Eine gefangene Seele
Literatur für chrismon, Folge 3 von Feridun Zaimoglu: Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes nicht missbrauchen
07.10.2010

Auch ein großer Gott wirft seinen Abfall weg, diese Worte hat er gesprochen, der Wundersüchtige, damals während unseres Medizinstudiums, in einem Herbstmonat, als der Wind in den Straßenschneisen pfiff. Ich aber habe einen anderen Weg gewählt und bin gewöhnlich geworden, das Gezänk der Idealisten geht mich nichts mehr an. Nur: Auf der anderen Seite bin ich nicht angekommen oder noch nicht angekommen, meine verheirateten Freunde wollen mich nicht wieder in ihren Kreis aufnehmen, weil man nicht ungestraft das Bürgertum verachtet. Das hatte ich tatsächlich getan und den Ruf eines mild lächelnden Extremisten erworben. Heute verlacht, morgen hegemonial, so lautete der Lieblingsspruch von mir und meinen Brüdern. Wir verstanden nicht die Rentner, die vor den Kaufhäusern standen, stumm, sie pressten die Traktate an die Brust, oder sie fächerten sie oberhalb der Gürtellinie. Wir spotteten nicht über diese merkwürdigen alten Leute, denn man hatte uns gelehrt, die Jungen zu bekämpfen, die Alten aber in Ruhe zu lassen. Große Dinge kündigten sich an, der Himmel sog sich voll mit den Sünden, und wir wurden geweckt, weil das Unheil seinen Lauf nahm.

In dieser Zeit, da ich meiner wirklichen Erweckung entgegenlebte, studierte ich Medizin im zweiten Semester, ich trug einen weißen Kittel am Präpariertisch, auf dem ein Kadaver lag, die Formaldehyddämpfe ließen mich gelegentlich würgen, und der Professor glaubte mich trösten zu müssen, weil ich das Wasser in meinen Augen wegblinzelte. An diesem toten konservierten Menschen musste ich die Lymphknoten der rechten Achselhöhle mit Skalpell und Pinzette freilegen - eine trostlose Aufgabe. Wir arbeiteten zu siebt an der Leiche, junge dumme Anwärter, die wir waren, beugten wir unsere Köpfe über den uns zugewiesenen Ausschnitt des Körpers. Er aber, der Wundersüchtige, sagte dem Professor, er könnte es nicht länger aushalten, er fragte, ob es möglich sei, das Gesicht der Toten mit einem Stück Leichentuch zu bedecken. Seiner Bitte wurde nicht entsprochen, und die anderen jungen dummen Anfänger zogen vor Schreck den Kopf ein, da der Professor ein Donnerwetter anstimmte - es ist Ihre verdammte Pflicht, den Menschen, ob tot oder lebendig, immer ins Gesicht zu sehen, schrie er. Sie werden in diesem Studium zu lernen haben, die Toten und die Lebenden zu achten ...

Er hatte den Wundersüchtigen, vielleicht bewusst, missverstanden, und als wir später aus dem Präpariersaal hinausdrängten, aus den nicht mehr strahlend weißen Medizinerkitteln schlüpften, bereute ich es, den Mund gehalten zu haben. In der Mensa setzte ich mich an seinen Tisch, er stocherte lustlos in seinem Linseneintopf, ich tat es ihm bald nach. Wir wechselten ein paar Worte, auch wenn er nicht in der Stimmung war, sich Zuspruch von einem Sympathisanten einzuholen.

Das war nicht ein Anfang, das war der Anfang, denn einige Monate später zog er in das sogenannte Gelbe Haus des Studentenwohnheims an der Stadtperipherie ein, er wohnte ein Stockwerk über mir, und als er den strengen Gottgläubigen in meiner Etage kennenlernte, kam er jeden Abend herunter. Es sollten sich uns in sehr kurzer Zeit weitere Brüder anschließen, wir waren junge Männer aus deutschen Städten, denen im Elternhaus das Heilige vorenthalten worden war, und der Blick hoch zum Herrgottswinkel reichte uns nicht. Nicht mehr.

Eine Frau verliebte sich in mich, sie nahm mich mit zu ihrem Bibelkreis, doch ich war angewidert ob des falschen Bittgebets des Priesters, der eine Krawatte trug und sein Gesicht saubergerieben hatte - er roch noch nach Herrenseife. Viel später sagte ich zum Wundersüchtigen: Darf ein Priester sich rasieren, dass der Rasurbrand seine dicken Wangen rötet? Nein, sagte er, unser Herr hat die Pharisäer und Philister verabscheut, unser Herr hat die Priester bekämpft, das ist die Tradition aller Propheten. Damals sprachen wir, die Brüder im Bund, in diesen Worten, von denen wir glaubten, dass sie aufstiegen und den schwarzen Himmel zerschnitten, wir waren ja nur junge Männer in einer deutschen Stadt. Und das Himmelreich kam nicht, es kam nicht, verdammt.

Die Verliebte verbat sich das Fluchen, in ihrer Gegenwart durfte ich nicht einmal aufstoßen. Und auch wenn sie darum bat, berührt zu werden - ich berührte nur ihre Hände, ihre Fingerspitzen, ihre Mundwinkel, ich küsste ihre Fußknöchel. Denn wer wollte sich mit Verrückten auf ein erträgliches Maß verständigen?

