Zurück nach Srebrenica, wo ihre Peiniger leben. Eine Bosnierin berichtet, wie eine neue Liebe alte Wunden heilt
07.10.2010

Erst neulich hatte ich wieder so eine Begegnung. Frühmorgens, der Hund bellte, ein Mann stand vor der Tür. Mein Gatte Erwin öffnete ihm. Der Mann wollte unseren Stromzähler ablesen. Vom Hinterzimmer aus habe ich ihn sofort wiedererkannt. Als er ging, erzählte ich Erwin die Wahrheit über den Stromableser: Er war einer der Serben, die mich im Bosnienkrieg aus meinem Haus gejagt haben.Solche Begegnungen sind wie Alpträume. Dann kommen die Erinnerungen wieder. 8000 Muslime, vor allem Männer, sind im Juli 1995 in Srebrenica von den bosnischen Serben getötet worden. Viele Frauen, die ihre Männer verloren haben, kehren nicht wieder nach Srebrenica zurück. Weil sie befürchten, dass sie dann den Tätern auf der Straße begegnen. Die Älteren haben auch Angst, von serbischen Ärzten behandelt zu werden. Das Misstrauen sitzt tief - auch 15 Jahre danach.

Die jungen Leute gehen unbeschwerter mit der Geschichte um, egal, zu welcher Bevölkerungsgruppe sie gehören. Sie waren noch nicht geboren oder zu jung, um das alles zu verstehen. Wir leben an einer Hauptstraße, und bei Hochzeiten fahren die jungen Serben hier mit ihren Autos vorbei und halten ihre Fahnen aus dem Fenster oder zeigen den Dreifingergruß. Der steht für die Dreifaltigkeit der serbisch-orthodoxen Kirche. Ihnen ist nicht bewusst, was wir Muslime in Srebrenica durchgemacht haben. Ich führte ein schönes Leben damals, vor dem Krieg. Ich war Abteilungsleiterin in einem Kaufhaus, zehn Angestellte waren mir unterstellt. 1992, als der Krieg begann, drangen zwei junge bosnische Serben in mein Haus ein, mit Gewehren, einer von ihnen war der Stromableser. Sie erlaubten mir nur, meine Tasche mit dem Pass zu greifen. Ich bin im Jogginganzug geflüchtet.

Drohbrief im Briefkasten

Meine Flucht führte mich nach Österreich. Und auf einer Parkbank in Wien lernte ich Erwin kennen, einen Österreicher. Er ist viel herumgekommen, er hat fünf Jahre in der französischen Fremdenlegion gegen die Guerilla in Marokko gekämpft. Als ich ihn traf, war er Junggeselle. Auch ich war unverheiratet. Dabei waren wir beide nicht mehr die Jüngsten, er Jahrgang 1933, ich 1945. Er besuchte mich täglich im Flüchtlingsheim und brachte mir Geschenke mit - Wasserkocher, Schuhe, einen Fernseher. Dann heirateten wir. Und ich wollte wieder zurück.

Aber in meinem Haus lebte seit dem Krieg eine serbische Familie. Obwohl ich sie von früher kannte, verweigerten sie mir eine Rückgabe. Jahrelang stritt ich um mein Haus. Als ich es endlich wiederbekam, war es komplett leer geräumt - selbst die Kloschüssel und die Steckdosen hatten sie abmontiert.Kurz nach unserem Einzug klingelte das Telefon. Jemand drohte, einen Brandsatz in unser Haus zu werfen. Dann lag ein Drohbrief im Briefkasten. Sie wollten uns wieder loswerden. Wir gingen zur Polizei. Es kam heraus, dass ein Nachbar dahintersteckte. Aber wir haben uns nicht entmutigen lassen.

Während in vielen Hausfassaden noch Einschusslöcher sind, sieht unser Heim jetzt wieder gut aus. Dank Erwin. Er fängt gerne bei null an. Er repariert ständig was. Auch im Stadtzentrum wird gebaut: ein neues Hotel. Früher war Srebrenica wegen seiner Heilquellen ein bekannter Kurort. Ob die Touristen wohl wiederkommen? Ich gehe jetzt öfter zu den Heilquellen. Denn ich habe angefangen, jeden Tag einen Spaziergang zu machen. In den vergangenen Jahren lebte ich recht zurückgezogen. Aber ich muss in Bewegung bleiben!

Wenn ich durch die Stadt gehe, sehe ich viele fremde Gesichter. Das sind die Zugezogenen, meist Serben; Srebrenica wurde ja nach dem Krieg der Serbischen Republik Bosnien zugeschlagen. Beim Spazierengehen spüre ich, wie sehr ich an Srebrenica hänge, trotz des Wandels. Meine Familie lebt schon seit 500 Jahren hier, meine Eltern liegen hier begraben, ich kann ihre weißen Grabsteine aus dem Wohnzimmerfenster sehen. Ich bin keine strenggläubige Muslimin, aber ich sage: Ich bleibe! Nur Gott kann mich aus dieser Stadt holen!

Protokoll: Nicholas Brautlecht

Neuen Kommentar hinzufügen

Der Inhalt dieses Feldes wird nicht öffentlich zugänglich angezeigt.

Plain text

  • Keine HTML-Tags erlaubt.
  • Zeilenumbrüche und Absätze werden automatisch erzeugt.
Wählen Sie bitte aus den Symbolen die/den/das Schiff aus.
Mit dieser Aufforderung versuchen wir sicherzustellen, dass kein Computer dieses Formular abschickt.