Nicht lange zaudern, einfach machen. Ein Plädoyer fürs beherzte Entscheiden.
Tim Wegner
07.10.2010

Eine meiner besten Entscheidungen habe ich im Auge des Orkans getroffen. Am 18. Januar 2007, als der Sturm Kyrill durch Deutschland fegte und meine ICE-Strecke von Frankfurt nach Köln kreuzte. Wäre ich Seefahrerin oder Formel-1-Pilotin, vielleicht hätte ich früher erkannt: Hallo, du musst jetzt selber was tun! Navigieren, die Richtung ändern.

Ich bin aber nur ganz normale kleine Pendlerin. Ich gebe die Verantwortung ab an den Winterfahrplan der Bahn, und der ließ mich auch an diesem Tag am Frankfurter Hauptbahnhof einsteigen, obwohl der Wind schon mit 200 Stundenkilometern blies. Ließ mich am Flughafenbahnhof weiterfahren, obwohl die Kollegen schon auf meinem Handy anriefen: Steig aus, ein Orkan rollt an. Und ich? Blieb einfach sitzen in meinem beheizten Abteil, wie jeden Tag, würde schon gutgehen. In Limburg schließlich die Quittung für meine Kette von Nichtentscheidungen: Der ICE ruckelte mit letzter Kraft in den Bahnhof ein, spuckte 500 Pendler aus, die sich wie die Tiere auf die wenigen Taxis stürzten. Und ich, endlich, traf eine Entscheidung: sprach drei Männer an, die vertrauenerweckend aussahen. Auf mich allein gestellt, so verstand ich intuitiv, wäre ich verloren in Limburg Süd, am Geisterbahnhof inmitten des Orkans.

Endlich mal den Hintern hochgekriegt

Ein Glücksgriff. Die drei entpuppten sich als Mitarbeiter einer kleinen Computerfirma, gemeinsam gelang es rasch, warmes Essen und einen Privatwagen zu organisieren. Um Mitternacht war ich zu Hause in Köln, dankbar meinen Rettern, die noch nicht mal Geld nehmen wollten für die ganze Aktion. Aber auch: hoch zufrieden mit mir selber. Endlich mal den Hintern hochgekriegt, wildfremde Menschen um Hilfe gebeten, beherzt eine Entscheidung getroffen.

Herrlich, dieses Gefühl. Und es braucht im Alltag keinen Orkan, um Entscheidungen herbeizuführen. Manchmal reicht schon der Windhauch der Veränderung, um richtig gute Laune zu kriegen. Endlich die Haare abschneiden. Endlich, nach endlosen Besichtigungstouren, entscheiden: Ja, diese Schule ist die richtige für mein Kind. Endlich bei einem Verein, einem Chor, einer Elterninitiative anrufen und sagen: Ja, ich habe Zeit. Ich mach bei euch mit!

Die Angst vor den Konsequenzen

Bloß: Wenn alle wissen, wie groß die Erleichterung ist, wenn man sich endlich mal entschieden hat - warum tun wir uns dann so schwer damit? Warum verschieben wir endlos, wägen ab, sondieren, halten uns alles offen und ungefähr und rückholbar? Dafür gibt es mindestens drei Gründe: die Macht der Gewohnheit. Das Streben nach Perfektion. Und die Angst vor den Konsequenzen.

