Bringen sie der Bevölkerung wirklich Sicherheit oder drohen noch mehr Chaos und Krieg?
Hedwig Gafga, Autorin
Tim Wegner
07.10.2010

chrismon: "Nie wieder Krieg" - müssen sich die Deutschen von diesem Vorsatz verabschieden?

Bahman Nirumand: Dieser Vorsatz sollte nicht nur für Deutschland, sondern für alle Staaten zur Maxime werden. Doch offenbar gibt es Kräfte in der Welt, die meinen, ihre Interessen oder die Lösung von Problemen mit Gewalt durchsetzen zu können. Schauen Sie sich den Nahen und Mittleren Osten an. International befinden wir uns in einem Kalten Krieg, der im Hinblick auf die eskalierende Lage der Region in einen neuen Weltkrieg münden könnte.

Peter Struck: Der Krieg im klassischen Sinne als Krieg zwischen zwei Staaten ist nahezu undenkbar geworden. Wir müssen von anderen Szenarien ausgehen: von Bedrohungen durch Terrorismus, und es gibt Staaten, von denen Terrorismus ausgeht. Nach dem 11. September 2001 fiel in Deutschland die klare politische Entscheidung, dass wir uns nicht heraushalten können, sondern internationale Verantwortung wahrnehmen müssen, auch militärisch.

Nirumand: Ein Stück weit kann ich folgen: die radikalislamische Entwicklung, die wir seit einigen Jahren beobachten, verlangt eine Reaktion der Weltgemeinschaft. Die Frage ist nur, welche Reaktion. Kriege sind keine Lösung.

Struck: Wir führen ja in Afghanistan keinen massiven Krieg. Dort wird gegen die Taliban gekämpft, nicht gegen ein Volk. Wir versuchen, dem afghanischen Volk auf eigenen Wunsch und auf Bitten der Regierung zu helfen. Die Präsenz der Bundeswehr dient primär dem Ziel, die Wiederaufbauhilfe zu schützen. Momentan allerdings eskaliert die Lage, insbesondere im Nachbarland Pakistan. Von dort könnten Bedrohungen ausgehen.

Nirumand: Jeder Unternehmer zieht doch Bilanz: Die Bundeswehr ist seit sechs Jahren in Afghanistan. Was hat sie erreicht? Gut, die Soldaten haben Schulen und Straßen gebaut, Frauen sind in einigen Gegenden etwas freier als vorher. Aber Sie sind dorthin gegangen, um Sicherheit zu schaffen und demokratische Verhältnisse einzuleiten. Wir stellen aber fest, dass der Terrorismus wesentlich stärker geworden ist. In diesem Jahr gibt es 30 Prozent mehr Anschläge als im Vorjahr. Die ökonomische Situation ist verheerend.

Struck: Das mag so sein. Aber zu Zeiten der Mudschaheddin und der Taliban war Afghanistan ein failed state, ein gescheiterter Staat, Rückzugsort für kriminelle Netzwerke, es hat dort über 100 Ausbildungslager von El Kaida gegeben. Frauen waren Menschen zweiter Klasse. Es hat sich einiges verbessert. Heute gibt es die Loja Dschirga, das Parlament, und einen frei gewählten Präsidenten. Aber wir brauchen mindestens noch zehn Jahre, um das Land zu stabilisieren. Deutschland spielt eine Schlüsselrolle. Wenn wir rausgingen, wäre das ein fürchterlicher Rückschlag und hätte einen Dominoeffekt für die Präsenz anderer Staaten. Nirumand: Wenn Sie den bisherigen Weg fortsetzen, werden Ihnen die zehn Jahre auch nicht helfen. Der afghanische Staat funktioniert nicht. Im Parlament sitzen Mafiabosse und ehemalige Killer ...

Struck: Es ist kein Parlament, wie wir es kennen ...

chrismon: Wenn Sie junge Leute dafür gewinnen sollten, als Teil der internationalen ISAF-Truppen nach Afghanistan zu gehen was würden Sie ihnen sagen, Herr Struck?

Struck: Ich würde sie bitten, einem Land zu helfen. Wenn wir vor Ort sind und dafür sorgen, dass eine Mädchenschule gebaut wird, ist das für die Menschen dort greifbar. Das gilt auch für andere Regionen in der Welt. Ich frage mich oft, wie wir dem Sudan helfen könnten. Es ist dramatisch, was dort geschieht und sehenden Auges hingenommen wird. Braucht man, um zu helfen, das Militär? Ich bin überzeugt, in Afghanistan würde ohne die NATO alles zusammenbrechen!

Nirumand: Das sehe ich anders. Nach meiner Auffassung haben die Antiterrorgruppen geradezu das Gegenteil von dem erreicht, was sie sich angeblich zum Ziel gesetzt haben.

Struck: In Bezug auf Selbstmordattentäter gebe ich Ihnen recht. Gegen die gibt es keine Sicherheit - nirgendwo auf der Welt. Aber die NATO ist stärker als die Taliban und bringt mehr Sicherheit.

