Wenn alle mitspielen, dann geht das schon. Dann kann man fast genauso leben, wie man es sich wünscht. Stefanie T., 33, und ihr Mann Frank, 38, haben sechs Kinder, viele Tiere, jeder einen Beruf, ein schönes Haus und nicht viel Geld
13.12.2010

Finchens Lieblingswort ist: „Nein.“ Finchen, wo hast du denn deine Schuhe ausgezogen? „Nein!“

Komm, sagt Finchens Vater, dann nehmen wir die Gummistiefel. Und wir ziehen dir die Jacke an.
„Nein.“
Doch.
„Okay.“
Finchens Schuhe finden sich später im Wäscheraum, zwei Stockwerke höher, neben dem Trockner. Die Gummistiefel stehen dort, wo alle, die heute von draußen reinkommen, ihre Schuhe gelassen haben: am Nebeneingang, auf dem kürzesten Weg vom Pferdestall. Irgendjemand hat an der Tür alle Schuhe, und es sind viele, sehr ordentlich aufgereiht. Frank T., 38, lacht. Seltsam. Wer war das bloß? Josefine, genannt Finchen oder auch Frau Müller, zweieinviertel Jahre alt, eine verwuschelte blonde Prinzessin mit einer Vorliebe für Rosa, sicher nicht.
Vielleicht Yannis. Yannis hat heute lange geschlafen, es sind Ferien. Wer hier bis halb acht nicht aus den Federn kommt, der braucht auf einen gedeckten Frühstückstisch nicht zu hoffen. Stefanie T. arbeitet schon, man findet sie dann draußen im Stall, und Frühstück findet man im Kühlschrank. Der Kühlschrank ist groß, aber auch nur um ein Viertel größer als ein normaler großer Kühlschrank. Er ist proppenvoll, drei Paletten Joghurt, eingeschweißte Wurst, Käse, Margarine. In der Küche gibt es eine kleine Trittleiter, damit kommt Yannis bis an den Joghurt, und wenn Finchen draufklettert, hat sie die richtige Höhe für die Arbeitsplatte.
Yannis, 8, ist in der dritten Grundschulklasse, er ist sozusagen der Größte von den Kleinen. In einer so großen Familie kann man die Kinder schon mal in Gruppen einteilen. Yannis, Paul und Finchen sind die Kleinen. Max, Lennard und Nele sind die Großen. Und die ganz Großen, das sind Stefanie und Frank T. Alle zusammen sieht man selten, dafür sind es einfach zu viele. Die Familie passt ja nicht mal in ein Auto. Seit Finchen da ist, ist der Mitsubishi-Bus schon wieder zu klein. Geht schon, sagt Frank T. „Das verteilt sich.“
Yannis frühstückte also allein, vielleicht zusammen mit Paul, und räumte sein Zimmer auf. Er machte sein Bett, erzählt er, und einen Deal mit Paul. Paul sollte das Gröbste in seinem, Yannis’, Zimmer vom Fußboden räumen, dafür hat ihm Yannis das Bett gerichtet: Decke zusammenlegen, Schlafanzug schön drapieren, Kuscheltiere rundherum anordnen, das ist schwer für einen Fünfjährigen. Jetzt sind beide Räume in einem lobenswerten Zustand.
Sein kleines Zimmer unter dem Dach mag Yannis sehr. Eine Wand hat rote, blaue und grüne Streifen, das wollte er so, und Stefanie T. hat sie ihm gemalt. Die Gardine passt dazu. Es gibt eine Spielkonsole, im Moment leider ohne Monitor, es gibt Kuscheltiere, ein Dartspiel. Nebenan wohnt Paul, gegenüber Nele. Yannis hat auch das kleine Badezimmer aufgeräumt, das diese drei Kinder sich teilen, seine Schwester Nele, 11, putzt dort manchmal. Jannis ist zufrieden hier oben, das sagen seine blauen Augen. So kann man die Kinder der Familie T.auch in Wohngruppen aufteilen: die drei unterm Dach, Lennard, 12, in der Mitte, der 14-jährige Max und Finchen unten.

