07.10.2010

Nach wenigen Sätzen unterbricht Mike* seine Erzählung. Vor der Tür des Büros sind Stimmen zu hören. Gesprächsfetzen von Jugendlichen, die auf dem Flur warten. Mike springt von seinem Stuhl auf, schließt die angelehnte Bürotür. Seine Geschichte will er nur im Schutz der Anonymität erzählen. Niemand in München soll von seiner Vergangenheit erfahren. Zu groß ist die Angst, für Freunde und Bekannte nur noch der Killer aus Afrika zu sein.

Mike ist 25 Jahre alt. Er trägt eine schwarze Nike-Cap, weite Jeans und weiße Basketballschuhe. Ein dünner Bart wächst um sein Kinn. Zehn Jahre ist es her, dass er das erste Mal in diesem Büro saß. Es war seine erste Anlaufstelle als minderjähriger Flüchtling.

Wenn er von seiner Zeit in Deutschland spricht, erzählt Mike gern von Erfolgen. Er lehnt sich auf dem Stuhl zurück und verschränkt die Arme hinter dem Kopf. Der Anfang sei schwierig gewesen. "Aber das geht allen so." Nun hat er eine Aufenthaltsgenehmigung, einen Job und eine eigene Familie, zählt er auf. "Läuft jetzt alles gut", sagt er. An die Zeit in Sierra Leone denke er gar nicht mehr.

Acht Jahre war er alt, als seine Kindheit von einem Tag auf den anderen endete. Rebellen der Revolutionary United Front (RUF) stürmten 1992 Mikes Dorf. Er musste mit ansehen, wie seine Mutter und sein Vater erschossen wurden. "Willst du deinen Eltern nachfolgen, oder kommst du mit uns?", fragte der Anführer. Mike folgte denen, die ihn zum Waisenkind gemacht hatten.

Tausende Kinder mussten zwischen 1991 und 2002 im Bürgerkrieg von Sierra Leone als Soldaten kämpfen. Nach Angaben von UNICEF führen heute noch weltweit 250 000 Kinder die Kriege der Erwachsenen, vor allem in kollabierten afrikanischen Staaten, aber ebenso in Kolumbien, Birma und Sri Lanka.

Die Rebellen gaben Mike eine Kalaschnikow AK-47, keine fünf Kilo schwer, leicht genug für einen Achtjährigen. Sie zeigten ihm, wie man abdrückt und nachlädt. Mehr musste er nicht wissen. Wer versuchte zu fliehen oder sich weigerte zu töten, wurde erschossen.

Heute erzählt Mike von dieser Zeit in knappen Sätzen, so kühl, als sei er gar nicht dabei gewesen. "Die Angst war immer da", sagt er leise. An das Töten will er sich nicht mehr erinnern. "Wir waren in der Gruppe. Alle haben das gemacht, ich war nicht allein."

Sechs Jahre zog er mit den Rebellen herum. Dann geriet seine Gruppe in einen Hinterhalt, im Chaos gelang ihm die Flucht. Er schaffte es über die Grenze nach Guinea. 1500 US-Dollar hatte er bei sich, zusammengeplündert bei Überfällen, die niemand überlebte, der nicht rechtzeitig fliehen konnte. Mike gab das Geld Schleusern, die ihn auf ein Schiff nach Deutschland brachten. In Hamburg setzten sie ihn in einen Zug nach München.

An einem kalten Tag im November 1998 begann Mikes neues Leben am Münchener Hauptbahnhof. Er sprach einige Passanten an, sie verstanden sein Englisch nicht. Vor einem Bahnhofskiosk traf er zwei Afrikaner. Sie erklärten ihm, wie er zur Ausländerbehörde kommt, um sich zu melden. So weit Mikes Geschichte, wie er sie später auch seinem Vormund erzählt hat.

Als Minderjähriger brauchte Mike einen Vormund. So saß der Junge wenige Tage nach seiner Ankunft in Albert Riedelsheimers Büro. Riedelsheimer, 42, ist Sozialpädagoge beim Katholischen Jugendsozialwerk. Seit 17 Jahren betreut er minderjährige Flüchtlinge, er hat schon viele traurige Geschichten gehört. Mike wird sein schwierigster Fall: Wie findet einer zurück in eine friedliche Gesellschaft, der jahrelang Terror und Tod brachte?

"Ich habe schnell gemerkt, dass da jemand ist, der mehr braucht als die anderen", sagt Riedelsheimer. Obwohl die Vormundschaft vor vier Jahren endete, ruft Mike heute noch mindestens einmal in der Woche an. Manchmal mit einem Problem, manchmal nur, um sich zu vergewissern, dass Riedelsheimer noch da ist.