Nirumand: Entschuldigen Sie, die Taliban sind doch wesentlich stärker geworden. Sogar der afghanische Präsident Hamid Karsai bettelt um Verhandlungen mit den Taliban.

Struck: Wir müssen mit Gouverneuren reden, die früher bei den Taliban waren und großen Einfluss haben. Sie sollten möglicherweise sogar an der Regierung beteiligt sein.

Nirumand: Wichtig ist, dass das Volk stärker in Entscheidungen einbezogen wird, denn Demokratie lässt sich nicht von außen einbomben. Zum afghanischen Volk gehören nicht nur die Taliban, sondern auch demokratische Kräfte. Die wurden nicht einbezogen. Und was hat man mit den Milliarden an Entwicklungshilfe gemacht? Nach meinen Informationen sind nur 25 Prozent dieser Gelder in Afghanistan eingesetzt worden.

Struck: Was ist denn Ihre Antwort, sollen wir aus Afghanistan rausgehen?

Nirumand: Es braucht eine andere Strategie, eine andere militärische Struktur. Die Amerikaner sind in der Region heute so verhasst wie noch nie. Die Sicherheit Afghanistans muss durch die UNO gewährleistet werden, und zwar durch Truppen aus neutralen, islamischen Ländern. Was die NATO praktiziert, macht die Lage schlimmer.

Struck: Man muss die Strategie überdenken. Nach dem 11. September 2001 haben wir unser Engagement begonnen mit dem Ziel, staatliche Strukturen aufzubauen. Ein Land ist dann ein Land, wenn es ordentliche Sicherheitsstrukturen hat, eine Polizei und Armee. Was die Polizei angeht, haben wir Deutschen versucht zu helfen, aber das war unzureichend. Dass ein afghanischer Polizist heutzutage lieber zu den Taliban geht, wo er 300 statt 60 Dollar verdient, kann man nachvollziehen. Aber trotzdem, Herr Nirumand, war nicht alles falsch, was wir gemacht haben. Kürzlich hat die afghanische Frauenministerin uns besucht, eine Professorin, die zu Talibanzeiten sechs Jahre unter Hausarrest stand. Wenn sie erzählt, begreift man, dass sich vieles verbessert hat. Nirumand: Die Taliban sind doch für uns kein Maßstab. Unser Maßstab ist ein Land, das in Frieden und Freiheit lebt. Heute ist die afghanische Wirtschaft zu 80 Prozent von Drogen abhängig. 90 Prozent der Waren werden aus dem Ausland eingeführt.

chrismon: Herr Nirumand hat als Junge in Persien Nägel unter die Autoreifen der englischen Besatzer platziert. Spielt das Bild vom westlichen Kolonialisten auch in diesem Krieg eine Rolle?

Struck: Die meisten Afghanen empfinden unser Auftreten als Hilfe, nicht als Besatzung. Als Besatzung empfinden es diejenigen, die die jetzige, an eine Demokratie angelehnte Regierungsform ablehnen. Nur glaube ich, dass das Land noch nicht auf eigenen Füßen stehen kann.

Nirumand: Aber man müsste doch eine positive Entwicklung sehen. Die sehe ich nicht.

chrismon: Ignorieren die westlichen Akteure die Bedeutung, die Religion und Traditionen in dieser Gesellschaft spielen?

Struck: Ein deutscher Soldat erfährt ein Jahr vorher von seinem Einsatz. Er wird informiert über die Geschichte des Landes, über die Stämme und über die Rolle des Islam. Er kriegt auch ein Wörterbuch an die Hand. Andere Nationen machen diese Ausbildung nicht. Wir alle haben gedacht, die Afghanen würden von sich aus unser Modell von Demokratie übernehmen. Das war falsch. Aber in Bosnien-Herzegowina ist die Bundeswehr schon seit elf Jahren. Bis heute! Weil es immer noch keine Strukturen gibt, die verhindern, dass die Menschen sich gegenseitig ermorden. Also dürfen wir unsere Erwartungen in Afghanistan nicht so hoch setzen.

Nirumand: Es ist lobenswert, dass deutsche Soldaten sich vorbereiten. Dennoch: Egal ob im Irak oder in Afghanistan, wenn der Westen eingreift, richtet er sich nicht nach den kulturellen, religiösen Gegebenheiten des jeweiligen Landes. Man schaut aus einem einseitigen Blickwinkel und oft von oben herab auf das Land. Hätte der Westen in Afghanistan den Islam berücksichtigt, hätte man dort die Reformbewegung unterstützt.

chrismon: Aber eine islamische Reformbewegung ist in Afghanistan gar nicht vorhanden.

Nirumand: Doch! Muhamad Eghbal hat im vergangenen Jahrhundert einen großen Einfluss auf die Reformierung des Islam gehabt. Im Iran gibt es Reformer, die auch in Afghanistan bekannt sind. Ich will damit nicht sagen, dass der Westen den Islam reformieren soll. Das wäre absurd. Ich habe aber aus meinem Land Iran die Erkenntnis gewonnen, dass es ohne eine Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte, Kultur und eben auch Religion keine Entwicklung geben kann.

chrismon: Wie kann man diese Auseinandersetzung anstoßen?

