"Was ist eigentlich 'Pein'?"
Konzertsäle, Fernreisen, Ovationen ­das ist der Glanz eines erstklassigen Knabenchors. Leistungsdruck, Probendisziplin, knallharte Hierarchie das ist die Kehrseite. Oder geht es im Alltag der weltberühmten "Windsbacher" eigentlich um etwas anderes: darum, wie aus dem Kind ein Mann wird?
Portrait Burkhard Weitz, verantwortlicher Redakteur für chrismon plusLena Uphoff
07.10.2010

Süsäsüsa", singt der Mann mit den blitzenden Augen. 38 Jungen, neun bis 13 Jahre alt, verfolgen reglos jede seiner Bewegungen. "Süsäsüsa", singen sie, immer höher. Rechts außen rutscht ein elfjähriger Junge ganz nach vorne auf die Stuhlkante. Die Turnschuhspitzen berühren kaum den Boden. "Süsäsüsa." Der Mann bleibt vor ihm stehen. "Du wirst oben immer enger", sagt er. "Süsäsüsa", singen die Jungen, als wäre nichts geschehen. Auch der Kleine singt mit, er blickt dabei starr vor sich hin. Der Mann schüttelt den Kopf. "Steh mal auf." Der Kleine gleitet vom Stuhl. "Süsäsüsa", singt er, diesmal allein. Die Stimme zittert. Der Mann schweigt. Nun ist es ganz still.

"Dein Problem ist die Mundstellung. Merkst du das?"

Probe des Windsbacher Knabenchores, eines Chores mit internationalem Renommee. Ein fränkisches Städtchen, ein Internat auf einer Anhöhe. 108 Schüler von der 3. bis zur 13. Klasse leben hier. Sie wollen im Chor mitsingen, die Musik erleben, reisen, Konzerte geben. Dafür ertragen sie Leistungsdruck, Heimweh, Unterordnung. Gerade proben die hohen Kinderstimmen.

Was würde die Mutter des Kleinen jetzt wohl tun? Ihn trösten und sagen: "Du musst das nicht können"? Sie ist nicht da. Alle Jungen starren auf den drahtigen Mann, ihren Chorleiter. Falten ziehen sich über seine Stirn. "Dein Problem ist die Mundstellung", sagt er, "merkst du das?" Der Kleine nickt.

"Knabe" heißt hier einer wie dieser. Als neun- oder zehnjähriger Bub kommt er ins Internat. Acht bis zehn Jahre bleibt er. Irgendwann nennt man ihn "Männerstimme". Jeden Morgen schlägt er weit weg von zu Hause die Bettdecke zurück: anziehen, Andacht, Frühstück. Er wohnt im Internat, besucht eine Schule der Umgebung, probt im Chor, isst zu Mittag, macht Hausaufgaben, probt wieder im Chor. Manchmal gibt es einen Ausflug, oft ein Konzert. Abends schlüpft er wieder unter die Bettdecke. Weit weg von zu Hause.

"Blöder Tag. Physik ist okay. Aber Englisch..."

7.30 Uhr. Draußen ist es dunkel und eisig kalt. Aus dem Haupthaus des evangelischen Internats dringt der Klang heller Stimmen, ein Choral. Die Grund- und Mittelstufenschüler halten Morgenandacht. Hinterm Haupthaus sieht man Oberstufenschüler beim Frühstück im erleuchteten Speisesaal. Sie sind von der Andachtspflicht befreit.

Plötzlich öffnet sich die Tür des Haupthauses. Sechzig, siebzig Jungen rennen über den Hof. Sie greifen nach Cornflakes, Knusper-Smacks, Puffreis in Regalen und verteilen sich lärmend auf den Speisesaal: hinten die Kleinen, vorne die Großen.

Maximilian ist 14, achte Klasse. Früher saß er auch hinten. Nun trennen ihn noch vier Tischreihen vom begehrten Abituriententisch am Eingang. Maxi, wie sie ihn nennen, rührt Instant-Cappuccino an. Heute hat er sechs Stunden Schule. "Blöder Tag", sagt er. "Physik ist okay, aber Englisch und Deutsch..."