Drei unterm Dach, einer in der Mitte

Die Familie T. lebt erst seit einem knappen Jahr hier am Pferdestall. Das Haus stammt aus der Zeit um 1900, es steht am Rand von Pinneberg, im Speckgürtel von Hamburg, die T.'s haben es von dem Bauern gekauft, bei dem Stefanie T. vormittags angestellt arbeitet, bei dem sie ihre Pferde – ein Haflinger, zwei Shetlandponys – untergebracht hat, und wo sie jetzt zusammen mit ihrer Freundin Sabine nachmittags eine Reitschule betreibt. Heute trainiert Nele für die LK-6-Prüfung, und es klappt noch nicht so richtig. Askari, der Haflinger, ist einfach kein Springpferd, im Dressurteil der Prüfung wird er besser sein. Stefanie T., 33, zieht nervös an ihrer Zigarette. Durch die Glasscheibe hört sie nicht, was da unten besprochen wird, das ist gut so. Nele hat sich ein hartes Programm vorgenommen für die Ferien. Morgens Training, jeden Nachmittag drei Stunden Theorie, Freitag ist Prüfung. Blöd nur, dass Askari manchmal lieber um das Hindernis herumgeht als drüber.

 


Da hat er einen anderen Charakter als Nele und ihre Mutter. Stefanie T. umgeht nichts. „Sie ist von unglaublicher Entschlossenheit“, sagt Reinhard Dircks. Der Pfarrer, der heute das Beratungs- und Seelsorgezentrum an der Hamburger Hauptkirche St. Petri leitet, hat Stefanie T. kennengelernt, als sie, hochschwanger mit dem vierten Kind und Knall auf Fall alleinerziehend, zu ihm in die Beratung kam. „Sie stand vor einer Katastrophe“, sagt
Dircks, „aber sie war entschlossen durchzukommen. Eine Löwenmutter.“ Dircks hat dann auch ihre ersten vier Kinder getauft. Alle in einem Aufwasch.
Frau T. ist durchgekommen, sogar bis zu ihrem Traum mit Kind und Kegel, Hund und Katze und Pferden. Auch wenn der Pferdestall nicht ihr gehört.
„Du siehst ja wieder gut aus, Frau Müller“, begrüßt sie ihre Jüngste, und Finchen, noch ein paar Kakaospuren im Gesicht, krabbelt in ihren gelben Gummistiefeln zufrieden auf Mamas Reithose. Wenn der Papa jetzt Frühschicht hätte statt Urlaub, dann wäre sie sowieso die ganze Zeit mit im Stall, sie würde mit der Mama die Pferde auf die Weide bringen oder zurück in die Box, sie würde helfen, die Ställe sauber zu halten, für Futter zu sorgen und sich um den Tierarzt zu kümmern, den Hufschmied. Finchen wird in die Ecke gesetzt, Mama steht auf. Sie ist gerade ein bisschen gereizt. Vielleicht wegen der bevorstehenden Prüfung, und dann streiten sich auch noch die Ponys in ihren Boxen. Ärgerlich fährt Stefanie T. mit der Forke in den Strohhaufen, schiebt Streu in die Boxen. Feiner Staub wirbelt auf und glitzert im Licht der Wintersonne. Bald ist die nächste Reitstunde. Stefanie T. sieht aus, als bräuchte sie jetzt mal ein bisschen Ruhe. „Jetzt hab ich Hunger!“, sagt sie und guckt auffordernd in die Runde.

