Er hätte weglaufen sollen
Rami ist ein arabischer Junge in Israel. Er wollte ein Selbstmordattentat verhindern, aber es hat nicht geklappt. Er würde es wieder tun. Auch wenn er seither wie ein Wrack lebt, mit großen Schmerzen, ohne Freunde, ohne Sinn
07.10.2010

Da sind die Eisensplitter in den Leberlappen und die 13 Zentimeter lange Titanschraube im Oberschenkel; die Elf-Stich-Narbe am Hals und die zwei abgebrochenen Zähne, die zerbarsten, als der Kopf auf den Asphalt krachte. Aber was heute wirklich an Rami Machamid zehrt, sind nicht die äußeren Verletzungen von damals, von jenem Mittwoch, dem 18. September 2002. Was an ihm zehrt, ist das, was seitdem tagtäglich mit ihm geschieht.

Er würde es wieder so machen, sagt er

Die Geschichte von Rami Machamid ist die Geschichte eines arabischen Jungen in Israel, der sich entschieden hat: für eine Seite, die es nicht gibt. Nicht für die palästinensische, nicht für die israelische, sondern für die menschliche. Er würde es wieder so machen, sagt er. Und doch ist er an seiner Entscheidung gescheitert.

Eine tiefe Kerbe in seiner Lippe erzählt davon. Die hat Rami selbst gemacht. Rami nimmt die rechte Seite seiner Unterlippe zwischen die Zähne, wiegt mit den Schneidezähnen hin und her, als ob er ein sehniges Stück Fleisch durchtrennen wollte. Zentimeter für Zentimeter lässt er seine Lippe nach links wandern. Und dann wieder zurück. "Spüren, dass man noch da ist", nennt Rami das.

Die Geschichte beginnt an einem schwülen Mittwochnachmittag an der Busstation von Um el-Fachem. Rami, 17 Jahre alt, will zu seinem Freund Fahdi fahren, nach Musmus, ein kleines Dorf, nur eine Haltestelle entfernt. Er will sich mit ihm zusammen aufs Dach setzen, Kaffee trinken, quatschen. Rami ist zufrieden. Am Vormittag hatte er noch einen Schrank fertig geschreinert. Der Meister hatte ihn gelobt, vor allem die gekanteten Eckverbindungen seien ihm gut gelungen. Um kurz nach vier verlässt Rami seine Lehrstelle.

Allein traut er sich nicht mehr aus dem Haus.

Seit diesem Tag, der nun bald vier Jahre zurückliegt, lebt Rami das Leben eines Wracks. Mit vielen Schmerzmitteln und ohne Aufgabe. Er kann nicht mehr arbeiten. Unfähig zur Konzentration, heißt es in seiner Krankenakte, von Lärm bekomme er eine Art epileptischen Anfall. Rami hängt rum, Fernseher und Computer laufen den ganzen Tag. Häufig schläft er erst im Morgengrauen ein, wenn die Müdigkeit jede Erinnerung blockiert und er auf einen traumlosen Schlaf hoffen kann. Denn Rami hat Angst um sein Leben. Allein traut er sich nicht mehr aus dem Haus. Für das, was er getan hat, fürchtet er die Rache militanter Palästinenser. "Das Problem ist, dass Rami einfach nicht lernt zu leben", sagt der Vater. Am liebsten sitzt Rami vor dem Computer und chattet. "Da muss man sein Gesicht nicht zeigen", sagt er. Wenn er sich im Internet einloggt, nennt er sich Assir al Raram, "Gefangener der höchsten Liebe". "So fühle ich mich", sagt Rami. "Eingesperrt und ausgegrenzt." Rami war schon einmal verlobt. Alle Fotos von Sannah hat er verbrannt, die Dateien mit Erinnerungen an sie vom Computer gelöscht. Neulich hat er gehört, dass sie einen Sohn geboren hat. Ihren ersten. Nicht seinen. Sannah wollte die Verlobung mit Rami nicht auflösen, aber ihre Eltern hatten sie gedrängt. Auch sie fürchteten die Rache der Palästinenser: "Was willst du mit einem, der in spätestens zwei Jahren getötet sein wird?"

