Er war ein Prediger, ein Reformer der Generation nach Luther. Johannes Calvin staunte selbst über seine große Wirkung, aber er prägte die Moderne wie kaum ein anderer. Zu seinem 500. Geburtstag zeigt eine Ausstellung im Deutschen Historischen Museum Berlin, wie die Calvinisten unsere Welt veränderten
07.10.2010

Von außen ist das Silber ganz matt. Die feinen Gravurmuster an der Kelchwand sind kaum noch zu erkennen - viele Hände haben sie umklammert. Denn dies war ein Kelch der Reformer. Anders als bei den Altgläubigen durften bei ihnen alle mündigen Getauften vom Abendmahlswein trinken, nicht nur der Priester. Das Sakrament war demokratisiert. Und offenbar verstanden alle genug von ihrem Glauben, dass sie das Abendmahlsgerät auch in Ehren hielten. Die sechs vergoldeten Kuben, die strahlenförmig aus dem Griff herausragen, glänzen wie frisch poliert - als hätte sich kaum einer getraut, die Verzierung zu berühren.

Der viele Jahrhunderte alte Abendmahlskelch aus Böhmen ist vom 1. April an im Deutschen Historischen Museum in Berlin zu sehen. "Calvinismus. Die Reformierten in Deutschland und Europa" heißt die Ausstellung zum 500. Geburtstag von Johannes Calvin am 10. Juli 2009.

"Nur wenige Personen der Weltgeschichte entfalteten eine so tiefe, vielfältige und bis heute andauernde Wirkung auf Wissenschaft, Politik, Kunst und Mentalitäten wie der Genfer Reformator Johannes Calvin", so kündigt das Deutsche Historische Museum die Ausstellung auf seiner Internetseite an. Tatsächlich wirkte der scharfsinnige Prediger und weltläufige Humanist in seiner Stadt mit ungewöhnlicher Anziehungskraft. Gelehrte aus ganz Europa kamen zu ihm und pflegten, was andernorts noch unüblich war: den freien Diskurs.

Skulpturen, Briefe, Waffen, Kirchengerät - wie sonst zeigt man geistigen Wandel?

Zahlreiche Universitäten entwickelten sich nach dem Vorbild von Calvins Genfer Akademie, wurden zu Hochburgen von Naturwissenschaft, Humanismus und Aufklärung. Reformierte Gemeinden wählten ihre Kirchenvorsteher demokratisch, während sonst in Europa Fürstenwillkür herrschte. Reformierte heiligten den Alltag und schätzten das Handwerk. Auch deshalb gingen aus ihren Reihen bedeutende Uhrmacher hervor - ihre Kunst war die "Hightech" des 17. und 18. Jahrhunderts.

Wie stellt man so etwas dar? Für ein Berliner Museum läge es nahe, zum Calvin-Jubiläum die Hugenotten ins Programm zu nehmen, die Glaubensflüchtlinge aus Frankreich und ihre Ansiedlung in Preußen.

Doch dies war schon vor drei Jahren Thema einer großen Ausstellung. Zu sehen sind diesmal überwiegend Exponate aus dem Zeitalter des Konfessionalismus: Gemälde, Skulpturen, Briefe, Waffen, Kirchengerät, Urkunden. Zeugen einer Zeitspanne von etwa hundert Jahren, in der das Bekenntnis zum reformierten, zum lutherischen oder zum katholischen Glauben die Menschen in politische Lager teilte - ab der Mitte des 16. bis mitten ins 17. Jahrhundert. Exponate aus Deutschland, den Niederlanden, der Schweiz und Ungarn zeigen symbolhaft, wie sich der geistige Wandel in Europa seit der Reformation vor allem durch Calvins Einfluss vollzog.

Vor allem aber wollen die Ausstellungsmacher mit Klischees und Vorurteilen aufräumen. Der Genfer Reformator ein fanatischer und humorloser Tribun? Von wegen! Hier lernt man den Franzosen eher als ängstlichen Zweifler kennen. "Ich hätte nie geglaubt, dass ich bei unserem Rat so viel gelte", so steht es in einem der vier Originalbriefe, die unter einer Vitrine ausliegen werden. Calvin schrieb diesen Brief an seinen Mitstreiter, den Genfer Prediger Guillaume Farel, als er noch in Straßburg wohnte und als die Stadt Genf ihn als Prediger und Lehrer anwerben wollte. Gerührt bemerkt Calvin, wie ungern ihn die Straßburger ziehen lassen. "Was habe ich an mir, das mich ihnen so empfehlenswert macht?", fragt er erstaunt.

