Barbara und Kurt Aland (1988) Foto: Tobias Aland / Wikimedia Commons
Frau Aland und der Zauber von P 52
P 52 ­ wie kann man eine Leidenschaft für etwas entwickeln, was so heißt? Barbara Aland kann es. Sie erforscht den wahren Text des Neuen Testaments und untersucht dafür uralte Handschriften. Die tragen öde Namen, können einen aber in eine andere Zeit hineinlocken
Portrait Burkhard Weitz, verantwortlicher Redakteur für chrismon plusLena Uphoff
07.10.2010

Die meisten hassen sie. Die Textkritik ist für Theologiestudenten ein rotes Tuch. Textkritik! Schon der Name versprüht Langeweile. Das Wort bedeutet: Wer die Bibel erforscht, muss erst überlegen, wie wohl ihr Text ursprünglich lautete. Originale der biblischen Schriften gibt es nicht mehr, nur Abschriften. Und die enthalten Fehler. Kleine Fehler. Mühsam wägt der Student Varianten ab. Doch egal wie er sich entscheidet, meist ergibt sich kein großer Bedeutungsunterschied. Manchmal geht es um ein "aber". Manchmal ist fraglich, ob "Jesus" vor "Christus" stand oder dahinter.

Wo sich andere entnervt abwenden, fängt für Barbara Aland der Spaß erst an. Aland leitet das Institut für neutestamentliche Textforschung in Münster, Westfalen. Eine schlanke 66-Jährige in braunem Pullover und grauem Rock. "Das muss man sich mal vorstellen", sagt sie: "Die Schriften des Neuen Testaments sind so oft abgeschrieben worden, und dabei haben sich so wenige Fehler eingeschlichen!"

Hier entsteht die Textgrundlage für fast alle modernen Bibelübersetzer

33 unsichere Varianten, welche die Bedeutung entscheidend verändern, zählt die Stuttgarter Erklärungsbibel in ihrem Anhang auf. Hinzu kommen Zusätze wie die Auferstehungsberichte des Markusevangeliums (16, 9­-20) oder die Geschichte, in der Jesus der Ehebrecherin vergibt (Johannes 7, 53­ - 8, 11): Sie fehlen in den ältesten Handschriften. Doch das sind immer noch weniger als 40 gravierende Änderungen auf 459 Seiten Neues Testament.

Die Treue zum Wortlaut seit bald 2000 Jahren ist für Frau Aland die eigentliche Sensation. Und Aland erzählt von antiken, ägyptischen Berufsschreibern, die nach Dienstschluss bei einer schwach leuchtenden Funzel Seite für Seite kopierten, oft ohne sich ein einziges Mal zu verschreiben. Sie erzählt von der Mühe, welche Generationen von Abschreibern auf die Erhaltung des Bibeltextes verwandten. Dafür kann sich Frau Aland nun wirklich begeistern.

Georgskommende 7, Ecke Stadtgraben. An der großen Ringstraße um die Münsteraner Innenstadt liegt ein klassizistischer Flügel der Westfälischen Wilhelms-Universität. Eine Tafel am Eingang weist auf das Institut hin. Hier entsteht die wissenschaftliche Ausgabe des griechischen Neuen Testaments, Textgrundlage für alle modernen Bibelübersetzer. "Nicht für alle", insistiert Frau Aland. "Die Orthodoxen bestehen auf ihrem liturgischen Text."

Jeder evangelische Pastor von Quickborn bis Kinshasa kennt die Namen Nestle und Aland

Barbara Aland ist kommissarische Institutsleiterin im Ruhestand. Sie ist die Nachfolgerin ihres Mannes, des berühmten Bibelforschers und -sammlers Kurt Aland. Der war Nachfolger von Erwin Nestle, dem Sohn des berühmten Herausgebers Eberhard Nestle, mit dessen griechischem Neuen Testament von 1898 alles begann. Im kommenden Jahr soll es einen neuen Institutsleiter geben. Erstmals einen, der weder Nestle noch Aland heißt. Dann geht eine über hundertjährige Ära zu Ende.

Jeder evangelische Pastor von Quickborn bis Kinshasa kennt sie, die Namen Nestle und Aland. Sie sind golden eingraviert auf dem blauen Leineneinband des wissenschaftlich bearbeiteten Neuen Testaments, des Standardwerks für Theologiestudenten. "Nestle-Aland" nennen die einen das Büchlein liebevoll, andere sagen ganz akademisch: "NT-Graece". Bei vielen steht es seit ihrem letzten Examen weitgehend unbenutzt neben dem hebräischen Alten Testament. Und verstaubt.

