß noch nicht so genau. Hadija will das werden. Sie möchte den Kranken helfen. Ihre Eltern sind an dem Virus gestorben.

Frühstückspause ist um halb elf. Die Sonne brennt. Ich habe Hunger, alle anderen auch. Wie fast immer gibt es Porridge: Haferflocken mit Wasser. Zucker gibt’s heute keinen dazu. Vor der Essensausgabe auf dem Schulhof ist eine lange Warteschlange. Einige Schüler schubsen und drängeln und trommeln auf ihre Plastikbecher. Von weitem sehe ich Jared. Heute Nacht hat er ­wieder kaum geschlafen. Schlimme Träume, sagt er. Jared ist 13, er hat auch keine Eltern mehr. Für mich und Hadija ist er unser Bruder. Wir drei halten echt immer zusammen. Manchmal denke ich, dass sich für mich doch alles zum Guten gewendet hat. Früher konnte ich nicht zur Schule, weil ich Mama gepflegt habe. Da wohnten wir noch alle in Kampala. Dann ging sie mit meiner kleinen Schwester ins Dorf zurück. Ich sollte hierbleiben und etwas lernen, das wollte sie unbedingt. Manchmal fühle ich mich wie ein Engel. Dann bin ich glücklich, mit der Schule, mit meinen Freunden und mit den Büchern, die ich lesen kann.

Alle rennen nach Hause - wir bleiben hier

Mittags haben wir eine Stunde frei. Wenn man aus dem kühlen Klassenzimmer kommt, ist der Hof schon richtig heiß. Es gibt ­Bohnen mit Reis, wieder stellen wir uns alle an. In den Ferien habe ich oft Kochbananen gegessen, die waren gut! Sowieso ­waren das tolle Ferien. Ich durfte bei Miss Olivia wohnen, in ­ihrem großen Haus mit dem grünen Garten! Sonst hätte ich ­nirgends hingekonnt. Hadija war bei ihrer Tante und Jared bei seinem Onkel. Ich wäre ganz allein in der leeren Schule gewesen.

Heute hatten wir zehn Fächer: Mathe, Englisch, Lesen, Schreiben, Religion, Sport, Kunst und Handwerk, Musik, mündliche Lite­ratur und Bibliothekskunde. Alles wird übrigens auf Englisch unterrichtet, wir sprechen das mittlerweile ziemlich gut. Die meis­ten Schüler sind so wie ich, sie lernen gerne. Aber wenn um fünf Schluss ist, rennen trotzdem alle los. Raus aus dem Tor. Dann gehört die Schule wieder uns dreien.

Als Erstes wasche ich dann meine Uniform, die muss ich ja morgen wieder anziehen. You have to be neat . . . Hadija fegt unser Zimmer. Es ist klein, aber sauber. Wir putzen es jeden Tag. Früher, als Mama noch gesund war, hat sie auch immer geputzt. Bei reichen Leuten, dafür hat sie Geld bekommen und Essen gekauft. Wenn andere Kinder uns besuchen, sagen sie oft, dass wir ein richtig schönes Zuhause haben. Ich finde das auch.

Kerze an und lesen 

Hadija kocht Bohnen in dem kleinen Ofen draußen auf dem Hof. Wir bekommen zum Abendessen immer das, was in der Schulküche übrig bleibt. Als es dann später dunkel ist, gehe ich noch einmal auf den Schulhof. Ich will mir am Wassertank den Staub abwaschen. Die Moskitos sirren an meinem Ohr vorbei. Ich fühle mich ein bisschen verlassen. Die Stille ist jetzt anders als am Morgen.

Drinnen in unserem Zimmer zünde ich eine Kerze an und krieche ins Bett neben Hadija. Jared hat seine Matratze in einem der Klassenräume ausgerollt. Ich lese noch ein bisschen in „Anne auf Green Gables“. Da geht es um ein Mädchen ohne Mutter und Vater, die zu Adoptiveltern muss. Sie findet Freunde und gewöhnt sich nach und nach an ihr neues Leben. Es ist ein bisschen so wie bei mir, finde ich.

Das Buch hat mir Hadija gekauft. Als sie einmal auf dem Markt 40 000 Schilling verdient hat. Sie hat Heuschrecken die Flügel abgezupft. Das macht man, damit man sie frittieren kann, das ist eine Spezialität bei uns. „Anne auf Green Gables“ ist mein einziges Buch, und ich liebe es. Ein paar Minuten noch lesen, dann mache das Licht aus und kuschle mich an Hadija. Ich bin auf einmal ganz froh. Morgen werde ich Mama einen Brief schreiben und ihr erzählen, was ich alles Neues gelernt habe.

 

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