Als Rami damals vor vier Jahren zur Busstation kommt, sitzt der andere schon im Wartehäuschen. Ein schmächtiger Junge, braune Stoffhose, kaum älter als er selbst. Die beiden Jungen kommen schnell ins Gespräch, plaudern über Familie, Arbeit, Freunde. Rami erzählt von seinem Schrank. Der andere, dass er in einem Restaurant in Sulam bei Afula kellnert. Hier in Um el-Fachem habe er seinen Onkel besucht.

Rami ahnt, dass der schwarze Seesack randvoll mit Sprengstoff gefüllt ist.

Rami will sich setzen. Er wuchtet den Seesack des anderen zur Seite und erschrickt: Was kann da so schwer sein? Rami wird skeptisch. Der Schmächtige behauptet, seine Familie sei aus Jenin, einem palästinensischen Flüchtlingslager im Westjordanland, keine 20 Kilometer entfernt ­ warum aber spricht er mit dem Akzent aus dem abgeschotteten Gaza? Wieso zucken seine Augen so nervös? Woher kommt der ganze Staub auf seinen Schuhen? Warum redet er so fahrig? Und ist es wirklich die Hitze, die ihm den Schweiß auf die Stirn treibt, oder die Angst? Rami überkommt eine Ahnung: Dieser schmächtige Junge, der neben ihm im Bushäuschen sitzt und von seiner Zukunft redet, wahrscheinlich ist er vor ein paar Tagen von Hamas, Islamischem Dschihad oder den Al-Aksa-Brigaden losgeschickt worden; wahrscheinlich hat er längst ein Bekennervideo gedreht, mit Koran, Kalaschnikow und blutigem Gelöbnis; hat seiner Mutter längst Lebewohl gesagt und seinen Vater zum letzten Mal geküsst. Rami ahnt, dass der schwarze Seesack, der da zu seinen Füßen liegt, randvoll mit Sprengstoff gefüllt ist. Er blickt dem anderen ins Gesicht.

Natürlich hätte Rami jetzt einfach gehen können. "Mist, jetzt habe ich doch glatt vergessen, die Haustür abzusperren", hätte er murmeln können, und schon wäre er auf der anderen Seite der Straße. Aber Rami wollte nicht einfach weglaufen. "Ich habe an die Menschen gedacht, an meine Stadt. Wer will denn, dass sein Bruder oder sein Vater bei einer Explosion im Bus stirbt?"

In der arabischen Stadt Um el-Fachem im nördlichen Israel leben rund 40 000 Menschen. Enge Straßen winden sich durch den dicht bebauten Hang am Ausläufer des Karmelgebirges. Die kleinen Flachdächer werden von zwei Dutzend Minaretten überragt. Wenn hier jemand erklärt, wo er wohnt, gibt er nicht den Straßennamen an, sondern die nächstgelegene Moschee.

Die "israelischen Araber" leben in einem Dilemma

Um el-Fachem ist nach Nazareth die zweitgrößte arabische Stadt in Israel. Von den sieben Millionen Einwohnern Israels ist jeder fünfte Araber. Diese "israelischen Araber" leben in einem Dilemma. Weil sie Araber sind, werden sie von den Israelis als Bürger zweiter Klasse abgestempelt. Weil sie einen israelischen Pass besitzen, sind sie keine richtigen Palästinenser.

Anders als Nazareth hat Um el-Fachem bei den Israelis einen schlechten Ruf, gilt als konservativ-islamisch. In Um el-Fachem gibt es weder Kino noch Alkohol, aus Angst vor Beschädigungen schließen manche israelische Autovermietungen Um el-Fachem aus ihrem Versicherungsschutz aus. Und israelische Politiker aus dem rechten Lager profilieren sich mit dem Vorschlag, die Stadt von Israel abzulösen und kurzerhand den palästinensischen Gebieten zuzuschlagen. Zur Mauer, die das Westjordanland von Israel abtrennt, sind es nur wenige Kilometer.

