Axel Martens
Eltern, seid doch nicht so nett
Seien Sie doch nicht so nett! Es darf ruhig krachen in der Pubertät, sagen der väterliche Familientherapeut und die aufmüpfige Tochter.
Hedwig Gafga, Autorin
Tim Wegner
22.12.2010

Frau Akbas, Sie ziehen an diesem Wochenende in Ihre erste ­eigene Wohnung. Sind Sie jetzt erwachsen?

Melda Akbas: Ich nehme noch nicht richtig wahr, dass ich eine Wohnung habe, weil ich die ganze Zeit unterwegs bin. Und manchmal bin ich doch noch auf meine Eltern angewiesen wie gerade jetzt. Ich hatte unterwegs meine Bankkarte verschlampt und musste Mama anrufen, damit sie für mich eine Überweisung tätigt. Das Erwachsenwerden entwickelt sich, es ist nicht mit dem Auszug getan. Aber er ist ein Schritt.

Erinnern Sie sich noch daran, wie Ihr Sohn ausgezogen ist?

Jesper Juul: O ja. Ich habe ihn mit allen seinen Klamotten weg­gefahren, und das war für uns beide ein sehr schöner Tag.

Akbas: (lacht) Das werden meine Eltern anders sehen.

Juul: Er war fast 18, und es war Zeit für mich, nicht mehr 24 Stunden am Tag Vater zu sein.

Waren Sie 24 Stunden Vater?

Juul: Klar. Kinder nehmen einen großen Platz in unserem Bewusstsein ein. Wenn sie weg sind, entsteht das Gefühl: Jetzt habe ich 60 Prozent mehr Kapazität zur Verfügung.

Akbas: Hat sich Ihr Sohn die Wohnung selbst finanziert?

Juul: Ja.

Akbas: Wirtschaftliche Unabhängigkeit ist ein starker Punkt. Als ich mir mit meinem selbst verdienten Geld meine Kleidung ­kaufen konnte, konnten mir meine Eltern nicht mehr sagen: Trag keine Miniröcke!

Juul: Ich fuhr mit 16 Jahren zur See und verdiente mein eigenes Geld. Man kann aber auch bei seinen Eltern wohnen und er­wachsen werden. Es kommt vor allem darauf an, dass man Verantwortung für sein eigenes Leben übernimmt, dass man mit dem weiter­geht, was man von seinen Eltern bekommen hat. Egal ob es gut oder schlecht war oder beides, ich bin für den Rest meines Lebens dafür verantwortlich. Vielleicht waren meine ­Eltern furchtbar, vielleicht ist mein Leben furchtbar, ich bin ­trotzdem dafür verantwortlich.

Wie lernt man, selbst Verantwortung zu übernehmen? Indem man die Kleider selbst bezahlt?

Akbas: Ich schon. Meine Freundin musste sich ihre erste große Reise selber finanzieren. Das war die Bedingung ihrer Eltern. Da hat sie das erste Mal auf etwas zugespart.

Sie haben als Teenager eine Art Doppelleben geführt. Zu Hause verhielten sie sich anders als draußen.

Akbas: Das klingt mir zu sehr nach James Bond. Es war zweischneidig: In der Schule war ich die Melda, die offen war, die kein Problem hatte, über Miniröcke, Sex oder Partys zu reden. Zu Hause wurden die Themen peinlich unter den Tisch gekehrt. Das war schwierig für mich.

Die deutschen Eltern sind verdammte Romantiker

Sind Sie deswegen böse auf Ihre Eltern?

Akbas: Nein. Wenn ich in meinem Leben so weit gekommen bin, dann auch, weil meine Eltern mich so erzogen haben. Ich musste kämpfen. Meine Eltern haben mir Grenzen gesetzt, mich aber auch zur Selbstständigkeit erzogen.

Viele Pädagogen kritisieren, dass Kindern in Deutschland zu wenig Grenzen gesetzt würden. Sind strenge Eltern wie die ­Eltern von Frau Akbas besser fürs Erwachsenwerden?

