Die Scala in Öl - früher hat Stefania Sina dort gesungen. Die Casa Verdi: Ein Altersheim für Künstler, ein Haus voller Musik
07.10.2010

Töne hüpfen durch den Salone d'Onore, leichtsinnig und verspielt wie Bläschenketten im Champagnerglas. Sonate K 380 von Domenico Scarlatti, 18. Jahrhundert. An der Decke Kristalllüster, an der Wand Intarsien, ab und zu knarzt das Parkett. Ganz vorne, hinter dem roten Cembalo thront eine ältere Frau auf einem Schemel, und ihre Finger rasen über die Tasten. Immer wieder blickt sie von den Noten auf, lässt den Blick durch den großen Konzertsaal schweifen. Aber da ist niemand. Nur sie und 120 leere Stühle.

 "Die Leute standen zwischen den Reihen"

Das war nicht immer so. Früher, da gab Mariolina Porrà ein Dutzend Konzerte im Jahr, immer ausverkauft, "die Leute standen zwischen den Reihen". Ein Stockwerk höher: Luisa Mandelli. Sie sang über zehn Jahre als Solistin an der Scala. Stefania Sina war dort im Chor. Paolo Cesare Ottaviani hat allein den "Werther" von Jules Massenet 68 Mal gesungen.

Heute sind sie alle hier, an der Piazza Buonarroti im Zentrum Mailands: 50 Zimmer, 13 Klaviere, in der Mitte ein Toter. Es ist Giuseppe Verdi, der dort in einer Krypta liegt. Und die "Casa Verdi" ist sein Vermächtnis: Ein Zuhause, offen für jeden, der hauptberuflich als Musiker gearbeitet hat und beim Einzug noch selbstständig leben kann. Testamentarisch verfügte Verdi, die Tantiemen seiner Werke der Künstlerresidenz zufließen zu lassen. Für ihn, den weltweit meistgespielten Komponisten, war dieses Altenheim "l'opera mia più bella", mein schönstes Werk. Ein Domizil für die Übriggebliebenen der Bühne, denen Partner und Publikum abhandengekommen sind.

Übriggebliebenen der Bühne

Stefania Sina, 80, lebt seit fast zehn Jahren hier. Die weißen Haare hat sie zum Dutt gebunden. Die Ohrringe an den mit den Jahren langgezogenen Läppchen passen perfekt zu den Knöpfen am Twinset. Wenn sie sich freut, malen Falten zwei diagonale Striche auf die Stirn, wie Scheibenwischer. Und Stefania freut sich oft. Jeden Morgen geht sie ans Fenster und schaut für einen Moment hinunter auf die Piazza, auf deren Mitte Verdi überlebensgroß in Bronze steht: "Buongiorno Giuseppe e grazie di tutto."

Über Stefanias Bett hängt ein goldgerahmtes Ölgemälde. Stefania hat es hier im Atelier gemalt, wo sie jetzt so häufig ist, seitdem ihre Stimmbänder nicht mehr mitmachen. Das Bild zeigt die Scala. Von der Bühne allerdings sieht man nichts. "Es ist meine Perspektive. Von der Spielfläche aus." Italienische Fahnen fliegen da von der Galerie, "Viva Verdi" steht auf einer. Zuschauer beugen sich über die Brüstung, stehen in den Reihen, klatschen, jubeln. "Dafür habe ich gesungen, geschwitzt, gelebt", sagt Stefania. Sie lacht, und auf ihrer Stirn erscheinen die Scheibenwischer.

Heute macht sie andere Sachen. Vor ein paar Jahren etwa hat sie die Hauszeitung gegründet, "La Voce", die Stimme. Da wird zum Beispiel der Koch interviewt oder von gemeinsamen Ausflügen berichtet, nach Florenz oder Venedig. 16 Seiten, alle drei Monate. Zwei Seiten sind aber stets reserviert. Die letzte für die Nachrufe und vorne eine für die Neuankömmlinge. "Ich sage den Leuten immer, es geht darum, dass sie sich vorstellen. Ein paar Sätze darüber, was sie gemacht haben und ein kleines Bild." Stefania schüttelt den Kopf. "Und die geben mir Fotos, da sind sie Mitte 30."

Alt werden gleich auf dem Zimmer bleiben

Was für sie alt werden bedeutet? Stefania überlegt, dann sagt sie: "Nichts." Wieder tauchen die Scheibenwischer auf ihrer Stirn auf, sie lacht. "Oder vielleicht: Auf dem Zimmer bleiben." Auf dem Zimmer, dort wo ihr goldgerahmtes Publikum an der Wand hängt? Sie schwankt ein wenig mit ihrem großen Körper. Hier gibt es anderes. "Etwa, wenn unsere kleine Zeitung rauskommt und die Leute mir die Exemplare nur so wegreißen. Das ist intensiv."

