Die kleine Christuskirche am Stadtrand platzt sonntags oft aus allen Nähten. Und dem Pastor geht es gar nicht um die Gemeinde ­ sondern um Größeres. Eine Profilgemeinden in Solingen
Portrait Burkhard Weitz, verantwortlicher Redakteur für chrismon plusLena Uphoff
07.10.2010

Julia Rasemann ist ziemlich beunruhigt. Warum muss der Reporter ausgerechnet an diesem Sonntag den Gottesdienst inspizieren, wo doch ein auswärtiger Prediger kommt und der Besuch schwach ausfallen wird. Nur 159 Anwesende zählt die Ehrenamtliche in der Christuskirche Solingen-Rupelrath. Zwar ist fast jeder Stuhl im Kirchlein mit den eckigen Ziersäulen und dem schlichtweißen Apsisrund besetzt. Aber eben nur fast jeder! An anderen Sonntagen ist das Hauptschiff berstend voll.

Christuskirche heißt der Solinger Publikumsmagnet an der Bundesstraße 229, Abzweig Leverkusen-Opladen. Ein Fünfzigerjahre-Bau unter großen Bäumen, weiß verputzt und mit steilem Schrägdach. 2500 Gemeindeglieder, anderthalb Pfarrstellen, 220 Ehrenamtliche.

Die Gottesdienste sind ungewöhnlich gut besucht. Es kommen überwiegend Menschen zwischen 30 und 60, die Altersgruppe, die sonst in der Kirche fehlt. Für 2004 weist die Statistik durchschnittlich 210 Kirchgänger pro Sonntag aus, 2005 waren es 239, im vergangenen Jahr sogar 259. Zahlen, die manch andere Gemeinde neidisch machen.

Dabei ist das hier ein ganz normaler Gottesdienst. "Kyrie eleison", stimmt der Pfarrer an, "Herr, erbarme dich", antwortet die Gemeinde, traditionelle liturgische Formeln. Für seine Predigt über Jesaja 40 ("Bereitet dem Herrn den Weg") fällt dem Gastprediger ein netter Einstieg ein ­ der Werbeslogan einer Bank: "Wir machen den Weg frei." Gute Rhetorik, aber kein Anlass für massenhaften Zulauf. Zum Schluss bietet sich am Ausgang eine Ansprechpartnerin für Neue an, die Anschluss an die Gemeinde suchen. Ein Gesprächsangebot, nichts Aufdringliches.

Alles konventionell - warum ist hier so viel los?

Auch das Kirchcafé mit Tee und Keksen ist konventionell. Trotzdem drängen sich Besucher auf dem hellen Parkett. "Ein einzelner Gottesdienst mag durchschnittlich sein", sagt Julia Rasemann. Die Anwältin spricht laut, um im Stimmengewirr durchdringen zu können. "Erst wenn ich alle Gemeindeaktivitäten wie ein Puzzle zusammenfüge, sehe ich das Einzigartige." Eines ihrer Ehrenämter ist Pressearbeit: "Aber Gemeindewachstum ist keine Frage des Marketings. Es müssen Mitarbeiter da sein, die aus einer gemeinsamen Überzeugung heraus arbeiten."

Pfarrer Hans Wilhelm Ermen, 58, ist auch da, gestutzter Bart, randlose Brille, aus dem Pulli guckt ein Hemdkragen hervor. Ermen ist ein eher stiller, bedächtiger Mann. Als er 1978 seine Arbeit in dieser Gemeinde aufnahm, kamen vielleicht zwanzig Menschen in den Gottesdienst, und das galt damals als unabänderlich. Die einzig wirklich funktionierende Gemeindegruppe damals: 15 Frauen aus der Frauenhilfe. Der Kirchenchor drohte einzugehen.