Barbara Alands Schreibtisch ist blitzblank. Ein Manuskript liegt in der Mitte, daneben wohl geordnete Stapel. Am anderen Ende des Raums ist eine Sitzecke, Bilder hängen überm Sofa, darunter ein ausgeblichenes Foto wie ein Bild aus guten, alten Zeiten. Zu erkennen ist eine längliche Kontur, ein unruhiger, ausgefranster Rand, Buchstaben. Eine Papyrus-Handschrift.

"Seines Wohlgefallens" oder "ein Wohlgefallen"?

Ob sie sich mächtig fühle, bedeutend, einflussreich? Weil sie den Text herausgibt, aus dem heute fast alle Neuen Testamente übersetzt werden. "Es muss gemacht werden", sagt sie. "Wir haben eine Aufgabe als Dienstleister, die haben wir zu erfüllen."

Manchmal mussten die Nestles und Alands ganz große Entscheidungen treffen. Auch wenn das nicht oft passiert. Laut moderner Luther-Bibel loben die Engel in der Weihnachtsgeschichte Gott und singen: "Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens." Der Reformator Martin Luther selbst hatte noch übersetzt: "...und Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen."

"Seines Wohlgefallens" oder "ein Wohlgefallen"? Gilt die Weihnachtsbotschaft nur denen, die Gott wohl gefallen? Oder gilt sie allen Menschen? Jedes Jahr lauschen weltweit über eine Milliarde Christen an Heiligabend der Weihnachtsgeschichte. Da möchte man schon wissen, welche Version die richtige ist. "'Des Wohlgefallens müsste es eigentlich heißen", sagt Frau Aland. "Genitiv ohne Personalpronomen." Gemeint sei, dass die Weihnachtsbotschaft ausnahmslos allen Menschen gilt.

Aus Kollegen wurde ein Paar, 1972 eine Gelehrtenehe

"Weil das in alten Handschriften so steht", begründet Aland ihre Entscheidung. "Und weil es die schwierigste Lesart ist." Die schwierigste Lesart? "Ja," sagt sie. Wenn sie überhaupt den Text änderten, dann hätten die sorgfältigen Abschreiber eine unverständliche Formulierung verständlicher gemacht. Nicht umgekehrt. Doch Alands Entscheidung ist bloß eine Empfehlung. Mit Hilfe der wissenschaftlichen Ausgabe des Neuen Testaments kann sich jeder geschulte Leser selbst ein Bild machen.

Für fundierte textkritische Entscheidungen braucht man möglichst viele alte Handschriften. "Textzeugen" nennen sie die Wissenschaftler. Und teilen sie ein in gute und schlechte, je nach Alter und Genauigkeit. Auf der Suche nach Textzeugen war der 1994 verstorbene Kurt Aland in den sechziger Jahren durch Europa gereist: nach Griechenland, Süditalien, ins Katharinenkloster auf dem Sinai. Und in die großen europäischen Bibliotheken und Museen. Über 5000 Fotos und Mikrofilme alter Handschriften des griechischen Neuen Testaments erwarb er fürs Institut. Dann setzte er sich hin und verglich. Seite für Seite, Wort für Wort.

"Für keinen anderen Text der Welt hätte ich so viel Aufwand getrieben wie für das Neue Testament", soll Kurt Aland einmal gesagt haben. "Heute wird man da ein bisschen vorsichtiger", sagt Barbara Aland. "Ich hätte niemals nur Textkritik machen wollen." Sie studierte Altphilologie, promovierte über den Sokrates-Schüler Aischines und habilitierte über den syrischen Gnostiker Bardaisan von Edessa (154­-222). Ende der sechziger Jahre rief Kurt Aland sie ans Institut nach Münster. Aus Kollegen wurde ein Paar, 1972 eine Gelehrtenehe. Elf Jahre später übernahm Barbara Aland die Institutsleitung. "Mit ambivalenten Gefühlen", sagt sie rückblickend. "Ich hätte gern auch etwas anderes gemacht."