"Am Anfang hat fast jeder Fernweh. Schlimm ist es sonntagnachmittags. Wenn's ans Abreisen geht"

9 Uhr. Es ist still im Internat, nur eine Amsel hört man piepsen. Der Schnee reflektiert das gleißende Sonnenlicht. Ein paar hundert Meter von hier sitzt Maxi in der Lateinstunde. Zum Glück hat er am Wochenende daheim Vokabeln gepaukt.

Maximilian Hischer stammt aus einem 2700-Seelen-Ort nahe dem idyllischen Altmühltal. Mit neun kam er 1999 zum Vorsingen ins 80 Kilometer entfernte Windsbach. Daheim in Titting fühlte er sich nicht wohl auf der Grundschule. Und weil er gut sang und Windsbach von Besuchen beim Opa kannte, zog Maxi ins Internat. Es war sein Wunsch, die Eltern stimmten zu.

Im Wohnheim der Kleinen stehen alle Türen offen. Putzfrauen wienern den Boden. An einer Pinnwand sind Fotos vom Pizzabacken, vom Ausflug in den Erlebnispark Heroldsbach. Auf Listen kann man sich für Winteraktivitäten eintragen: Tontopffiguren basteln, Stoffmalerei, Kerzenherstellung.

"Das tut nur fünf Minuten weh"

In Windsbach, ohne die Geborgenheit der Familie, musste Maxi lernen, sein Leben selbst zu regeln: Freizeit organisieren, Taschengeld einteilen, auf Ausflügen Jacke und Brotdose dabeihaben. "Am Anfang hat fast jeder Heimweh", sagt Maxi. Er hatte es auch. Schlimm ist es nachts. Oder sonntagnachmittags daheim, wenn es ans Abreisen geht.

Zuerst musste Maxi seinen Platz in der Jungenhierarchie finden. Damals hat ihn ein Großer geschnappt, bis auf T-Shirt und Boxershorts ausgezogen und geduscht, eine Art Taufe. "Das war im Sommer, du rennst raus und gut ist", sagt Maxi. "Aber wenn einer schlecht singt und der Chorleiter scheißt den zusammen, haben die Großen eine Wut, weil die Probe länger ist", sagt Maxi, "dann tragen einen die Männerstimmen in der Pause ins Haupthaus und wampeln einen."

Wampeln? Zwei Große halten den Kleinen an Händen und Füßen, ein dritter zieht das Hemd hoch und trommelt mit den Handflächen auf dem Bauch. "Harmlos", sagt ein Abi, ein Abiturient. "Das tut nur fünf Minuten weh." Trotzdem hat es die Internatsleitung verboten.

Maxi hatte Glück. Schnell fand er seinen Platz. Nach einem halben Jahr sang er Konzerte mit. Er war ein guter Sopran. Das hilft: Männerstimmen beschützen gute Knabenstimmen. Der Chor fuhr nach Australien. Maxi durfte mit. Alex, ein Abi, passte wie ein großer Bruder auf ihn auf. Maxi schwärmt noch heute von der Reise.

"Vorletztes Jahr war das extrem bei uns in der Gruppe"

11 Uhr. Drüben im Gymnasium hat schon der Physikunterricht begonnen. Mit einer Federwaage messen die Schüler, wie viel Kraft nötig ist, um einen Gegenstand auf einer schiefen Ebene zu halten.

"Vorletztes Jahr war das extrem bei uns in der Gruppe", sagt Maxi. Damals fing in seinem Jahrgang die Pubertät an. Das ist die Zeit, wenn Testosteron, das Männlichkeitshormon, den Körper und das Verhalten verändert. Zeit der Mannwerdung: Oft erkennen sich die Jungen selbst nicht wieder.

Da war einer, der wollte alle anderen beherrschen, erinnert sich Maxi: "Der hörte nicht mal mehr auf die Abis." Am schlimmsten war aber seine Auflehnung gegen den Chorleiter. Der verbot Baden vorm Konzert, der Junge tat es trotzdem. Er war eine tragende Altstimme, die damals, kurz vorm Stimmbruch, ihre Blüte erreicht hatte. Trotzdem flog er aus dem Chor. Die Eltern nahmen ihn vom Internat. Wer nicht singt, muss mehr für die Unterbringung zahlen.