Die pietistisch-erweckte Frömmigkeit des angrenzenden Bergischen Landes habe auf Solingen nicht abgefärbt, erklärt Ermen das lokale, oft unreligiöse Milieu: "Die ortsansässigen Scherenschleifer waren immer äußerst kirchenkritisch." Noch heute sei ein Viertel der Vorkonfirmanden in seiner Gemeinde nicht getauft, gebe es zwei Erwachsenentaufen im Jahr ­ erfolgreiche Mission in ungläubiger Umgebung.

Ende der Siebzigerjahre begann Ermen mit dem Gemeindeaufbau. Im Jugendcafé Scandalon stand ein Kickertisch. Jugendliche kamen, um sich zu vergnügen. Aber Ermen machte eines zur Bedingung: "In den letzten zehn Minuten will ich euch erzählen, was mir wichtig ist." Einige Jugendliche wurden neugierig, er holte sie zum Bibellesen ins Pfarrhaus.

Die Gemeinde räumte ihre Kirche leer, richtete sie als Café wieder ein

Hans Wilhelm Ermen erzählte im Kindergarten Bibelgeschichten, er erklärte Taufeltern die Bedeutung einer christlichen Erziehung und gründete Jugendgruppen für Konfirmierte. All das tun viele andere Pfarrer, aber längst nicht jeder findet damit Gehör.

Warum trotzdem nach zehn Jahren der Gottesdienstbesuch in seiner Gemeinde auf durchschnittlich 177 pro Sonntag angestiegen war? "Hans Wilhelm hat eine liebevolle Art, Menschen auf ihren Glauben anzusprechen", sagt Rasemann. "Es geht darum, zu Gott eine lebendige Beziehung zu haben", meint Ermen.

Anfang der Neunziger stagnierte das Gemeindewachstum, der Gottesdienstbesuch pendelte sich zwischen 150 und 160 ein ­ auch schon eine respektable Reichweite. Aber die Gemeinde gab sich nicht zufrieden. Sie arbeitete an ihrem Leitbild, wollte sich "in einer heillosen Welt, die von zunehmender Einsamkeit und Kälte geprägt ist, einmischen und heilsame Orte schaffen, an denen Menschen den Glauben suchen und ihn unverblümt leben und weitergeben können".

Die Gemeinde räumte ihre Kirche leer, richtete sie als Café wieder ein: Talkrunden für Distanzierte ­ die gibt's in anderen Gemeinden auch. Sie organisierte Glaubensseminare für Erwachsene ­ an sich nichts Neues. Ein landeskirchliches Amt für Missionarische Dienste vertreibt das Konzept: "Christ werden ­ Christ bleiben". Inzwischen organisiert Julia Rasemanns Ehemann alle anderthalb bis zwei Jahre solche Kurse. Zwölf Hauskreise, jeder mit neun bis 14 Teilnehmern, sind daraus entstanden, eigenständig geleitet von Ehrenamtlichen.

Als 1996 Wolfgang Arzt, ein für Freikirchen ausgebildeter Pastor, die Jugendarbeit in der Gemeinde übernahm, wurde der Jugendgottesdienst völlig umgestaltet. Jetzt spielt eine Band, es gibt Lobpreis vor der Predigt, Jugendliche teilen Glaubenserfahrungen mit, formulieren Gebete. Alles sehr fromm. "Ich kann dazu stehen", sagt Ermen und wiederholt: "Es geht um die lebendige Beziehung zu Gott."

700 Jugendliche drängen sich beim längsten Gottesdienst in Solingen

"On Fire" heißen die Jugendgottesdienste, sinngemäß: "entflammt". Als 2005 der Zustrom von Jugendlichen so groß wurde, dass die Feiern aus feuerpolizeilichen Gründen nicht mehr in der Kirche stattfinden konnten, zog On Fire in die kommerzielle Diskothek "Getaway" im benachbarten Stadtteil Solingen-Ohligs um, wo der Kirchenkreis schon zuvor christliche Rockkonzerte zelebriert hatte ­ auch auf Initiative der Kirchengemeinde Rupelrath.