Im 13. Jahrhundert wusch man die Tinte ab und beschrieb das Pergament neu

Wie kam sie überhaupt zu diesem Lebenslauf? "Ich werde oft nach meinem biografischen Hintergrund gefragt. Aber da ist nichts", sagt sie. Neulich sollte sie darüber etwas für einen Sammelband schreiben. Ihr Beitrag sei so unpersönlich, habe eine Kollegin moniert. "Ich weiß nicht, was ich anderes hätte schreiben sollen", sagt Aland. "Nach dem Krieg haben wir gehungert. Wir sind durch ganz Deutschland gezogen. Wir waren im zerstörten Breslau. Das sind unschöne Erinnerungen. Ich weiß nicht, wen das interessieren sollte."

Zu Besuch bei P 52. Mit Frau Aland steigt man eine große Haustreppe hinunter ins Reich der Erinnerung an eine ganz, ganz alte Vorzeit. Hinab ins Reich der Papyri, Pergamente und alten Bibeldrucke. Im Hochparterre des Münsteraner Instituts liegen hebräische, griechische, koptische, armenische, äthiopische, lateinische Bibeln in Glasvitrinen auf fünf Räume verteilt. Handgeschriebene und gedruckte Bibeln, eine bebilderte Volksbibel aus der Reformationszeit, Originale, Faksimiles.

Die größte Kostbarkeit ist ein doppelt beschriebenes Pergament, ein Palimpsest: Im achten Jahrhundert war es ein Evangelienbuch, im 13. Jahrhundert wusch man die Tinte ab und beschrieb das Pergament neu, diesmal als Evangeliar für den liturgischen Gebrauch. Unter ultraviolettem Licht wird die abgewaschene Schicht heute wieder sichtbar.

Auf Kamelrücken ins Katharinenkloster

Einige Ausstellungsstücke dokumentieren die Geschichte der Textkritik. So die griechische Bibel des Erasmus von Rotterdam, Zeitgenosse des Reformators Martin Luther. Der große Humanist hatte 1516 die "Editio princeps" herausgegeben, den angeblich ersten griechischen Bibeldruck. Tatsächlich war es bloß der zweite. Dafür galt er jahrhundertelang als Standardwerk.

Im gleichen Raum liegt eine Bibelausgabe von Johann Albrecht Bengel (1687 bis 1752). Der württembergische Pietist hielt den Heiligen Geist für den wahren Autor der Bibel. Und er wusste von abweichenden Überlieferungen. Nichts schien Bengel wichtiger, als die vom Geist diktierte Fassung wiederzuerlangen. Er verglich Handschriften und verbesserte die Standardausgaben. So war die Textkritik geboren.

Auch eine Bibelausgabe Konstantin von Tischendorfs (1815 bis 1874) ist zu bewundern. Der gelehrte Abenteurer war auf Kamelrücken ins Katharinenkloster gereist und hatte dort eine fast vollständig erhaltene Bibel aus dem vierten Jahrhundert entdeckt. Nur wenigen Wissenschaftlern gelingt so ein Fund. Tischendorf machte ihn zur Grundlage für sein griechisches Neues Testament.

Kaum ein Papierschnipsel hat so viel Aufsehen erregt wie dieses

Durch ein Fenster fallen Sonnenstrahlen auf zwei Papyrus-Pflanzen. "Die sind aus dem Blumenladen", sagt Aland. "Wir müssen sie ständig nachkaufen. Papyrus geht in unserem Klima so schnell ein."

In einer Glasvitrine darunter liegt ein Fetzen Papier, geformt wie die Landkarte Afrikas. Griechische Majuskeln sind zu erkennen, Großbuchstaben. Daneben steht "P 52". P wie Papyrus, 52 nach fortlaufender Zählung. P 52 ist das älteste erhaltene Stück des Neuen Testaments. Hier ist allerdings nur eine Kopie zu bewundern. Das Original ist in Manchester, England. Alands Mitarbeiter haben es nachgebildet. Sie haben eine Papyruspflanze aus dem Blumenladen abgeerntet, die Blätter geplättet, getrocknet, verklebt, beschnitten und beschriftet.

P 52! Kaum ein Papierschnipsel hat so viel Aufsehen erregt wie dieses. Schon die Geschichte seiner Entdeckung liest sich wie ein Märchen. Der englische Forscher Colin Henderson Roberts fand das Fragment 1935 in einer Zigarrenkiste, in einem Stapel ägyptischer Papyri zur näheren Durchsicht. Roberts las griechische Wortfetzen: "die Juden: Wir .../ niemand. Damit das W .../ -agt hatte, um zu zeigen, .../ sterben würde / -rium der P .../ und fragte .../ -den ..." Auf der Rückseite stand: " ...zu geboren und / ..., dass ich bezeuge die / ...aus der Wahr- / ...Und als er das / ...den Ju- / ...ei..."