Juul: Es gibt nicht das Bessere. Man kann ein Familienleben ohne die alten Tabus gestalten, aber dann gibt es neue. Jede Generation muss ihre eigene Identität finden. Ein türkisches Mädchen hat es dabei viermal schwerer, weil es den Spagat zwischen zwei Kulturen lernen muss. Clevere türkische Eltern bereiten ihre Kinder darauf vor. Diese jungen Frauen werden in zehn Jahren auf allen Führungsposten unserer Gesellschaft sitzen, weil sie so unheimlich stark, begabt und voller Energie sind.

Obwohl sie es als Kinder so schwer haben?

Juul: Diese deutsche Idee, dass Kindheit romantisch oder nett oder süß sei, das ist Quatsch. So ist Kindheit nicht, so ist das Leben nicht. Diese Barbie-Kinder der letzten zehn Jahre, die von den Eltern in Baumwolle eingepackt werden, nennen wir in Dänemark die Curling-Kinder. Die Eltern rennen vorweg, um jede Unebenheit zu beseitigen, damit bloß nichts wehtut, wie auf der Eisbahn. In Skandinavien sind wir da noch schlimmer. Wir ­haben die letzten achtzehn Jahre mit Kindern so gelebt, dass der Anteil der 14- bis 19-Jährigen, die große Schwierigkeiten mit Depressionen, zerstörerischem Verhalten bis hin zum Selbstmord haben, um 380 Prozent gewachsen ist. Die Eltern haben alles für sie gemacht, aber davon wird man nicht lebensfähig. Man braucht Schmerz, man braucht Frustration. Ich weiß, wovon ich rede, ich habe heute den Tag mit 14 deutschen Eltern in einem Seminar verbracht. Ihr Deutschen seid alle verdammte Romantiker!

Akbas: Meine Tante sagt: Deutsche sind harmoniesüchtig.

Juul: Und das in einer sehr selbstzerstörerischen Art und Weise, weil alle großen Gefühle verboten sind. Man darf ein bisschen traurig sein, ein bisschen wütend. Aber bitte nicht hauen. Man darf nur kleine Gefühle haben. Unsere Klaviatur für Gefühle reicht aber weit, und es ist furchtbar wichtig, dass wir unsere Emotionen sehr gut kennenlernen. Da haben wir nun diese ­Barbie-Puppen, die das überhaupt nicht schaffen. Ich will nicht entscheiden, ob liberal oder konservativ besser ist. Ich will nur sagen: Wenn man unter solchen Umständen wie Frau Akbas ­aufwächst, mit Eltern, die trotz allem flexibel waren...

Akbas: Lass ich so stehen...

Juul: ...und nicht: Jetzt bist du nicht mehr meine Tochter...

Akbas: Nee, das haben meine Eltern nie gemacht.

Juul: ...dann hat man gute Chancen, erwachsen zu werden. Man muss dafür arbeiten. Jeder Schritt kostet. Viele deutsche Kinder müssen sich kaum noch was erarbeiten.

Akbas: Als ich mein Buch schrieb, hatte ich natürlich Angst, dass meine Eltern sagen: Du bist nicht mehr unsere Tochter. Auch wenn das abwegig war, die Angst steckte in mir. Ich hab das Buch trotzdem geschrieben, weil ich wusste: Egal wie schlimm dieses Buch für sie ist, meine Eltern werden zu mir zurückkommen.
Aber es gab auch schwere Zeiten, in denen Sie krank geworden sind. Hätten Sie sich manchmal etwas anderes gewünscht?

Akbas: Immer. Ich dachte: Warum muss ich das durchmachen, und meine deutsche Freundin hat keine Probleme? Auf der an­deren Seite habe ich gelernt, mich zu behaupten. Ich musste um Kleinigkeiten streiten. Einmal habe ich mich so mit meiner Mutter gestritten, dass ich ein ganzes Wochenende lang weder mit ihr noch mit meinem Papa ein Wort gewechselt habe, noch nicht mal, um nach der Butter zu fragen. Da bin ich lieber um den Tisch gelaufen und hab sie mir selbst geholt. Nach diesem Wochenende gaben sie nach. Es ging darum, dass ich bei einer Freundin übernachten wollte. Das durfte ich dann. Aber ich hab vorher jeden Abend geheult.