Nach dem ersten Kennenlernen besorgte Riedelsheimer eine Unterkunft für Mike, organisierte einen Deutschkurs, half beim Asylantrag. Doch nachts kamen die Bilder aus Afrika wieder. Mike sah im Traum seine Eltern sterben. Er sah, wie er in Dörfer stürmt, um sich schießt. Das Jugendamt bezahlte ihm eine einjährige Therapie.

"Von einer Heilung sollte man nicht sprechen", sagt Salah Ahmad, Therapeut am "Behandlungszentrum für Folteropfer" in Berlin. In seiner Jugendabteilung betreut Ahmad viele ehemalige Kindersoldaten. Dichte, grüne Bäume stehen vor den Fenstern seines Behandlungszimmers. Jugendliche machen schnell Fortschritte, wenn sie sich öffnen, sagt er. In Krisen und Stresssituationen kämen die Alpträume aber immer wieder.

Auf der Fensterbank stehen graue Plastikfiguren. Ahmad benutzt sie für die Therapie. Die Jugendlichen können sich bei einer Figur symbolisch dafür entschuldigen, was sie anderen Menschen antun mussten. Sie sagen der Figur, was sie den Opfern nicht mehr sagen können. Anschließend begraben Therapeut und Patient die Plastikfigur gemeinsam im Garten des Behandlungszentrums. Am Ende der Therapie gibt Ahmad seinen Patienten einen Bund mit Schlüsseln. Die Schlüssel stehen für Lösungen. Sie sollen Selbstvertrauen geben, schwierige Situationen beherrschen helfen. "Wir sagen: 'Die Geschichte begleitet einen weiter. Aber ich lass diese Geschichte nicht mein Leben verhindern.'"

Auf die Frage, wie er mit seiner Vergangenheit weiterleben kann, antwortet Mike nur knapp: "Man muss stark sein, sonst geht man kaputt im Kopf." Es klingt einfach.

Mit 17 machte er seinen Hauptschulabschluss und hatte sich gerade in eine Deutsche verliebt, als er seinen Vormund mit einem Wunsch überraschte. Er wolle adoptiert werden, von einem deutschen Paar, "von irgendjemandem". Er wolle wieder Vater und Mutter haben, auch wenn sie für ihn Fremde sind - Hauptsache, wieder eine Familie.

"Er war zu dieser Zeit hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, Kind zu sein und erwachsen zu werden", sagt Albert Riedelsheimer. Er führte lange Gespräche mit Mike. Er erklärte, dass der Adoptionswunsch nicht realistisch sei, dass er seine geraubte Kindheit nicht zurückholen könne.

Die Sehnsucht nach einer Familie aber blieb. Mike wurde selbst Vater, als er gerade volljährig war. Die Beziehung war schwierig, seine deutsche Freundin war als Kind von ihren Eltern vernachlässigt worden. Die neue Situation mit dem Baby überforderte sie. Irgendwann packte die junge Mutter ihre Sachen und verschwand. Mike kümmert sich seither allein um seinen Sohn.

Das Kind gibt ihm eine Aufgabe. Und es verhilft ihm zu einer Aufenthaltsberechtigung. Obwohl die Behörden seine Geschichte nicht anzweifeln, wurde sein Asylantrag abgelehnt. Grund: Der Bürgerkrieg in Sierra Leone ist offiziell beendet. Dass ehemalige Kindersoldaten dort ausgegrenzt werden und den Übergang in ein ziviles Leben meist nicht schaffen, zählt für die deutschen Behörden nicht.

Terre des Hommes und die Kindernothilfe kritisieren, dass das deutsche Asylverfahren auf die Bedürfnisse der wenigen Kindersoldaten, die in Deutschland stranden, keine Rücksicht nimmt. Ihre Zahl wird auf 500 geschätzt. Viele von ihnen schweigen bei den Anhörungen über ihre Erlebnisse, aus Scham oder Angst vor Strafe.

Aber auch wer seine Geschichte offen erzählt, bekommt nicht automatisch Hilfe. Die Rekrutierung als Minderjähriger wird in der Regel nicht als "asylrelevant" eingestuft, heißt es in dem "Schattenbericht Kindersoldaten", den die Hilfsorganisationen Ende 2007 veröffentlichten. Mike selbst verliert kein schlechtes Wort über das deutsche Asylverfahren. Er kann bleiben, allein das zählt für ihn.