Ich präparierte am Kadaver die Lymphknoten frei, ich kratzte an einer anderen Stelle das Fett aus und zerschnitt dabei versehentlich einen kleinen schlanken Muskel, ich bekam eine durchschnittliche Note, ich bestand viele andere Testate und das Physikum. Ich war nicht beteiligt, ich sah den Musterhaften dabei zu, wie sie schönen neuen Träumen nachliefen, und mein böser Traum war zerplatzt, und es hatte sich über mich Gottes Saft ergossen. Diese großen Worte beschämen mich heute, da mich der Streit der Glutäugigen, der Hohlwangigen, der Idealisten ohne festen Wohnsitz nichts mehr angeht.

Die verliebte Frau - ich glaube, sie hieß Inge oder Ingeborg litt plötzlich an Atemnot, und als Folge der vielen Arztbesuche stellte sich bei ihr auch eine Aversion gegen mich ein, gegen den angehenden Arzt, der es mit seinem Gottesglauben übertrieb. Tatsächlich trieben wir Brüder im Bund unsere Mütter und Väter, unsere Freunde und Bekannten und unsere keusch geliebten Freundinnen zum Wahnsinn: Wir konnten nicht mehr maßvoll Filme ansehen, wir sahen Zeichen der Erweichung ob des Bösen. Wir konnten nicht mehr Liebesromane lesen, wir stolperten über die dummen Monologe von Schwärmern, die die einzige und wahre Anbetung in Zweifel zogen. Ich fragte den Wundersüchtigen: Darf man die Zeit, da man auf das Reich des Herrn wartet, mit Zerstreuung verbringen? Und er sagte: Nein, das tun die Kirchgänger, wir tun es nicht - er sprach von den fast unsichtbaren dünnen Marionettenfäden, die man an ihnen sah, und dass wir, die wahren Anbeter des Herrn, in seinem Weingarten unterm freien sündenschwarzen Himmel wandelten.

Ich wandelte nicht. Ich bekam den Skepsisschnupfen, vielleicht stand ich auch, nach einigen Jahren der Treue und der Härte, auf der Kante, ich löste mich von den Brüdern im Bund, die mich zu einem Gewöhnlichen degradierten. Sie erkannten in mir eine im Viehstall gefangene Seele, ein hartes Urteil, dem sich Inge oder Ingeborg anschloss. Den Toten und also auch den Lebenden schuldete ich nichts, deshalb brach ich mein Medizinstudium ab und legte das Skalpell und die Pinzette wie kleine Schmuckstücke in ein Schauregal. Trotzdem gehörte ich nicht zu den Überläufern, ich brach nicht mit dem Glauben und spreche vor jedem Essen das Tischgebet.

An Zufälle glaube ich nicht, es war kein Zufall, dass ich eine Anstellung als Korrektor in einem großen Verlag bekam. Ich bin nur einer von vielen, und es gefällt mir, in fremden Texten penibel und exakt die Fehler zu tilgen. Mein Lohn deckt alle laufenden Kosten. Ich neige zur Sparsamkeit und kann sogar auf einen mehrwöchigen Jahresurlaub hoffen.

Dann sah ich ihn, den Wundersüchtigen, im Zentrum der Stadt an der Peripherie, er lief mir in der Fußgängerzone entgegen. Auf dem Schild, das er sich um den Hals gehängt hatte, stand: Säuglingstaufe ist Satanswerk! Kein Punkt, aber ein Ausrufezeichen. Ich wollte sofort in eine Seitenstraße abbiegen, aber es war schon zu spät, ich stellte die vollen Einkaufstaschen auf dem Boden ab und wartete darauf, dass er die kurze Distanz zwischen uns abschritt. Und mein Wunsch, dass er bitte an mir vorbeigehen mochte, erfüllte sich nicht. Er blieb stehen, er ließ einen Schritt Abstand zu, er sah mir schweigend ins Gesicht. Die Passanten schauten sich nach uns beiden um, und es war mir peinlich, dass man mich bestimmt seinen Sympathisanten zuschlug. Ich hatte doch nur im Supermarkt Eier und Speck gekauft, um mir zum Abendessen ein Omelett zu machen. Ich hatte doch nur Wasser und Säfte und Wurst und Käse gekauft, um meinen Kühlschrank zu füllen wie ein gewöhnlicher Bürger, in den ich mich zurückverwandelt habe. Der Wundersüchtige sah mich an, nicht unfreundlich, nicht mit einem milden Lächeln, und ich sah ihn an, fast gelähmt, wie von einer Drohung. Dann aber trat plötzlich eine Frau hinzu, eine junge schöne Frau, und es befremdete mich sehr, dass sie einen Arm um seine Hüften schlang, es war eine Liebesgeste, die man gerade noch als verspielt und nicht als obszön ansehen wollte. Wieso ließen sie mich nicht in Frieden? Sie sagte, sie kenne mich nur vom Hörensagen, und sie habe mich trotzdem sofort erkannt, weil er mir viel über meine merkwürdigen Augen erzählt habe. Er ist dieser Mann mit dem Extremistenschild, dachte ich, er ist der Mann, der mich anschweigt, und seine Frau und Freundin muss deshalb versuchen, mich in ein Gespräch zu verwickeln. Ich nickte ihr zu, sie schaute in sein Gesicht, dann gingen sie weiter, ich unterdrückte den Drang, mich nach ihnen umzusehen. Er ist der Mann, der keinen Vorwurf erhoben hat, dachte ich später, er ist der Mann, der sich gegenüber einem guten Bekannten von früher wie ein Taubstummer verhalten hat.

Ich aß an diesem Abend ein Omelett, sprach vor dem ersten Bissen das Tischgebet und las in einem Manuskript Korrektur, in dem ich zu meinem Bedauern auf wenige Fehler stieß.

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