Noch ist die Ausstellung nur im Modell zu sehen: Pappe und Styropor auf anderthalb Quadratmetern. Kurator Ansgar Reiß kniet sich davor und linst durch die Lücken, die Eingangsbereich und Zwischentür darstellen, in den zweiten Ausstellungssaal. Dort an der gegenüberliegenden Wand soll dem Besucher ein riesiges Gemälde ins Auge fallen. Es zeigt, wie Friedrich von der Pfalz im Prager Veitsdom zum König von Böhmen gekrönt wurde.

Was der unkundige Betrachter ohne Erläuterungen nicht auf Anhieb erkennt: Diese Krönung war ein Skandal. Es gab bereits einen katholischen König von Böhmen. Und Friedrich, der Calvinist, machte jenem Altgläubigen die Krone streitig. Als Reformierter hielt er es für seine Pflicht, so der protestantischen Sache zu dienen.

Vollbärtiger Herr in trapezförmigem Wams

Nach seiner Krönung stürzte Europa in den Dreißigjährigen Krieg. Im zweiten Ausstellungssaal geht es um reformierte Allianzen. Die Exponate verweisen auf Geschichten im Vorfeld des Dreißigjährigen Krieges. Geschichten von Bündnissen, Friedensbemühungen, Verwerfungen und Intrigen.

Sabine Witt, ebenfalls Kuratorin der Ausstellung, zeigt auf das Doppelporträt eines anhaltischen Fürsten mit seiner Frau: Johann Georg I. nebst Dorothea von der Pfalz. Wohl auch beeinflusst durch seine Frau, setzte der Fürst durch, dass in Anhalt-Dessau nicht mehr nach lutherischer, sondern nach calvinischer Weise der Gottesdienst zelebriert wurde. Ein müde dreinblickender vollbärtiger Herr in trapezförmigen Wamsschößen, neben ihm die blasse Gemahlin mit skeptischem Blick und hochgeschlossenem Kleid. Über des Fürsten gewölbtem Bauch prangt eine Goldkette mit farbig emailliertem Anhänger.

Das Amulett mit dem durchbohrten Herzen wiederum ist ein Geschenk des calvinisch gesinnten Kurfürsten Christian I. von Sachsen, Symbol eines Schutzbündnisses unter deutschen Fürsten. Gleich nebenan steht deshalb in einer Glasvitrine Christians kupferne, vergoldete Ritterrüstung - er war offenbar ein kleiner Mann. 1591, mit 30 Jahren, starb der Kurfürst mit dem angeblich falschen Bekenntnis.

Nach Christians Tod verhaftete die lutherische Gegenpartei dessen Kanzler. Er soll seinen Landesherrn zum reformierten Glauben verführt haben, lautete das Urteil. Auch das Richtschwert, das später des Kanzlers Haupt von seinem Rumpf trennte, wird in der Ausstellung zu sehen sein.

Wofür stand die Partei der Reformierten, wofür kämpfte sie? Im konfessionellen Zeitalter hielt man die Calvinisten für fortschrittlich, für modern. Es waren Leute, die Neues ausprobierten. Disziplin und Republik, so betiteln Reiß und Witt den nächsten Ausstellungssaal.

"Die Justitia aus Bern", eine Brunnenfigur, "steht für das Rechtsverständnis des calvinistischen Stadtstaates", sagt Reiß. Wahlurnen für Presbyterwahlen in Emden, Ostfriesland, 1721 gestiftet, dokumentieren, wie reformierte Gemeinden früh demokratische Tugenden lernten. Deckenkassetten aus Ungarn mit arabesken Ornamenten zeigen, wie kosmopolitisch manche Reformierte waren. Sie erkannten, dass die muslimischen Osmanen im Nachbarland religiöse Bilder als störend bei der Andacht empfanden. Und sie kopierten ihre Muster, als sagten sie damit, in religiösen Dingen stets um Ausgleich bemüht: So verschieden sind wir gar nicht.

Calvinistische Strenge und wohlgenährte Damen

In einem Nebenraum finden sich zerschlagene Skulpturfragmente, Zeugnisse des reformierten Bildersturms. Ein Klischee: Die Reformierten hätten ganz und gar keine Bilder geduldet. Die Kunsthistorikerin Sabine Witt zeigt auf das Porträt gegenüber: Hanna, die spätere Mutter des Propheten und Königsmachers Samuel, im Tempel. Noch ist sie kinderlos und fleht Gott um ein Kind an. Ein reformierter niederländischer Maler bebildert die Szene im Jahr 1643.

