"Wer schweigt, hilft den Tätern"
Leoluca Orlando, geboren 1947 in Palermo, war fast fünfzehn Jahre Oberbürgermeister seiner Stadt. Im Amt stoppte er Aufträge an Firmen, die unter Mafiaverdacht standen. An Schulen und anderen öffentlichen Einrichtungen warb er für ein Leben in Legalität. Heute ist er Parlamentsabgeordneter in Rom und unterstützt Politiker in aller Welkt im Kampf gegen die Mafia. Orlando lebt seit 25 Jahren unter Personenschutz.
Foto: Privat
07.10.2010

Herr Orlando, haben Sie noch so viel Energie wie vor 25 Jahren?

Ja, sonst würde ich nicht mehr kämpfen. Die Zeit als Oberbürgermeister von Palermo gehört zu den wunderbarsten Erfahrungen in meinem Leben. Heute schule ich Politiker in Kolumbien im Kampf gegen organisierte Kriminalität. Einer meiner Zöglinge, Antanas Mockus, schaffte es im Juni immerhin bis zur Stichwahl zum Präsidenten. Aus so etwas ziehe ich meine Kraft.

Was sagen Sie den Politikern, die Sie beraten?

Die Bevölkerung braucht Zivilcourage. Das ist die wichtigste Waffe im Kampf gegen organisiertes Verbrechen. Polizei und Gerichte alleine schaffen das nicht. Anders als gewöhnliche Verbrecher leben die Täter aus der organisierten Kriminalität mitten in der Gesellschaft und werden von ihr geschützt und unterstützt. Jeder, der schweigt, ist Freund der Mafia. Man kann organisierte Kriminalität also nur von innen heraus besiegen. Ich nenne dieses Modell einen sizilianischen Karren. Er hat zwei Räder: das Justizsystem und die Gesellschaft. Nur wenn sich beide im gleichen Rhythmus drehen, fährt der Karren geradeaus.

Warum haben Sie den Kampf gegen die Mafia überhaupt aufgenommen? Es sind die kleinen Ereignisse, die die

Menschen verändern. Ich erinnere mich an zwei: Als ich als junger Mann nach Heidelberg zog, um dort zu studieren, fragten mich die Deutschen: "Woher kommst du?"' Ich antwortete: "Aus Italien." Sie fragten weiter: "Wo aus Italien?" Ich antwortete: "Aus Sizilien." Da sagten sie: "Sizilien? Ach, die Mafia! " Das war in den 60er Jahren. Sizilien war wegen der Mafia weltbekannt, und bei uns zu Hause sprach niemand über sie, da herrschte die Omertà, das Schweigen. Das gab mir zu denken, das wollte ich ändern. Ein zweites Erlebnis: Zum Abitur - ich hatte das beste in ganz Italien - schenkten mir meine Eltern eine Reise nach London. Dort in der Tate Gallery lernte ich eine junge Sizilianerin kennen. Wir sprachen lange über Philosophie. Nach zwei Stunden fragte sie mich: "Du bist Sizilianer, ja - und was machst du gegen die Mafia?" Diese beiden Fragen, "Woher kommst du?" und "Was machst du?", haben mein Leben verändert. Und die Sizilianerin aus der Tate Gallery ist heute meine Ehefrau.

Stehen Sie noch auf der Todesliste der Mafia?

Nein, das glaube ich nicht. Aber ich bin immer noch einer der bestbewachten Männer Italiens. Wer mich besucht, wird permanent gefilmt. Ein System von Kameras nimmt ständig die Umgebung und die Räume meines Hauses auf.

Haben Sie Angst?

Natürlich! Keine Angst zu haben, wäre übermenschlich. Aber vor lauter Angst nicht mehr zu leben, wäre unmenschlich. Man gewöhnt sich daran, im gepanzerten Wagen zu fahren. Als ich ins italienische Parlament in Rom gewählt wurde, habe ich dort die ersten Jahre in einem Zimmer in einer Polizeikaserne gelebt. Wenn ich in Bogotá bin, wohne ich in einem Raum ohne Fenster. Als ich in Kolumbien einmal nach Granada geflogen bin, im Helikopter, wurden wir von Maschinengewehrsalven begrüßt. Der Hubschrauber war zum Glück weit genug weg und konnte umkehren. Ich bin Ehrenbürgermeister der kolumbianischen Stadt Palermo. Dorthin zu reisen, wäre für mich aber lebensgefährlich. Einmal wurde ich hier, im italienischen Palermo, per Helikopter zum Flughafen gebracht, mit dem Auto wäre es zu gefährlich gewesen. Als ich dort in meine Maschine nach Rom stieg, war sie voller Polizisten: In demselben Flugzeug wurde auch ein verhafteter Mafiaboss ausgeflogen - ein Koordinationsfehler. Heute kann ich darüber lachen.