Brötchen schmieren, über Handyverträge diskutieren, Feste planen

"Genial“ sei das Leben hier, sagt sie, als sie dann am Esstisch sitzt. Genial, aber manchmal anstrengend. „Alle zerren an einem.“ Die Kinder? Nö, die eigentlich nicht. Es ist eher das Gewusel auf dem Reiterhof, die vielen Fragen, immer neue Probleme, die Probleme, die sie sich gewünscht hatte. Stefanie T. hilft Paul dabei, sich ein Brötchen auszusuchen, Lennard kommt herunter, wirft Lilo, dem Bordercollie, sein Hundekuscheltier zu.
Stefanie T. ist klein und immer in Bewegung. Getrieben wirkt sie nicht, und der Ärger von vorhin verraucht allmählich. Brötchen schmieren, die Mutter einer Reitschülerin am Telefon beruhigen, Finchen übers blonde Haar streichen, mit Max über einen Handyvertrag diskutieren, das geht alles fast gleichzeitig.
Und ziemlich ruhig. Eine Großfamilie muss gar nicht laut sein, nicht chaotisch – „und nicht asozial!“ Darüber kann sich Stefanie T. echt aufregen: dass die Leute so viele Klischees über große Familien im Kopf haben, speziell über deren Mütter. „Ich wiege keine 180 Kilo, ich habe keine fettigen Haare, bei uns sieht’s auch nicht aus wie bei Hempels unter der Matratze, aber das ist das, was die Leute erwarten.“ In Pinneberg kommen schon mal so Sprüche wie: Gab es keine anderen Hobbys? Oder, für Frank T.: Du hast die bestimmt geheiratet, um mit dem Kindergeld ein Haus zu kaufen. – Das tut immer noch weh, sagt sie. Aber früher tat es mehr weh

Der Rest der Familie überlegt laut und engagiert, wo der Weihnachtsbaum seinen Platz bekommen soll. In der Mitte vom Zimmer, schlägt Yannis vor, und die Geschenke in sechs Reihen davor. Oder da, wo der Staubsauger gerade steht, sagt Frank T., neben dem Sofa. Ein großer Tannenbaum soll es auf jeden Fall sein, darauf freuen sie sich alle, ein großer Baum für ihr großes Zimmer.
Stefanie T. hat das Wohn- und Esszimmer in hellen Farben eingerichtet, im Ikea-Landhausstil, wie die Küche. Helle Schränke, weiße Regale mit passenden Körben, das Sofa beige, aber manchmal ist es auch gestreift, wenn dieser Bezug ge¬rade in der Wäsche ist. An den Wänden hängen Arrangements aus weißen und ¬silbernen Herzen, Bilder von den Tieren und den Kindern. Und Adventskalender – drei, für die Kleinen. Die größeren Kinder haben ihren Kalender im eigenen Zimmer.

Sechs Adventskalender, 144 Päckchen, alle selbst eingewickelt. Frau T., als Einzelkind aufgewachsen, hat sich immer schon eine große Familie gewünscht. „Zwölf Kinder wollte ich. Und Pferde.“ Als Jugendliche bekam sie eine Allergie gegen Tierhaare – aus der Traum, von heute auf morgen. Sie wurde Einzelhandelskauffrau, Visagistin bei Douglas. „Neulich war ich mal wieder da, aber das bin ich nicht mehr. Nicht meine Welt.“
Ihre Welt ist diese, seit ihre Tochter Nele ein Pferd wollte und Stefanie T. feststellte, dass ihre Allergie verschwunden war. Ihre Welt ist das Heim auf dem Hof, die weiße Landhauswelt, die Villa mit Stall, mit Kindern, Katzen, Hund und Pferden. Eine Villa Kunterbunt, ohne Putzhilfe und ohne Supernanny – und einen Satz wie „Ich bin die Managerin eines kleinen Familienunternehmens“ würde Stefanie T. auch nicht über die Lippen bringen. Sie ist eine Frau, die eine Familie hat. Und einen Job. Und ein Hobby.