Juul: Das bestätigt meine These: Erziehung geht in diesem Alter nicht mehr. Nach zwei Tagen mussten die Eltern einsehen, dass sie ihre Ansichten nicht mehr gegen ihre Tochter durchsetzen können. Ich schlage Eltern vor, sich ihren Kindern als Sparringpartner anzubieten. Sie sagen ihre Meinung, die Kinder setzen ihre eigene dagegen. Wichtig ist, dass Eltern bereit sind nachzudenken.

Akbas: Meine Eltern sind mit uns Kindern gewachsen.

Glauben Sie wirklich, Herr Juul, dass Erziehung mit Beginn der Pubertät nicht mehr möglich ist?

Juul: Wir haben zehn Jahre Zeit, um mit unseren Kindern zu arbeiten. Mit zwölf Jahren ist es vorbei. Danach weiter über das Leben der Kinder zu bestimmen, ist Eltern nie gelungen, auch nicht, als ich Kind war. Wir Jungs hatten ein richtiges Doppel­leben. Hätten meine Eltern gesehen, was ich draußen machte, hätten sie sich wahrscheinlich umgebracht. So ist es im autoritären System. Das Wunderbare ist: Es gibt Autoritäten, die mit ihren Kindern wachsen. An einem Punkt sind sich deutsche und türkische Eltern ähnlich: Die sehen auf der Straße die Jugendlichen mit sechs Haarfarben und zehn Piercings, und sie wollen solche Kinder nicht haben.

Mach was du denkst - einfach nur eine faule Ausrede

Aber sie lassen sie gewähren.

Juul: Es gibt heute viele Eltern, die den Weg des geringsten ­Widerstands gehen. Das ist für alle gefährlich, besonders für die Beziehung zwischen Eltern und Jugendlichen. „Mach, was du denkst“, darin drückt sich nicht Freiheit aus, sondern Faulheit. Das sagen faule Eltern.
Wenn Erziehung nicht mehr geht – das kann man auch so verstehen, dass es keinen Sinn mehr hat, sich mit Kindern in der Pubertät auseinanderzusetzen.

Juul: So ist es nicht gemeint. Ich erkläre ganz genau, was Er­ziehung bedeutet. Erziehung ist Manipulation. Wenn jemand sagt: Ich bin dein Vater, ich kann über dich bestimmen, in Bezug auf Religion, Kultur, auf allen Gebieten. Diese Art der Erziehung ist mit der Pubertät vorbei. Entscheidend ist, was in der Be­ziehung zwischen Eltern und Kindern geschieht. Eltern sollen sagen, was sie für richtig halten, wofür sie stehen. Dann können sich die Kinder entscheiden. Wenn ein 13-Jähriger seine Eltern mit seinem Standpunkt konfrontiert und manches nicht mehr mitmacht und trotzdem Mitglied dieser Familie bleibt, das ist Freiheit.

Akbas: Als ich in der achten Klasse auf Klassenfahrt war, haben wir uns eine Flasche Wodka gekauft und sie ausgetrunken. Aber für mich gibt es, was Alkohol angeht, eine Grenze. Wenn ich nicht mehr weiß, was ich getan habe, und mir andere das erzählen müssen, finde ich selber das nicht gut. Das hat nichts mit meinen Eltern zu tun. Das hab ich bei Freundinnen erlebt. Deswegen mache ich es nicht. Dieses Selbstbewusstsein, herauszufinden, ob ich eine Sache selber will oder ob meine Eltern das wollen oder ob ich nur aus Gruppenzwang mitmache, dieses Selbstbewusstsein haben mir meine Eltern beigebracht. Ich war auch mal sturzbesoffen und wurde von meiner Tante abgeholt und gepflegt.

Was sagen Sie Eltern, die in so einem Moment panisch reagieren, weil sie Angst um ihr Kind haben?

Juul: Wenn man wirklich Drogen, Alkohol und Gewalt vorbeugen will, muss man das in den ersten zehn Lebensjahren tun. Da wird das Fundament gelegt.

Sagen Sie diesen Eltern: Es ist zu spät?

Juul: Es ist zu spät.

Aber viele Jugendliche schaffen es doch, von Drogen oder Gewalt wieder wegzukommen.

Juul: Natürlich. Aber das kommt nicht von den Eltern.

Akbas: Die Eltern können ab einem bestimmten Alter für das Kind nur noch da sein. Man verstößt sein Kind ja nicht, auch wenn es etwas falsch macht. Man zeigt ihm, dass man es trotzdem akzeptiert.