An der Busstation gibt es keine Telefonzelle. Rami will die Polizei rufen. Weil er selbst kein Handy hat, fragt er den anderen. Er wolle seinem Freund in Musmus Bescheid geben, dass es später wird, gibt Rami vor. Er geht hinter das Wartehäuschen und ruft mit dem Handy des Attentäters die nächstgelegene Polizeistation an. Er spricht Hebräisch, weil er sich sicher ist, dass der andere das nicht versteht. "Hallo. Mein Name ist Rami Machamid. Ich stehe unten an der Busstation, ich glaube, neben mir steht ein Selbstmordattentäter." Der Polizist fühlt sich veralbert, hängt auf. Rami ruft ein zweites Mal an. Verzweifelt schildert er einer Polizistin seinen Verdacht. Sie verspricht, eine Streife zu schicken. Rami gibt das Telefon zurück.

Durch die eirunde Öffnung der Busstation lauert Rami Richtung Norden. Von dort müssen sie kommen, die Polizisten. Der andere blickt in Richtung Tel Aviv, von dort soll der Bus kommen. Das Gespräch wird immer dünner. Ramis Kopf hämmert: Ahnt er etwas? Warum redet er nicht mehr? Was soll ich tun? Abhauen? Was, wenn ein Bus kommt?

Der andere greift in den Seesack, löst den Zünder.

Endlich. Die Polizeistreife. Ein Polizist steigt aus, winkt die Jungen heran. Rami: "Die wollen was von uns." Der andere steht auf, die Tasche fest im Griff. Er beeilt sich. Rami geht zwei Schritte hinter ihm. Kann ich wegrennen? Schießen die Polizisten dann auf mich? Der Polizist: "Die Ausweise!" Der andere greift in den Seesack, löst den Zünder.

Als Rami wieder zu sich kommt, liegt er im Krankenhaus in Afula. Blut klebt an seinem ganzen Körper. Der Polizist und der Attentäter sind gestorben. Rami trägt Fußfesseln. Seine Arme sind mit Handschellen ans Bett gekettet. Er hat Kontaktsperre. Keine Eltern, keine Freunde, keine Verlobte. Vier Tage lang befragen ihn Beamte des israelischen Inlandsgeheimdienstes. Sechs, manchmal sieben Stunden am Tag. Sie halten Rami für einen Kollaborateur des Attentäters. Immer die gleichen Fragen: "Wie hast du ihn kennengelernt? Über was habt ihr gesprochen? Wen kennst du sonst noch?" Rami ist überfordert, eingeschüchtert, bringt kein Wort heraus. Nach vier Tagen kann endlich die SIM-Karte des zerfetzten Mobiltelefons ausgewertet werden. Daten, die Ramis Unschuld beweisen. Denn erst jetzt wird klar, dass er es war, der den Notruf abgesetzt hat. Dass seine Geschichte wahr ist. Dass er sein Leben riskiert hat, um das anderer zu retten. Aber kein einziger israelischer Politiker kommt zu Rami ans Krankenbett, um ihm die Hand zu schütteln. Nicht während der 33 Tage, die er im Krankenhaus liegt, nicht nach einer der acht Operationen, die er durchmacht. Bis heute kam niemand. "Das ermutigt doch keinen, so zu handeln, wie er es getan hat", sagt sein Vater. "Rami ist ein Nichts, obwohl er etwas Besonderes sein sollte."

Schon kurz nach dem Attentat forderte der Bürgermeister von Um el-Fachem die Bewohner der Stadt in einem offiziellen Statement auf, "Rami von nun an ganz normal zu behandeln -- wie jeden anderen Bürger auch." Kein Wort von Vorbild oder Heldentat, von Ehre oder Leitbild -- einfach nur normal. "Jetzt erinnert sich keiner mehr an ihn", sagt der Bürgermeister heute. Und das sei gut so. Denn dies zeige doch nichts anderes, als dass Ramis Verhalten ganz selbstverständlich gewesen sei und jeder so wie er gehandelt hätte.

Aber der Junge mit dem schwarzen Seesack ist mindestens der fünfte Attentäter, der seinen Weg über Um el-Fachem nach Israel gefunden hat. Die Statistiken führen ihn als 87. Selbstmordattentäter der zweiten Intifada.

"Ich wäre ein Held, wenn ich ein Jude wäre."