Was dem Laien wie Buchstabensalat vorkommt, war dem Gelehrten wohl vertraut. Roberts hatte einen Auszug aus dem Johannesevangelium vor sich: Pontius Pilatus verhört Jesus. Johannes 18, 31-­33 und Johannes 18, 37-­38, geschrieben spätestens um das Jahr 125 nach Christus.

P 52, P 72, P 45, P 46 und P 47! Oder auch P 75!

Welch eine Sensation! Bis zur Entdeckung von P 52 hatten viele geglaubt, Johannes habe sein Evangelium erst nach 125 vollendet. Nun war bewiesen, dass das in Syrien geschriebene Werk damals schon bis Ägypten verbreitet war. Andächtig steht Frau Aland vor dem Glaskasten.

P 52 ist nicht allein. Daneben liegt P 72. Ein Querformat zwischen zwei Holzdeckeln, handgeschriebene Zeilen im Flattersatz, dazwischen Korrekturen. Auf der linken Seite ein krickeliger Kasten, darin auf Griechisch: "Zweiter Petrusbrief". Darunter: "Friede dem, der das geschrieben hat, und dem, der das liest." Ist P 72 auch so bedeutsam wie P 52? Aland wehrt ab: "Nein, nein, das war kein professioneller Schreiber. Da hat jemand für den persönlichen Bedarf ein paar Schriften seiner Wahl auf Papyrus-Restposten zusammengestellt."

P 52, P 72, P 45, P 46 und P 47! Oder auch P 75! Namen, die das Herz des Papyrologen höher schlagen lassen. Welcher denn ihr Lieblingspapyrus sei? Aland wundert sich nicht über die Frage. Klar, sie hat ihre Sympathien für Papyri unterschiedlich verteilt. Aber ihr Lieblingspapyrus, welcher könnte das sein? "Vielleicht P 45", sagt sie und lächelt versonnen. Nicht umsonst hängt P 45 als ausgeblichene Fotografie in ihrem Arbeitszimmer ­ hinten, überm Sofa. P 45 enthält die vier Evangelien und die Apostelgeschichte, allerdings fehlen Verse, oft auch ganze Kapitel. Die sind abgerissen und für immer verloren gegangen.

Realien hinter den Schreibern

Aland gerät ins Schwärmen. "Da ist ein Schreiber am Werk, der sehr genau sein will und der intelligent und schnell abschreibt." ­ Man staunt. Woher kennt sie den Schreiber? "Seine Schrift fällt auffällig schräg nach rechts. Daran sieht man, dass er schnell schrieb", sagt sie. Klingt plausibel. Aber warum intelligent? "Nehmen Sie Johannes 10, 34", fährt sie fort. "Da sagt Jesus einen furchtbar komplizierten Satz: 'Steht nicht in eurem Gesetz geschrieben: Ich habe gesagt, ihr seid Götter. Wenn er jene Götter nannte, an die das Wort Gottes erging ­ und die Schrift kann nicht aufgelöst werden ­, sagt ihr von dem, den der Vater geheiligt und in die Welt gesandt hat: Du lästerst, weil ich sagte: Ich bin Gottes Sohn?' Der Schreiber von P 45 glättet den Satz, macht ihn straffer, übersichtlicher, weil er ihn auf Anhieb versteht. So etwas passiert ihm selten. Er tut es ohne Arg. Daraus schließe ich, dass er nicht nur schnell schrieb, sondern auch schnell begriff. Ein intelligenter Schreiber!"

Unheimlich ist dem Besucher zumute. Wie bei einer Geisterbeschwörung. Als habe er Kontakt zu jemandem, der vor 1700 Jahren diesen Papyrus beschrieb. Einer, dessen Persönlichkeit durch die Schriftzeichen bis heute hindurchschimmert.

Frau Aland sieht das alles viel nüchterner. "Das sind so Realien, die hinter den Schreibern stehen", sagt sie. "Es waren kluge Menschen. Manche waren auch ein bisschen töricht. Aber die meisten schrieben Wort für Wort ab und waren dabei ziemlich genau." So penibel, wie die Bibelforscher von heute. Vielleicht gibt es ja eine stille Absprache zwischen den Generationen, dass sich die Bibel niemals ändern darf.

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