Juul: Sie haben mit Alkohol Erfahrungen gemacht und Ihren Weg gefunden. Die Fähigkeit dazu ist sehr früh gegründet in dem, was wir Selbstgefühl nennen. Die Fähigkeit zu wissen, was gut für mich ist und was nicht, was ich will und was nicht.

In den Religionen spielen Regeln und Gebote eine wichtige ­Rolle. Stärkt Glaube in der Pubertät oder hemmt er?

Akbas: Wenn die Eltern die Einhaltung der Gebote einfordern, der Jugendliche das aber ablehnt, behindert ihn das eher. Wenn es freiwillig geschieht, ist es etwas anderes. Ich habe mir meine eigenen Regeln gesetzt. Ich bin zwar gläubig, aber nicht religiös. Ich glaube an Gott und den Propheten und das Buch, aber ich halte es nicht für zwingend, fünfmal am Tag zu beten oder ein Kopftuch zu tragen. Darüber entscheide ich selber. Ich sehe keine Gefahr für meinen Glauben, wenn ich das nicht tue.

Herr Juul, Sie kennen das vierte Gebot: Du sollst Vater und ­Mutter ehren. Können Sie damit etwas anfangen?

Juul: Das Gebot sollte man neu formulieren. Es sollte heißen: Du sollst dein Kind ehren. Das bedeutet: Eltern sollten ihre politischen und religiösen Wertvorstellungen vor ihren Kindern vertreten, weil Kinder in der Pubertät etwas brauchen, mit dem sie sich vergleichen können, sie brauchen einen Maßstab. Das ist so, wie wenn meine Frau und ich ausgehen wollen, und meine Frau sagt: Ich hab keine Ahnung, was ich anziehen soll. Was denkst du? Dann sage ich: das rote Kleid. Dann treffe ich sie in einem blauen. Frauen verstehen diese Logik. Man braucht den Austausch und den Vergleich, bevor man seine Entscheidung trifft.

Sie schreiben, Deutsche sagen „Ich möchte“ statt „Ich will“. Warum finden Sie „Ich will“ besser?

Juul: „Ich möchte“ klingt nett. Aber diese soziale Sprache lernen Kinder sowieso beim Bäcker, beim Metzger, in der Schule. Wir Eltern müssen unsere Kinder eine persönliche Sprache lehren: „Ich will“ oder „Ich will nicht“. Sonst entsteht keine Beziehung, die Beziehung ist leer. Eltern fragen mich oft, wie sie das Kind so hinbekommen, dass es so wird, wie sie es sich vorstellen. Das sind nette Eltern. Sie haben dieses kinderfreundliche Lächeln.

Aber wenn Oma da ist, darf man doch höflich sein und auf Schimpfwörter verzichten?

Juul: Wenn alles überzuckert ist, muss jemand Säure darauf ­gießen. Eltern machen sich nicht klar, dass dieses Rollenspiel – dieses Immer-Nettsein – für die Kinder furchtbar ist.

Akbas: Die müssen Emotionen erkennen können. Sie müssen erkennen können, wann es Ärger gibt, wann Leute traurig sind, wann man Spaß haben kann. Wenn man immer darauf bedacht ist, adäquat zu reagieren, damit niemand komisch guckt, dann färbt das aufs Kind ab. Wenn man sich freut, springt man nun mal auf und umarmt sich.

Wie kommt eine Familie aus dem Nur-Nettsein heraus?

Juul: Ganz einfach: Werdet erwachsen! Sagt: Ich bin Mutter oder Vater meiner Kinder. Ich entscheide. Nicht mein Nachbar, nicht meine Mutter, nicht meine Geschwister.

Akbas: Das sieht man an meinen Eltern. Sie müssen sich nach dem Erscheinen meines Buches in ihrem Umfeld behaupten, weil sie von allen Bekannten deren Meinungen zu hören bekommen, auch negative. Besonders wohl mein Vater. Aber meine Eltern vertreten die Einstellung: Es kann euch doch egal sein, wie wir unsere Kinder erziehen.

Sind Ihre Eltern stolz auf das Buch?

Akbas: Ja, natürlich. Mein Papa schneidet heimlich Zeitungs­artikel aus und reicht sie an meine Mama weiter.

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