1992 ermordete die Mafia zwei Richter: Giovanni Falcone und Paolo Borsellino. Danach haben Sie gesagt, Sie hätten Schuldgefühle, weil Sie noch am Leben sind. Sehen Sie das heute auch noch so?

Nein. Heute bin ich dankbar, am Leben zu sein. Ich danke allen, die mich beschützen. Meinen Leibwächtern und allen, die mich gewählt und dadurch das Schweigen gebrochen haben. Wegen all dieser Menschen bin ich noch am Leben. Die Mafia kann einen Menschen ermorden oder zehn oder hundert, aber nicht alle. Sie kann nicht die ganze Bevölkerung töten. Sie braucht ja ihren Schutz.

Sie haben Ihre Familie einer großen Gefahr ausgesetzt.

Nach der Ermordung von Falcone und Borsellino sollte ich der Nächste sein. Da haben wir beschlossen, meine Frau und unsere beiden Töchter aus meinem Leben rauszuhalten. Ich bin kein einziges Mal mit ihnen öffentlich aufgetreten. Nie waren wir zusammen essen, nie war ich mit meinen Töchtern im Kino. Niemand kennt sie. Unsere Töchter lebten sogar einige Zeit in Griechenland.

Ihre Töchter meiden Sizilien?

Sie sind aus Italien weggezogen, ebenso meine Nichten und Neffen, insgesamt fünf junge Leute. Sie leben in Grenoble, Berlin, Bukarest und Quebec. Sie werden nie zurückkehren. Meine Enkelinnen werden nicht Italienisch schreiben lernen. Das macht mich sehr unglücklich, aber ich verstehe es. Als wir in der Familie darüber sprachen, war meine einzige Frage: Gibt es Direktflüge nach Grenoble und Quebec?

Wer es sich leisten kann, zieht weg?

Aus Sizilien sind immer alle weggezogen. Das hat eine lange Tradition. Manche sagen auch: Die Besten sind immer gegangen. Das stimmt aber nicht. Richtiger ist: Die, die weggezogen sind, konnten etwas werden. Die, die geblieben sind, wurden nach ihrer Zugehörigkeit bewertet, nicht nach ihrer Begabung. Das wollen meine Töchter nicht. Sie wollen frei sein. Sie wollen nicht in einem Land leben, wo Zugehörigkeit das Leben regelt.

Zugehörigkeit zur Familie?

Ja, so etwas Ähnliches. Familie, Freundschaft, kulturelle Identität, das sind Werte, die die Mafia pervertiert hat. Kann man auf Sizilien noch seine Familie lieben, seinen Freunden treu sein, kann man sich noch als Sizilianer fühlen? Ich sage ja, auch wenn es schwierig ist. Das geht nur, wenn man zwei andere Werte über alles stellt: Freiheit und Identität. Man muss sich die Freiheit bewahren, eine eigene Identität aufzubauen und selbst zu entscheiden, wer man ist und wohin man gehört, als Individuum und als Gemeinschaft. Und man muss sich die Freiheit bewahren, zu Freunden und zur Familie Nein zu sagen. Ein Mafioso sagt: Mein Freund hat etwas Schlechtes getan, aber er ist und bleibt mein Freund. Das ist nicht richtig. Ich war immer gegen dieses Verständnis von kultureller Zugehörigkeit.

Haben Freunde Sie verlassen?

Ja. Das ist ganz normal. Ich war ja nie ein Boss, ich war immer ein Anführer. Ein Boss kennt seine Anhänger, teilt mit ihnen Interessen, verspricht ihnen Sicherheit für die Gegenwart. Ein Anführer kennt seine Anhänger nicht, spricht zu ihrem Kopf und zu ihrem Herzen und gibt ihnen Hoffnung. Zum Anführer kommen und gehen Leute, denn sie sind frei. Ein Boss bindet seine Gefolgsleute an sich und nimmt ihnen ihre Freiheit.

Wie lange kämpfen Sie noch gegen organisierte Kriminalität?

Solange ich die Hoffnung habe, noch etwas verändern zu können. Es hat sich ja schon viel verändert. Es gibt eine neue Generation von Antimafiakämpfern. Sie verweigern das Schutzgeld, sie bestellen Land, das von inhaftierten Mafiabossen beschlagnahmt wurde und provozieren damit die früheren Besitzer. Dazu braucht man Überzeugung und Mut. Manche Ländereien wurden abgebrannt und die Geräte zerstört. Trotzdem wächst die Bewegung gegen die Mafia.

Sie könnten sich auch zurückziehen.

Vielleicht ziehe ich nach Georgien, da kann man mit 500 Euro wie ein König leben. Dort werde ich Käse essen, Wein trinken und Lieder schreiben. Oder ich bewerbe mich noch einmal um das Amt des Oberbürgermeisters von Palermo. Eins steht fest: Solange ich die Hoffnung habe, etwas verändern zu können, mache ich weiter.

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