Sonntagabend, zehn vor sieben. Hinter der Kurve, schräg gegenüber vom Opelhändler, ragt ein alter Fabrikbau in die Nacht. Industriegotik. Über einer Laderampe hat sich ein Tattoostudio eingerichtet, aus dem Kellereingang dahinter dringt ein Geruchsmix aus feuchtem Staub und abgestandenem Zigarettenrauch. Jugenddisco "Getaway". Gruppen von Jugendlichen strömen hinein, zwei Mädchen am Eingang zählen: "376, 377, wie viele seid ihr?" ­ "Sechs." ­ "383."

Eine Bar mit Apfelsaft, O-Saft, Soda, ein Stand mit "On Fire"-Stickern, Buttons, Prospekten der christlichen Rockszene. Hinten der Tanzsaal im Werkshallenstil, geschwärzte Wände, dicke Metallträger, rot lackierte Abluftrohre. Musik vom Band, ein Projektor wirft den Spruch "Nähert euch Gott, und er wird sich euch nähern" an die Wand.

Auf der Bühne zwei siebenarmige Leuchter. Um zehn nach sieben beginnt die Band zu spielen, der Sänger intoniert "Come, like you promise", fast 700 Jugendliche drängen sich auf Tanzfläche und Empore. "Willkommen zum längsten Gottesdienst in Solingen", grüßt Gitarrist Wolfgang Arzt. Gelächter. "Jesus, danke, dass du da bist." Handflächen ragen in die Höhe, Jugendliche scheinen mitzusingen, aber die Lautsprecher überdröhnen alles.

Später sitzen alle auf dem Boden, David Pierce, ein Punker mit blonden Rastahaaren tritt auf, berichtet von christlichen Gruselauftritten in Gothic-Clubs mit Vampiren und zerfledderten Tieren ­ Stofftieren natürlich. Er erzählt, wie Jesus einen Dämon in eine Schweineherde verbannt, die sich ins Wasser stürzt. Und welche inneren Schweine man in sich abtöten müsse: das Beziehungsschwein, das Sicherheitsschwein, das Stolzschwein, das Anerkennungsschwein.

"Die beste Mission ist noch immer, wenn sich herumspricht: Da läuft was"

"Ich bitte alle, die heute Abend ihr Leben Jesus übergeben wollen, aufzustehen", sagt Pierce. Langes Schweigen, keiner regt sich. Pierce redet weiter, er kämpft mit Worten, "zweiter Aufruf". Einige stehen auf, "ich spüre, da sind noch mehr, die sich jetzt zu Jesus bekennen wollen", weitere stehen auf, schließlich stehen fast alle Jugendlichen auf der Tanzfläche, "sprecht mir nach: Ich will, dass du, Jesus, das Schwein in mir abtötest, . . . , ihr müsst lauter sprechen, ich höre euch nicht!"

Unter den gut 40 Jugendlichen, die der Reporter nach dem Gottesdienst in der Diskothek Getaway befragt, findet sich nur einer, der Pierce' Bekenntnisaufruf als Gruppenzwang erlebte. Dennoch: Wie weit darf eine volkskirchliche Gemeinde mit ihrer Überzeugungsarbeit gehen? Soll sie Evangelikalen, die mit solchem Nachdruck missionieren, eine Bühne geben?

"Bei uns im Gottesdienst muss sich keiner für Jesus Christus entscheiden", sagt Pastorin Claudia S. aus Ohligs, der Nachbargemeinde von Rupelrath. Sie wirkt sehr energisch an diesem Punkt. Doch, es gebe einen Unterschied der Frömmigkeitsstile zwischen den Nachbargemeinden. Ihn zu benennen falle ihr aber schwer, auch ihrem Mann, der ebenfalls Pfarrer ist.

"Das ist ganz bestimmt nicht mein Stil", kommentiert auch Pfarrer Ermen den Bekehrungsaufruf in der Jugenddisco. "Das war untypisch für unsere Gemeinde. Ich wäre abwartender, zurückhaltender gewesen. Aber wir wussten, was auf uns zukommt, als wir David Pierce zu On Fire einluden. Und solange es in der Sache stimmt, stehe ich auch dazu."