"Für uns wollte er leiden"

12.30 Uhr. Für Maxi hat der Deutschunterricht begonnen, sechste Stunde. Früher hatte Maxi um diese Zeit Knabenprobe. Seine Klasse besteht nur aus Sängern des Chores. Früher ließ die Schulleitung die letzte Stunde wegen der Knabenprobe daher frei. Aber die Schüler aus Maxis Jahrgang sind inzwischen im Stimmbruch oder schon darüber hinaus.

Im Internat stürmen 38 Knaben in den Chorsaal, greifen Noten aus den Fächern und verteilen sich auf zwei Stuhlreihen. "Süsäsüsa", singt Karl-Friedrich Beringer, die Jungen singen es nach. Seit über 25 Jahren leitet er den Knabenchor, er ist eine Institution. Die Jungen nennen ihn nur noch Chef.

"Reger, Geistliche Gesänge", ruft Beringer. "Für uns wollte er leiden", singen die Knaben, "dass wir möchten vermeiden schwere Pein." Beringer winkt ab: "Was ist eigentlich 'Pein'?" ­ "Wenn einer Schmerzen hat", sagt ein Knabe. "Ja, Schmerz", sagt Beringer. "Das muss kräftiger klingen."

"Von der Zarten ward er geboren, Maria, der reinen, auserkoren", singen sie. Beringer steht vor jenem Elfjährigen, der schon "süsäsüsa" allein singen musste. "Deine Höhe klingt nicht", sagt der Chef. Die anderen setzen sich. Der Kleine singt allein, mit dünner Stimme. "Du musst besser stützen", sagt Beringer.

"Es ist schon brutal, wenn der Chef einzeln vorsingen lässt"

13 Uhr. Maxi eilt von der Deutschstunde in den Speisesaal. "Es ist schon brutal, wenn der Chef einzeln vorsingen lässt", sagt er. ­ "Allein vorm Chor singen stärkt das Selbstbewusstsein", sagt Beringer.

Maxi hat nun mehr Freizeit, die täglichen Proben fallen für ihn aus. Nur montags geht er zum "Mutantenstadel". Das ist der Chor für Mutanten, für Jungen im Stimmbruch. Andere Jugendliche halten "Mutanten" für Science-Fiction-Monster. In Windsbach sind sie hoch angesehen, fast so wie Männerstimmen. Mutant, das ist eine Stufe wie auf einer Leiter. Als Maxi Mutant wurde, bedauerte er selbst dies nicht. Traurig waren nur seine Mutter und die Schwester, die ihn Weihnachten am Klavier begleitet hatte.

"Die Stimme kommt wieder"

14 Uhr: Einzelstimmunterricht. Maxi läuft ins Chorzentrum. Sein Gesangslehrer heißt Edwin Sowisch. Er hat einen Schnurrbart und ein freundliches, verschmitztes Gesicht. "Ja-a, ja-a, ja-a, ja-a, jaaa", singt er, eine Hand begleitet am Klavier, die andere beschreibt einen großen Bogen durch die Luft. Maxi singt, manchmal bricht die Stimme weg. Er trippelt nervös von einem Fuß auf den andern. "Stimmsitz vorne!", mahnt Sowisch, "aufpassen in der Höhe!" Maxi nickt.

"Noch ein Solo?", fragt Sowisch. "Der König von Thule ist für einen jungen Bassisten ganz gut." Maxi ist sicher: Bald kann er als Bass im Chor singen. "Die Stimme kommt wieder", sagt er ­ mehr zu sich selbst.

Erst wenn er mit 16 im Haupthaus ein Einzelzimmer bezieht, ist Maxi oben in der Hierarchie. Ganz oben angekommen ist er, wenn er zum Abi-Jahrgang gehört. "Männerstimme ist immer cool", sagt er und lächelt. "Man hat weniger Proben. Die Stimmgruppe muss beim Vorsingen nicht aufstehen. Man hat mehr Ahnung. Und wenn man einem Knaben sagt: 'Hol mir mal dies!', dann macht der das."