Nirumand: Indem man die Reformbewegung durch Verbreitung von Schriften und durch öffentliche Diskussionen unterstützt. Struck: Das sollte man tun. Aber an eine solche Debatte in Afghanistan überhaupt zu denken, ist nur möglich, weil das Militär dieses Land stabilisiert.

chrismon: Im Iran spitzt sich die Lage zu. Könnte es sein, dass westliche Truppen auch hier militärisch eingreifen?

Struck: Man darf gar nicht daran denken, militärisch gegen den Iran vorzugehen. Das Irak-Engagement der USA war ein ganz großer Fehler. Militär ist nie die Lösung, sondern allenfalls Hilfsmittel für eine andere Lösung. In Afghanistan liegt der Schwerpunkt im zivilen Engagement.

Nirumand: Aber die Gefahr eines Krieges besteht. Es braucht nur einen Angriff Israels auf die Atomanlagen zu geben, und dann haben wir einen Flächenbrand in der ganzen Region. Das wäre das Schlimmste, was passieren könnte.

chrismon: Sie möchten das Regime im Iran also in Ruhe weiter an der Atombombe werkeln lassen?

Nirumand: Natürlich nicht. Wir sollen uns einmischen, indem wir das Regime wegen Menschenrechtsverletzungen an den Pranger stellen und die iranische Zivilgesellschaft unterstützen.

chrismon: In der Friedensdenkschrift der evangelischen Kirche heißt es: "Wer den Frieden will, muss den Frieden vorbereiten", nicht den Krieg. Können Sie mit dem Satz etwas anfangen?

Struck: Ich halte diesen Satz für absolut richtig. Die Bundeswehr und die NATO dürfen nur flankierend tätig werden. In Afghanistan muss die Verantwortung der afghanischen Regierung mehr und mehr in den Fokus kommen. Ein Präsident ist nicht überzeugend, wenn sein Bruder in den Drogenhandel verwickelt ist.

Nirumand: Mit Gewalt kann man überhaupt keine Probleme lösen. Wir sehen doch, wie viel neue Terroristengruppen der sogenannte Kampf gegen den Terrorismus hervorgebracht hat. Die Taliban sollte man durch eine aufbauende Strategie bekämpfen, die den Menschen eine Alternative bietet.

chrismon: Ist der Afghanistankonflikt ein Beispiel für einen sich verschärfenden Gegensatz zwischen der westlichen und der muslimischen Welt?

Nirumand: Dieser Gedanke ist ein Instrument der psychologischen Kriegsführung. Auch heute können Juden, Christen und Muslime so friedlich nebeneinander leben wie in den vergangenen Jahrhunderten. Das Problem liegt in den gegensätzlichen Interessen. Es geht auch nicht um Menschenrechte, es geht um geostrategische Interessen, um Öl, Gas und Absatzmärkte.

Struck: Dem widerspreche ich. Wenn man weiß, dass der 11. September von El Kaida inszeniert worden ist und islamistische Terroristen in Afghanistan ausgebildet worden sind, dann haben die Amerikaner das Recht, die Ursachen zu bekämpfen. Sie haben aber einen Fehler gemacht. Sie glaubten, mit einer schnellen, militärischen Aktion die Sache regeln und dann wieder gehen zu können. Dass man so keine Probleme von Ländern wie Irak oder Afghanistan lösen kann, liegt auf der Hand.

chrismon: In Deutschland wurde jahrzehntelang Friedenserziehung großgeschrieben. Kürzlich sagte ein US-General, die Deutschen müssten wieder töten lernen. Was muss die Jugend lernen?

Struck: Sie soll lernen, dass wir internationale Verantwortung haben. Und dass diese Verantwortung bedeuten kann, dass wir töten müssen und wir auch getötet werden können. Das müssen die Deutschen lernen. Dass viele Leute sich dem verweigern, aus unserer Geschichte heraus, kann ich verstehen. Ich bin kein Militarist. Aber so einfach ist die Welt nicht. Wir tragen Verantwortung, auch aus humanitären Gründen.

Nirumand: Europäer und Amerikaner sollten lernen, andere Völker als gleichberechtigt zu akzeptieren. Wenn die USA andere Wege gehen wollen, müssen die Europäer Widerstand leisten. Das gab es vor dem Irakkrieg, als Deutsche und Franzosen gesagt haben: Nein! Aber nun gibt es eine Annäherung. Als ich hörte, wie Frau Merkel in Washington über den Iran sprach, lief mir ein Schauer über den Rücken.

chrismon: Aber was soll die Jugend in Europa lernen, Herr Nirumand?

Nirumand: Als die Mauer fiel, habe ich gedacht: Europa wird zum Fahnenträger des Friedens. Europa hat eine lange Geschichte, von der Aufklärung, über den Faschismus und dessen Aufarbeitung bis zur Demokratie. Die Jugend sollte um Frieden und Menschenrechte kämpfen. So könnte Europa tatsächlich zum Fahnenträger des Friedens werden.

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