Als sein Sohn alt genug für eine Kita war, begann Mike eine Ausbildung zum Elektriker. Er will etwas leisten, es aus eigenem Antrieb schaffen. Es ging nicht lange gut. "Der Chef war unfair zu mir", sagt er heute. Er sollte sonntags die Büroräume streichen. Nach ein paar Wochen warf er hin. Sein Ausbilder nannte andere Gründe. Ständig habe Mike widersprochen, eigene Vorschläge durchsetzen wollen und sich als Chef aufgespielt.

Albert Riedelsheimer hätte sich gewünscht, dass Mike die Ausbildung abschließt. Aber er räumt ein: "Wenn man als Kind die Erfahrung macht, dass Erwachsene vor einem kuschen, weil man mit dem Gewehr über Leben und Tod entscheidet, ist es schwierig, sich später in einem kleinen deutschen Betrieb vom Chef sagen zu lassen, welche Kabeltrommel man zu holen hat."

Auch bei den nächsten Jobs blieb Mike nicht lange. Er arbeitete einige Monate als Dachdecker, brach erneut eine Ausbildung ab, wechselte von einem Job zum nächsten. Er muss lernen, zuverlässig zu sein, kontinuierlich auf ein Ziel hinzuarbeiten. Das fällt ihm schwer.

Vielen ehemaligen Kindersoldaten ergeht es ähnlich. In der gewalttätigen Welt, aus der sie kommen, ist Misstrauen überlebenswichtig. Doch nun verhindert dieses Misstrauen, dauerhafte Beziehungen zu anderen Menschen aufzubauen. Mike arbeitet jetzt bei einem Großmarkt an der Kasse. Der neue Job sei okay, sagt er. "Es läuft alles gut."

Als die erste Beziehung gescheitert war, lernte Mike eine neue Frau kennen. Sie ist Afrikanerin, kommt aus Guinea. Die beiden heirateten nach einem afrikanischen Ritus, ihr gemeinsamer Sohn ist mittlerweile drei Jahre alt. Sie seien sich sehr nahe, seine Frau und er, sagt Mike. Von seiner Zeit als Kindersoldat habe er ihr aber nie erzählt. Sie müsse das nicht wissen. "Es gibt keinen Grund dafür", sagt er. "Wenn ich aggressiv wäre, würde ich es ihr sagen, weil sie es dann besser verstehen könnte. Aber ich bin nicht aggressiv." Die früheren Kindersoldaten fallen gerade nicht durch Gewaltausbrüche auf. Sie ziehen sich vielmehr zurück, vermeiden schwierige Situationen und persönliche Nähe.

In der Beziehung darüber zu schweigen, sei eine "sehr intelligente Entscheidung", meint Therapeut Ahmad. Wenn Mikes Frau seine Geschichte erführe, würde sie sich entweder entsetzt abwenden. Oder sie hätte Mitleid mit ihm, was eine Beziehung auf gleicher Höhe unmöglich mache. "Er wird ihr es irgendwann erzählen, wenn die Zeit dafür reif ist, wenn das Vertrauen groß genug ist", sagt Ahmad.

In München ist Mike früher oft ausgegangen. In Diskos, in denen er viele Exilafrikaner traf. Er kenne in der Stadt alle Landsleute aus Sierra Leone, erzählt er. "Wir reden dann darüber, woher man stammt und was man hier macht. Nur über den Krieg spricht man nicht, jeder weiß das."

Seit er zum zweiten Mal Vater geworden ist, treffe er seine Freunde nur noch selten, sagt Mike, keine Zeit. Sein Tag ist straff durchorganisiert zwischen Arbeit und Kinderbetreuung, es bleibt kaum Raum zum Nachdenken. Der ausgefüllte Alltag als Schutzwall gegen die Erinnerung.

Aber die Vergangenheit lässt sich nicht immer aussperren.

Mikes älterer Sohn ist jetzt sieben Jahre alt. Neulich ist dem Jungen aufgefallen, dass er von seiner deutschen Mutter eine hellere Hautfarbe geerbt hat. "Papa, warum bist du so dunkel?" Mike hat sich erschreckt. Er kann seinem Sohn nicht von Afrika erzählen, nicht von der Schönheit Sierra Leones, nicht von der Fröhlichkeit der Menschen vor dem Krieg. Was, wenn das Kind weiterfragen würde? Nach den Großeltern, oder warum Mike seine Heimat verlassen hat.

Er müsse jetzt wieder los, sagt Mike, seinen Sohn von der Kita abholen. Ob er seinen Kindern eines Tages seine Geschichte erzählen wird? Er schüttelt vehement den Kopf. "Nein, nein. Sie sollen mich nur so kennen, wie ich heute bin."

* Name von der Redaktion geändert

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