Gewohnheit ist was Schönes, und sie gibt uns in diesen Zeiten, in denen alles zusammenzubrechen droht, ein wohliges, warmes Gefühl von Sicherheit. Die Torte am Sonntagnachmittag. Der Zug um 17.10 Uhr. Das Sofa mit der vertrauten Decke. Doch Gewohnheit führt zu dem, was Psychologen "Entscheidungsparalyse" nennen: Wir wollen am liebsten, dass alles so bleibt, wie es ist. Dafür nimmt unser Hirn ziemliche Umbaumaßnahmen vor. Es bewertet Dinge, die wir schon besitzen, viel höher als neue Dinge. Verhaltensforscher können das sogar beweisen. In bizarren Versuchsanordnungen kommen sie unserer Entscheidungsschwäche auf die Spur. Zum Beispiel schenken sie Menschen einen Kaffeebecher und bieten danach an, den Becher gegen einen Schokoriegel einzutauschen. 90 Prozent entscheiden sich für den Becher. Wenn man ihnen aber zuerst den Schokoriegel schenkt, wollen 90 Prozent den Schokoriegel behalten. Fazit: Am liebsten wollen wir uns einfach gar nicht entscheiden. Darunter leiden am allermeisten die Verkäufer, die uns etwas Neues verkaufen wollen. Die reden dann sogar vom "Status-quo-Fehler", nämlich dem Wunsch, es möge einfach alles beim Alten bleiben, selbst wenn es objektiv unvernünftig ist. Das Phänomen kennen alle, die in den letzten Wochen einen Anruf vom Callcenter der Telekom bekamen: "Ihren Tarif gibt es künftig nicht mehr." Aha, es gibt jetzt 15 neue Optionen, Comfort, Classic, Plus und alles Mögliche dazu. Hilfe, kann bitte nicht alles einfach so bleiben, wie es ist? Nein, die Telekom duldet ihn nicht, den Status-quo-Fehler. Sie erzwingt eine Entscheidung.

Nicht jeden Tag aufs Neue jammern und hadern.

Und für einen neuen Telefontarif muss man im Zweifelsfall nur sein Phlegma überwinden. Aber was ist mit lästigen Gewohnheiten, mit Jobs, die nicht mehr passen, mit Beziehungen, die gar nicht mehr stimmen? Einen Job verlassen - wer traut sich das schon, seit sich die Firmen mit Horrormeldungen übertreffen: Kurzarbeit. Massenentlassung. Zwangsurlaub. Also schön festklammern an dem, was man hat. Blöd nur, wenn man längst frustriert ist, die "innere Kündigung" eingereicht hat und im Büro schlechte Stimmung verbreitet. Psychologen raten: Wem der Mut für den Aufbruch fehlt - und das ist mehr als menschlich in diesen Zeiten - möge sich dann bitte bewusst fürs Bleiben entscheiden. Aber nicht jeden Tag aufs Neue jammern und hadern.

Denn manchmal ist es ja richtig, beim Gewohnten zu bleiben. "Das Fällen einer Entscheidung ist das Wichtige", sagt die Berner Psychoanalytikerin Katharina Ley. Nicht nur bei der Arbeit. Auch bei Ehekonflikten gelte: "Wenn sich ein Mensch dafür entscheidet, bei seiner Partnerin, seinem Partner zu bleiben, fühlt sich die Beziehung anders an als vor der Entscheidung." Am meisten leiden ihre Klienten, wenn sie allzu lang das "Bewahren" und das "Beenden" gegeneinander ausspielen. Männer, die ewig signalisieren, dass sie noch, hui, mordsviele Chancen auf dem Markt haben. Frauen, die ewig hoffen, vom Status der Geliebten aufzusteigen in den Status der Ehefrau. "In der Ambivalenz kann man sich nicht für eine Beziehung engagieren", sagt Ley, "weil die Lebensenergie für das Hin und Her verbraucht wird."

Deine Worte seien ja, ja, nein, nein, steht in der Bibel. Aber mit solchen klaren Worten tun sich viele Liebende schwer. Weil sie sich zwischen zwei Beziehungen - der alten vertrauten und der neuen aufregenden - nicht entscheiden können. Das gab es immer. Oder weil sie von der großen weiten Welt der Möglichkeiten überfordert sind. Das ist neu. Die Illusion: Irgendwo da draußen - in den unendlichen Weiten des Cyberspace - gibt es noch eine klügere Frau, noch einen schöneren Mann und noch viel gigantischeren Sex. Die "Suche nach dem digitalen Paradies" nennt der Kölner Psychologe Stephan Grünewald diesen "Allmachtstraum". Den Traum: Ich muss nur lange genug suchen, dann finde ich den perfekten Partner.

Ganz nebenbei das Leben verpassen

Grünewald hat mit seinem Forschungsinstitut "Rheingold" junge Frauen auf Partnersuche befragt. "Manche verbringen jeden Abend vor dem Bildschirm und inhalieren regelrecht die Profile von sechs oder sieben Männern." Aber einen davon aus Fleisch und Blut treffen? "Dazu kommt es meist gar nicht", sagt der Forscher, "denn an dem Abend würde man ja weitere sechs bis sieben potenzielle Partner verpassen." Also bleiben viele am Computer sitzen und vermeiden eine Entscheidung. Und verpassen ganz nebenbei das Leben.