Auffallend häufig wählten calvinistische alte Meister Motive aus dem Alten Testament. Zu sehen ist eine barocke, wohlgenährte Hanna im Brokatkleid mit Fellkragen. Sie blickt nach oben, am Betrachter vorbei. Ihre Wangen sind rosig, mit wenigen Strichen - angedeuteten Stirnfalten, einem in sich gekehrten Blick und Lippen, die zu murmeln scheinen zeichnet der Künstler ihre ganze Verzweiflung. "Das ist Feinmalerei von bestechender Qualität", schwärmt Witt. "Mit ihrem Wunsch nach einem Kind springt die Hanna förmlich dem Betrachter entgegen. Ihre reiche Gewandung steht im Kontrast zur angeblichen calvinischen Strenge und Nüchternheit."

Bilderlos ist dagegen der durch Trennwände nachgestellte Kirchenraum mit Apsis. Ein schlichter, hellweißer Raum. Kein Kreuz, kein Altar, dafür im Zentrum eine überdimensionierte Kanzel und eine Predigersanduhr aus Utrecht, daneben zwei Zehn-Gebote-Tafeln aus der Celler Kirche. In der aufgeschlagenen Zürcher Bibel der reformierten Übersetzung - in der Mitte des Raumes können Besucher nachschlagen, was die Heilige Schrift zum jeweiligen kirchlichen Artefakt aussagt.

"Was uns die Gemeinden da anboten, war eine Fundgrube", sagt Witt. "Das meiste kommt in den Ausstellungskatalogen der Museen gar nicht vor. Es steht von der breiten Öffentlichkeit weitgehend unbeachtet in den Kirchen." Erstaunt waren die Kuratoren, wie gut man in diesen Gemeinden historisch informiert war. "Reformierte Presbyter wussten viel mehr über ihre eigene Geschichte, als wir es sonst von Lutheranern und Katholiken gewohnt sind", sagt Ansgar Reiß. Dass man einer konfessionell geprägten Tradition angehört, ist bis heute wach. Und das ausgerechnet bei denen, die eigentlich eher im Stillen wirken.

Ein Bielefelder Kirchenpfleger kannte alle ehemaligen Prediger namentlich bis zurück ins 17. Jahrhundert. Unter anderem wies er auf eine Patene von 1750, einen Teller für das Abendmahlsbrot, und berichtete aus dem Stegreif, er sei ein Geschenk Elisabeth Sybilla Maria Baronesse von Diepenbrocks, Pröpstin zu Schildesche. Er wusste: Weil sie als Reformierte nicht am lutherischen Abendmahl ihrer Heimatgemeinde teilnehmen durfte, nahm sie Sonntag für Sonntag den längeren Weg nach Bielefeld auf sich, daher die Schenkung.

Geldzählmaschine mit Gottesauge

Eine reformierte Pfarrerin aus dem mecklenburgischen Bützow überreichte Witt ein Abrechnungsbuch aus ihrem Kirchenarchiv. In ihm hatte einer ihrer Vorgänger aus dem 18. Jahrhundert seine Fundraisingreise penibel festgehalten: Seine Gemeinde brauchte Geld für eine neue Kirche. Gewissenhaft verzeichnet der Pfarrer jede Spende, jede Reiseausgabe, später auch jede Handwerkerrechnung. Jeder Schritt vom Entschluss, die Kirche zu bauen, bis zu ihrer Vollendung ist dokumentiert.

Eines bleibt in der Ausstellung offen: Haben Kapitalismus und Demokratie wirklich ihre Wurzeln in der reformierten Denktradition? Die Kuratoren geben bewusst keine Antwort. Stattdessen verweisen sie auf die Interpretationen anderer. Zum Beispiel die Deutung des Soziologen Max Weber, der den wirtschaftlichen Erfolg von Reformierten auf calvinistische Lehren zurückzuführen versuchte.

Kurz vorm Ausgang steht eine Geldzählmaschine von 1840 aus einer Buchhalterei des Kantons Bern. Auf dem Ziffernblatt der Maschine ist das Auge Gottes abgebildet. "Als ob das Ornament sagen sollte: Ich wache über die Finanzen des Kantons Bern", merkt Ansgar Reiß an.

Wer die Ausstellung verlässt, sieht rechts und links des Ausgangs die Porträts von Kirchenältesten und jungen reformierten Frauen. Gestellte Porträts, 2006 von dem niederländischen Künstlerduo Ari Versluis und Ellie Uyttenbroek aufgenommen. Rechts die Presbyter streng in Schwarz, links junge Reformierte unifarben, die Frauen mit Röcken. "Da ist doch eine Kontinuität erkennbar", sagt Ansgar Reiß und lacht. "Die Strenge in der Kleidung", ergänzt Sabine Witt, "das Konservative. Finden Sie nicht?"

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