"Ich bin kein Held", sagt Rami selbst. "Ich wäre ein Held, wenn ich ein Jude wäre. Aber ich bin Araber. Es ist dein Volk, es sind die Leute, von denen du kommst und mit denen du lebst, die dich zum Helden machen." Seine Freunde aber haben sich von ihm abgewandt. Sogar der Kontakt zu seinen Großeltern ist abgebrochen. "Etwas in ihrem Blick hat sich verändert", sagt der Vater. "Nicht, dass sie Rami nicht verstehen würden. Sie haben einfach Angst." In den Straßen gab es Gerede, Gerüchte: "Verräter, wir kriegen dich und deine Sippschaft", wurde Rami gewarnt.

Ein halbes Jahr nach dem Attentat kamen per Post drei Freiflugscheine. Zwölf Tage Urlaub in einer Stadt in Europa. Hotel und Unkosten würden gedeckt. Rami, sein Vater und einer seiner fünf Brüder fliegen nach Madrid. Rami ist großer Fußballfan, Real Madrid seine Lieblingsmannschaft. Ein Großteil der Urlaubsbilder zeigt ihn im legendären Estadio Santiago Bernabéu. Auf einer Aufnahme steht Rami stolz vor dem Hotel in Madrid. Er hat sie als Bildschirmschoner auf seinem Computer gespeichert. Das Geld für den Urlaub wurde von einer arabischen Bank überwiesen, der Wohltäter selbst wollte anonym bleiben. Sich offen zu seiner Spende zu bekennen, hat er sich nicht getraut.

In Nazareth sitzt Rami mit seinem Vater bei "Schalom -- Salam", einem israelisch-arabischen Restaurant. Auf dem Tisch steht ein Teller Hummus, in der Mitte schwimmen Kichererbsen im Olivenöl. Die Luft ist schwer und klebrig, schwer vom Frittierfett, klebrig vom Baklava, einer arabischen Süßspeise. Rami ist unruhig. Eigentlich mag er gar nicht aus dem Haus gehen. Er spricht von seinem Computer, ein Problem mit der IP-Adresse, da müsse er heute noch ran. Sein Blick ist nie da, wo sich das Leben gerade abspielt. Er schaut seinem Gegenüber nicht in die Augen. Wendet er den Kopf, tut er dies abrupt, aber ohne Motivation. Wo er hinsieht, ist nichts. "Früher hat Rami oft Fußball gespielt", sagt sein Vater. "Sieben Jahre lang war er Mittelstürmer im Team von Um el-Fachem. Er war gut."

Der Vater erzählt davon, wie er gekämpft hat um Unterstützung für Rami. Für eine Therapie. Für mehr Sicherheit. Für eine Zukunft. Gideon Ezra, der israelische Sicherheitsminister, habe nur geantwortet: "Wir können da nicht helfen." Wohltätigkeitsorganisationen haben ihn abblitzen lassen. Der Präsident Israels, Mosche Katzav, verwies ihn an die Sozialversicherung. Die musste ihre anfängliche Hilfe einstellen, weil Rami nur als zu 15 Prozent behindert eingestuft wurde. Erst ab 20 gibt es Hilfe. Man riet ihm, sich an den städtischen Sozialdienst zu wenden. "Aber ich kann doch nicht die Araber um Hilfe bitten", sagt der Vater. "Die Juden müssen helfen. Denen wurde schließlich auch von meinem Sohn geholfen." Im April ist Rami 21 Jahre alt geworden, er hofft, jetzt einen Waffenschein zu bekommen. "Dann würde ich mich sicherer fühlen."

Rami legt das letzte Stück Fladenbrot zur Seite und steckt sich eine Zigarette an. Zum Kardamomkaffee kommt die Rechnung. Auf dem Teller liegen ein paar Bonbons. Der Vater bietet Rami eines an. Rami lehnt ab. "Jetzt nimm doch eins", sagt der Vater. Rami wehrt mit der Hand ab. Der Vater steckt ihm eines zu. Apathisch dreht Rami das Bonbon aus dem Papier und steckt es sich in den Mund. Rami, dessen Entscheidung so viele Menschenleben gerettet hat, trifft heute keine Entscheidungen mehr. Nicht mal die, ob er ein Bonbon will oder nicht.

 

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