Ihr erstes Publikum fand Stefania kurz nach dem Krieg, vor 62 Jahren. Sie sang gerade das "Ave Maria" von Schubert, als es plötzlich klopfte. Der Nachbar, ein Cellist von der Scala: Er wolle sich das jetzt mal richtig anhören und nicht immer nur durch den Fußboden. Er hörte zu, begleitete sie, drängte sie schließlich, Gesang zu studieren. "Nur weil ich eine Altstimme habe, eine rare Stimme." Und nur deswegen habe man sie damals auch an der Scala angenommen, weil die da eben noch eine Altistin suchten. "Es gibt viele hier, die erzählen tolle Geschichten aus ihrem Leben. Mit wem und wo sie nicht alles gesungen haben. Wir nicken dann nur. Wir wissen ja eh, was davon wahr ist." Schließlich kenne man sich meistens schon, bevor man in der Casa Verdi wieder zusammentrifft, aus dem Konservatorium, von der Scala oder vom Festspielhaus in Bayreuth.

Auf seiner Visitenkarte steht: "Paolo Cesare Ottaviani: Opernsänger, Schauspieler, Schriftsteller, Dichter." Eine Karte hat er sich auch extragroß drucken lassen und in einem silbernen Rahmen auf seinen Schreibtisch gestellt. Wer ihn besucht, dem zeigt Ottaviani, 83, erst mal seine Hutsammlung. Ein Dutzend, alle selbst gemacht. Bunte Dinger. Manche sehen aus wie die Mitra vom Nikolaus, andere, als ob man einen Obstkorb über eine Tortenschachtel geleert hätte. Die Hüte sind wie Tarnkappen, Ottaviani verschwindet, und es tritt auf: der Barbier von Sevilla etwa, Gianni Schicchi oder Sir John Falstaff. Ottaviani verzieht das Gesicht, bleibt eingefroren wie ein Foto aus dem Programmheft.

Sein Leben auf der Bühne hat sich Ottaviani hart erkämpft. Er sollte Arzt werden oder in Afrika missionieren. Das zumindest planten die Eltern. Als Paolo der Mutter sein erstes Liebesgedicht vorträgt, zaudert die nicht lange und verbrennt es vor den Augen des Jungen. 18 Jahre später baut sich Ottaviani vor seinen Eltern auf und zerreißt das eben frisch erworbene Medizindiplom. "Wir waren quitt." Ottaviani trägt eine silberne Uhr um den Hals, schwere Goldketten am Arm, die er immer mal wieder klimpern lässt. Säbelrasseln: "Ich habe um die hundert Stücke. Meine Eltern hassten Schmuck. Künstler waren für sie nichts weiter als Menschen, die zu faul sind zum Arbeiten."

"Hier denken alle, sie seien die Nummer eins. Ich bin die 19!"

Ottaviani spricht schnell, er redet mit jedem, der ihm zuhört. "Hier, in Casa Verdi denken alle, sie seien die number one. Ich bin keine number one. Ich bin number nineteen." Glücklich sei er hier vor allem deswegen, weil er allein leben könne. "Ich stelle mich vor den Spiegel, sage, was ich will, beschimpfe mich, spucke mir ins Gesicht. Ich kann alles allein machen." Sogar seinen Namen hat er sich selbst ausgesucht. Cesare Ottaviani, ein Künstlername. Er, der Tausendsassa, der Feldherr, der Imperator - ein Cäsar oder zumindest ein Augustus.

Mit 26 Jahren spielt Ottaviani den Großbauern in Aristophanes' Stück "Die Wolken". "Am Ende beschimpft er seinen Sohn mit 37 fürchterlichen Schimpfwörtern. Die mussten wie aus der Pistole geschossen kommen. Ich habe das immer geschafft, außer ein Mal, als ich plötzlich meine Eltern unter den Zuschauern entdeckt habe." Er nimmt ein gerahmtes Foto von seinem Nachtkästchen: "Das sind sie."

Luisa Mandelli steht in der Hauskapelle. Es ist wahrscheinlich der einzige Raum im gesamten Komplex, in dem Verdi nicht zu sehen ist. Kein Porträt, kein Gemälde in Öl, kein Foto, keine Büste, keine Statue. Mandelli zieht die Augenbrauen hoch, tippt mit dem Finger in Richtung Boden, raunt: "Er liegt direkt drunter." Und es hat etwas sehr Beiläufiges, wie die 83-Jährige dann auf einmal das "Salve Regina" anstimmt, wie sie sich nicht stören lässt, als andere Bewohner die Kapelle durchqueren. Aber später wird sie dem Direktor der Casa Verdi von ihrer kleinen Darbietung erzä;hlen und beim Essen ihren Tischnachbarn.