Denn jeder Liebende weiß: "Ich habe mich für dich entschieden" ist das größte Kompliment, das man sich gegenseitig machen kann. "Ich muss mit dem gehen, den ich liebe, will nicht fragen, was es kostet", hieß es in einem Liebeslied von Ina Deter. Das war in den 80ern, hach, lange her. Heute dagegen, sagen Wissenschaftler, gebe es den "Beziehungsopportunismus": Wer berufliche Netzwerke pflegt, entscheidet sich blitzschnell für solche Kontakte, die karriereförderlich sind - und vernachlässigt nette, aber weitgehend "nutzlose Kontakte". Genau dieser Beziehungsopportunismus gelte, sagt der Wirtschaftswissenschaftler Hanno Beck, auch für die Liebe: Man testet heute lange seinen potenziellen Partner, bevor man die "Festanstellung Ehe" eingeht - könnte ja noch was Besseres daherkommen. Da sieht man, wo es hinführt, wenn Ökonomen sich mit der Liebe befassen. Denn ganz ehrlich: Jeder kennt solche Typen, die auf Partys genau diesen Scanner-Blick haben: Bringt die was? Lohnt sich der Kontakt? Es sind nicht wirklich die Stimmungskanonen. Und wie unerotisch sind Männer, die erst ausrechnen, ob sich die Steuerklasse lohnt, wenn man heiratet. Ob der Job wirklich sicher genug, die Wohnung groß genug und die Riesterrente rentabel genug ist, um gemeinsam ein Kind zu planen. Und wie kränkend erst jene Männer, die sich zwar zu einer Partnerin bekennen und womöglich zusammenziehen. Aber ihr Profil vorsichtshalber bei Parship stehen lassen.

Etwas Besseres findet sich doch immer, oder? Ein noch sonnigerer Strand, eine noch coolere Party. Entscheidungen werden vertagt bis zuletzt, da helfen alle Frühbucherrabatte nichts und alle I-Phone-Outlook-Planungs-Systeme. Wer heute eine Digitalkamera kauft, kann daraus eine mittlere Forschungsarbeit machen: Wer hat die besten Bewertungen bekommen, was sagt das neue Test-Heft, wohin schickt mich www.billiger.de? Tröstlich nur: Wer lange und gründlich alle Optionen abcheckt - Wissenschaftler nennen solche Kunden die "Maximierer" -, erzielt zwar am Ende das günstigste Preis-Leistungs-Verhältnis. Aber glücklich wird er nicht, der Maximierer, haben Psychologen des Swarthmore College in den USA festgestellt. Denn er könnte ja das ultimative Schnäppchen verpasst haben. Vielleicht doch nicht lange genug gesucht? Glücklich nennen die US-Psychologen hingegen den "Genügsamen": den Kunden, der nicht ewig vergleicht, sondern sich mit einer halbwegs guten Wahl zufriedengibt.

"Genügsamkeit", was für ein altmodisches Wort. Geht ja gar nicht in Zeiten, in denen "Freche Frauen" im Buchladen so anstrengende Titel kaufen sollen wie "Ich will alles" oder "Lebe wild und unersättlich". Dabei sind solche Sätze eigentlich was für "freche Kinder". Nur Kinder, das wissen Entwicklungspsychologen, wollen wirklich alles. Und jetzt sofort. Kinderhirne können tatsächlich noch keine komplexen Entscheidungen treffen weshalb man sie übrigens auch nicht abends vor eine Speisekarte mit 23 Pizza-Kombinationen setzen soll. Das ist weder für die Kinder nett noch für die kinderlosen Gäste drum rum.

Es wird gut werden

Erwachsen werden aber heißt - sich entscheiden können. Und: sich entscheiden müssen. Je erwachsener und älter man wird, desto größer auch die Tragweite der Entscheidungen. Da geht es eben nicht mehr nur um die Entscheidung zwischen Pizza quattro stagioni oder Pizza tonno. Nicht mehr um O2 oder E-Plus, um Montessori oder Musikgymnasium. Da geht es um Lebensentscheidungen. Um Bekenntnisse. Ich mach das jetzt. Ich bleibe bei dir. Ich ziehe mit dir. Vielleicht ist das Leben dann vorübergehend nicht mehr wild und unersättlich. Aber ich vertraue darauf: Du bist der Richtige. Und es wird gut werden.