So viel Luxus, da werden die Freunde glatt neidisch

Und eine Villa. Sagt Yannis. Darum würden ihn Freunde beneiden, dass sie jetzt in einer Villa wohnen. Dass wir so viel Luxus haben, ergänzt Lennard. „Pferde und so.“ Die Kinder, ganz schön selbstbewusst, wissen schon, dass sie etwas Besonderes sind. Das haben sie im Fernsehen gesehen: Familien mit vielen Kindern sind arm. Aber diese Kinder fühlen sich reich. Wenn auch nicht reich an Urlaubsreisen, das kommt hier praktisch gar nicht vor, das ist nicht drin, finanziell. Oder -Computerkomfort: Max hat einen PC, der manchmal netzfähig ist, Lennard darf ihn benutzen, wenn Max mit dem Fahrrad unterwegs ist. Ein großzügiger großer Bruder? „Na ja“, sagt Max. „Macht hat man schon. Aber ich mach nicht auf Bestimmer.“ Und weg ist er, er hat Termine.
Finchen hat „auch keine Zeit“, aber sie hat die Windeln voll. Darum kümmert sich Frank. Er gehört noch nicht so lange zur Familie. Steffi und er lernten sich durchs Chatten kennen, auf irgendwelchen Flirtseiten, es war der reine Zufall, dass sie in benachbarten Stadtranddörfern wohnten. Frank T., ein sehniger Typ mit rasierter Glatze, war „ein Stadtmensch, ein eingefleischter Junggeselle“, bis er anfing, Stefanie Mails zu schreiben. Die, sehr hübsch, sehr dynamisch und gerade mal Ende zwanzig, hatte zwei Jahre zuvor ihren neuen Lebensgefährten verloren – Krebs. Irgendwann hat T. sie gefragt, ob sie Kinder habe. Ja, schrieb sie zurück. Wie alt, wollte er wissen. „Die Antwort war eine Zahlenreihe: 2, 4, 6, 8, 10. Oder so ähnlich.“ Dann war bald Schluss mit Discobesuchen, und Frank, der seit seiner Bäckerlehre, seit 1989, bei Harry-Brot in Schenefeld arbeitet, heiratete eine Familie. Das ist jetzt vier Jahre her. „War schon ’ne Umstellung“, sagt er. Von null auf hundert. „Manchmal ist man ein büschen genervt und so. Aber im Grunde: wunderbar!“
Frank T. lebt den Kindertraum seiner energischen Frau. Er hatte sogar reiten lernen wollen, aber das war dann doch nicht sein Ding, es ist aber eindeutig sein Ding, dieses Haus auszubauen für die Familie, mit viel Eigenarbeit, Hilfe von Freunden und natürlich mit Krediten. Er kümmert sich um die Kinder, er weiß, dass Paul ein richtiger Genießer ist und Lennard ein Helfer, Frank kocht auch mal für alle oder macht ein Tiefkühlgericht heiß, wenn es der Schichtplan erlaubt, er hat eine Werkstatt, wo er aus Holz Spielsachen baut. Was für Spielsachen? Pferde natürlich, auf denen Kinder richtig sitzen können. Die verkauft er, damit kommt wieder ein bisschen Geld in die Kasse. Und den Gartenzaun muss er noch reparieren, die Ponys haben ihn kaputt gemacht. Frank T.'s Energie strahlt nicht so nach außen wie die seiner Frau, aber das ist wahrscheinlich gut so. Er setzt Finchen ab und will jetzt zugucken, wie Stefanie ihren Job macht. Nächste Woche macht er wieder seinen.

Wir arbeiten beide voll“, sagt Stefanie auf dem Weg zurück in den Stall. „Nur so können wir dieses Leben finanzieren. Die Kinder wollen, was andere Kinder auch haben. Lennard wünscht sich einen Laptop zu Weihnachten. Finchen möchte ein Baby. Stimmt’s, Frau Müller? Du wünscht dir eine Puppe!“ Nein, sagt Finchen. Sie ist gerade nicht im Film.
Finchen hat einen Hufauskratzer ge¬funden und bearbeitet damit ihre kleinen gelben Gummistiefel. Paul kommt dazu und will auch. Er nimmt sich den Kratzer, und seine Schwester scheint kurz zu überlegen, ob sie jetzt ein Geschrei anstimmen soll. Es sieht so aus, als täte sie es, wäre ihre Mutter nur ein kleines bisschen weniger beschäftigt. Finchen zuckt mit den kleinen Schultern. Wahrscheinlich sinnlos, sagt die Geste. War da nicht irgendwo ein zweiter Kratzer? Wo bloß? Finchens Blick fällt auf einen alten Striegel. Auch gut. Auch gut zum Gummistiefelputzen. Vielleicht war es ja doch Frau Müller, die die Schuhe am Nebeneingang so schön aufgereiht hat.

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