Tatsächlich kann in der Rupelrather Gemeinde von Überrumpelung oder religiöser Übergriffigkeit nicht die Rede sein. "Wir sind eine einladende Gemeinde. Aber mir ging es nie darum, dass wir die Bude vollkriegen", sagt Ermen. "Die beste Mission ist noch immer, wenn sich herumspricht: Da läuft etwas. Das ist interessant. Da geht man dann auch hin."

Es kommt auf die Botschaft an. Der Rest ergibt sich

Die Nachbarschaft der Gemeinden in Ohligs und Rupelrath ist ein Kapitel für sich. Ohligs hat eine Großgemeinde mit vier Pastoren in drei Bezirken, alle etwas über vierzig. Der Generationswechsel unter den Ohligser Pastoren vollzog sich in den vergangenen sechs bis zwölf Jahren. Längst stehen sie in den Startlöchern und hoffen auf steigenden Zulauf in ihren Gemeindebezirken. Auch ihre Gemeinde wolle gegen den Trend wachsen, betont das Pfarrerehepaar S..

Im Vergleich zu Ohligs ist Rupelrath eine Kleingemeinde, die aber längst eine große Ausstrahlungskraft hat. Das Pfarrerehepaar S. aus Ohligs muss hinnehmen, dass einige sehr engagierte Kirchenmitglieder aus ihrem Bezirk nach Rupelrath umgemeindet sind. Pfarrer Ermen weiß, dass es Unmut gibt, wenn Jugendgottesdienste seiner Gemeinde unangemeldet in eine Disco ausweichen, die zufälligerweise im Stadtteil Ohligs liegt. Da fielen schon Worte, an die sich heute keiner mehr gern erinnert. Von "Hoheitsgebiet" war die Rede, von der Gefahr, dass man sich gegenseitig "das Wasser abgräbt".

"Es geht mir um Größeres als Gemeindeaufbau", betont Pfarrer Ermen. "Es geht um die Kirche Jesu Christi." Mit seiner Begeisterung für Mission scheint er Kollegen zu verunsichern. Eine Pressemitteilung zur Kirchenkreissynode vor drei Jahren brachte diese Irritation auf den Punkt: "Wo lässt sich im Gespräch mit Nicht- oder Andersgläubigen die Grenze ziehen zwischen der Begeisterung für die eigene Sache und dem religiösen Hausfriedensbruch?" Ermen antwortete damals sehr emphatisch: "Du bist ein wunderbares Wesen. Du bist nicht verloren. Du bist zur Freiheit befreit. Wer glaubt, kann nicht stumm bleiben. Wer glaubt, hat etwas zu erzählen von der Güte Gottes."

Der Kirchengemeinde Rupelrath steht laut landeskirchlichem Besetzungsplan nur eine Pfarrstelle zu. Aus eigenen Mitteln leistet sich die Gemeinde eine halbe Pfarrstelle für Distanziertengottesdienste. Ein weiterer Pfarrer vertritt Ermen zu fünfzig Prozent, weil der zugleich stellvertretender Superintendent ist. Drei Pfarrer in Rupelrath ­ aus Nachbargemeinden hört man zuweilen neidische Stimmen: Kein Wunder, dass dort die Arbeit so gut laufe, bei der personellen Ausstattung!

Pfarrer Ermen ist 58 Jahre alt. Was passiert, wenn er in sieben Jahren in den Ruhestand geht? "Die meiste Arbeit machen wir Ehrenamtlichen längst selbst", sagt Julia Rasemann. "Ich denke, dass das so weiterläuft." Auch Burkhard Tetzlaff, Küster in der Gemeinde, ist gewiss: "Gott wird den richtigen Pfarrer für uns finden. Es kommt darauf an, dass er die Botschaft von Jesus Christus verbreiten will. Der Rest ergibt sich."

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