Beten, bei jeder Aufführung

Über der Tür ihres Zimmers, dort wo Katholiken gern ein Kreuz platzieren, hat Frau Mandelli eine Fotografie aufgehängt. Sie rückt sich ihr Deckchen um die Schultern zurecht, macht eine Handbewegung, als ob sie den Star des Abends auf die Bühne rufen dürfte: "La mia Callas." 1955 sang sie in der legendären Traviata-Inszenierung von Luchino Visconti neben Maria Callas als Annina, die Zofe von Violetta. Und Mandelli erzählt von einer stets gut vorbereiteten, höflichen, pünktlichen Kollegin, der ihr Ruhm nie zu Kopf gestiegen sei. "Vor dem dritten Akt, der Vorhang war noch unten, ich hatte Position bezogen neben ihr am Bett: Da wollte die Callas jedes Mal mit mir beten, zur Madonna, dass alles glattgeht. Und so beteten wir. Bei jeder einzelnen Aufführung."

Zehn Jahre später hatte Frau Mandelli sie noch mal getroffen, zufällig. "Sie hat mich sofort umarmt. La mia Annina, hat sie gesagt. Und: Unser Ruhm." Mandelli habe sie natürlich sofort korrigiert: Es sei einzig und allein ihr Verdienst gewesen, ihr Ruhm. "Aber die Callas hat mich angesehen, noch mal in den Arm genommen, noch mal gesagt: Unser Ruhm."

Später wollte Luisa Mandelli sie noch mal besuchen. "Damals 1977. Ich hatte so ein ungutes Gefühl." Aber dann war Maria Callas plötzlich tot. "Sie, eine von aller Welt bejubelte Frau, musste allein sterben. Fast wie die arme Traviata. Und ich, ihre Annina, war nicht bei ihr." Die Kollegin sammelt Unterschriften, über 8000 Stück und kann eine kleine Straße, direkt neben der Via Giacomo Puccini im Zentrum Mailands einweihen: Largo Maria Callas. Das Fernsehen kommt, Luisa Mandelli gibt Interviews, erzählt von "ihrer Callas". Auf dem Weg zum Mittagessen kommt sie an einem kleinen Konzertsaal vorbei. "Tristan und Isolde". Die alte Sängerin strahlt. Wagner. Zwölf Mal hat sie sich in Bayreuth schon den Ring angehört, Efeublätter von Wagners Grab gezupft, gepresst und in ein Album geklebt. 2013, zum 200. Geburtstag von Wagner und Verdi, will sie wieder hin. Sie sagt das, wie andere sich fürs Wochenende zum Pizzaessen verabreden. Ohne Pathos in der Stimme, ohne Zweifel oder Angst, ob sie das überhaupt noch erleben wird.

"Wunder" nennen sie die Casa Verdi

Es ist eine junge Studentin vom Konservatorium, die da "Tristan und Isolde" spielt. Und natürlich geht Luisa Mandelli hinein, und natürlich hat sie einen Wunsch: die letzte Szene, Isoldes Liebestod. "Bitte. Für mich." Und da steht die Mandelli am Flügel strahlt und summt und singt und wippt, wunschlos satt und glücklich. "Wunder" nennen sie hier die Casa Verdi, "Hotel", "Zuhause" oder einfach "La mia Mamma".

"Hier sind alle einfach sehr zufrieden mit ihrer Vergangenheit", sagt Mariolina Porrà. "Wir sind alles Erwählte", sagt Paolo Cesare Ottaviani. Vom göttlichen Privileg, spricht Stefania Sina: Musik machen zu dürfen, das Leben auf der Bühne zu verbringen. Und irgendwann kommen sie alle in die Casa Verdi. Das Publikum bringen sie mit, in ihren Herzen.

"La Casa di Riposo per Musicisti" ließ Giuseppe Verdi im Jahr 1899 bauen. Heute leben dort 50 alt gewordene Musiker zusammen mit 18 Musikstudenten. Wird jemand hilfsbedürf tig, kommt er auf eine Pflegestation im Erdgeschoss. Die Bewohner zahlen 80 Prozent ihrer Pension, maximal jedoch 1500 Euro monatlich. Die restlichen Kosten werden heute, nachdem die Tantiemen aus Verdis Werken ausbleiben, von Spendern getragen.

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