Erwachsen zu sein, Verantwortung zu übernehmen - das ist mühsam. War es immer. "Es ist so bequem, unmündig zu sein", wusste schon Immanuel Kant. "Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät beurteilt, so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen."

Wir sind mündige Bürger

Das eine Buch, den einen Arzt - das gibt es nicht mehr. Wir sind mündige Bürger, und wir könnten uns eigentlich darüber freuen. Es herrschen über uns auch keine Halbgötter in Weiß mehr, die uns sagen: Der Zahn muss raus. Oder: Sie müssen zehn Kilo abnehmen. Nein, die Arztsätze im Jahr 2009 heißen: "Es ist ja Ihr Körper." Und: "Das müssen Sie ganz allein entscheiden." Und das ist zweifellos die Zukunft, wenn man Unternehmensberatern glaubt, die mit "Patient Empowerment" ihr Geld verdienen wollen: Der Patient der Zukunft verwaltet seine Diagnosen, Patientenakten und Labordaten selber und entscheidet als "Manager seiner Gesundheit" selber, was gemacht wird und wo.

Was für eine Verantwortung! Es gibt Ärztelisten bei "Focus". Es gibt Foren im Internet, die zu jeder Diagnose eine Gruselgeschichte kennen. Entscheide ich mich für einen Arzt, habe ich mich automatisch gegen einen anderen entschieden, womöglich gegen die schickere Klinik, den geschickteren Operateur.

Können wir das überhaupt sein - Manager unserer Gesundheit, die letztlich über Leben und Tod entscheiden? Denn auch die großen Entscheidungen - Abtreibung oder nicht?, Lebensverlängerung oder nicht? - dürfen und müssen wir zunehmend selber treffen. Selbst Politiker, die sonst dem Fraktionszwang unterliegen, dürfen in diesen Fragen selber entscheiden. Und egal, wie geschickt und detailreich sie diese Gesetze am Ende formulieren - uns selber bleibt das letzte Wort.

Solche Entscheidungen, das hat Immanuel Kant schon hellsichtig erkannt, sind richtig mühsam. Und brauchen manchmal auch Zeit. Zeit, um Informationen einzuholen. Zeit, Freunde zu fragen, ob sie die Konsequenzen mittragen. Zeit zu zaudern. Denn ganz ehrlich: Es ist in Wahrheit vollkommen wurscht, ob man mit E-Plus oder Telekom telefoniert und wie viel Pixel die Kamera schafft. Das alles könnte auch ein Zufallsgenerator für uns erledigen. Dann hätten wir vielleicht den Kopf frei für die zwei, drei wirklich wichtigen Entscheidungen im Leben.

Wie wird man "Manager" seiner Entscheidungen?

Aber wie wird man "Manager" seiner Entscheidungen? Ein "echter" Manager würde Plus- und Minuslisten erstellen. Oder eine Entscheidungsmatrix zeichnen. Oder, wie im Führungskräfte-Seminar, blaue Klebepunkte auf die verschiedenen Optionen pappen. Aber ganz ehrlich: Hätte Moses auf seine Gebotstafeln erst blaue Kiesel geklebt, wäre das Volk Israel nie aus der Wüste herausgekommen.

Manchmal hilft tatsächlich nur eins: beherzt entscheiden! Auf die innere Stimme hören. Und bereit sein, die Folgen auszuhalten. Wer entscheidet, geht zwei Risiken ein: Dass man sich bei anderen unbeliebt macht - davor war auch Moses nicht gefeit, dessen Volk "murrte und haderte", wie es im Alten Testament heißt.

Und es kann passieren, dass die Entscheidung falsch war. Wäre ich in Limburg Süd ins falsche Auto eingestiegen, wäre ich vielleicht in Kassel gelandet. Immer noch besser, als paralysiert im Bahnhof Limburg zu sitzen. Wer scheitert, hat immerhin bewiesen, dass er sich zu etwas entschieden hat, dass er gehandelt hat. Scheitern ist interessanter als Erfolg, sagte der englische Karikaturist Max Beerbohm. Zumindest hat man anschließend was zu erzählen. 

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