­"Mutanten wissen oft nichts mit ihrer Freizeit anzufangen"

14.30 Uhr. Im großen Saal versammelt sich der Konzertchor, ohne Maxi. Im Herbst fliegt der Chor nach Brasilien. Da will Maxi mit. Hoffentlich klingt seine Stimme bis dahin wieder schön.

Was tun in der Freizeit? Erst mal aufs Zimmer gehen. Über Maxis Bett hängen Plakate von Roy Makaay und Claudio Pizarro vom FC Bayern München. Er könnte im Ort eine "Bravo-Sport" holen. Aber es ist kalt, die Wege sind rutschig. Er könnte auf dem verschneiten Hügelchen rodeln, dem Monte Soprano, und sich über die Schanze auf den Basketballplatz schleudern lassen. "Manchmal fliegt dir der Bob weg und du knallst auf", sagt Maxi. Aber alle Freunde sind bei der Probe. ­ "Mutanten wissen oft nichts mit ihrer Freizeit anzufangen", sagt Maxis Erzieherin.

Im Probensaal sitzen die Knaben mit kerzengeradem Rücken. Die Männerstimmen in der letzten Reihe flegeln sich auf den Stühlen, einige mit überkreuzten Beinen. "Reger. Abendlied. Treib, Herr", ruft Beringer. Ein kräftiger Klang erhebt sich aus dem Gemurmel: "Treib, Herr, von uns fern die unreinen Geister, sei selbst unser Schutzherr." "AAALT", brüllt Beringer. Die Altstimmen legen zu.

"Wenn es nur um meine Macht ginge, ließen die mich auflaufen. Es geht um die Musik"

"Schirm beid', Leib und Seel', unter deinen Flügel, send' uns dein' Engel. Lass uns einschlafen...", schwebend der Chorklang. "LAAAISER", Beringer wedelt mit der Hand, "... mit guten Gedanken", erklingt es leise. Ein Ohren betäubender Knall lässt die Sänger plötzlich verstummen. Beringer hat mit dem Absatz auf den Fußboden gestampft. "Viel zu laut", sagt er entrüstet. Er wirkt gekränkt, persönlich beleidigt.

Die Knaben drücken die Rücken weiter durch, die Männerstimmen richten sich auf. Beringer baut sich vor den Jungen auf. Er singt: "Lass uns einschlafen mit guten Gedanken", kaum hörbar. Totenstille. Singt er noch? "Ich singe nicht mehr", sagt er. "Merkt ihr? Ihr denkt nur, dass ich singe."

Keiner regt sich. Bloß keinen Wutanfall provozieren. Einmal hat der Chef aus Zorn den Klavierdeckel zugeschlagen, erzählt ein älterer Schüler. Der Deckel sprang aus dem Scharnier. Dadurch noch wütender, stieß er den Klavierhocker um, das Polster fiel raus. Dann schlug er mit der Faust auf den Flügel und die Uhr fiel vom Armgelenk. ­ Hat der Chor gelacht? "Nein", sagt der Schüler, "das hat sich keiner getraut."

"Die Jungen müssen wissen, warum es Ärger gibt", sagt Beringer. "Wenn es nur um meine Macht ginge, ließen die mich auflaufen. Es geht um die Musik. Die Klangorgie fasziniert die Jungen. Wir machen etwas, was sie sonst nirgends erleben."

"Keiner verlässt den Bus ohne Jacke"

15.30 Uhr. Beim Haupthaus stehen zwei Busse, einer für Knaben, einer für Männerstimmen. Der Chor gibt ein Konzert. Maxi fährt mit, CDs an der Abendkasse verkaufen. Er schleppt zwei Kartons zum Knabenbus. In den Männerbus darf er noch nicht.

"Sind alle da?", ruft Ulrike Sauerbier besorgt durchs Busmikrofon. Sie ist seit bald sechs Jahren Beringers Sekretärin und passt als Chormutter auf die Kleinen auf. Die Busse rollen durchs Windsbacher Stadttor.

18 Uhr. "Keiner verlässt den Bus ohne Jacke", ruft die Chormutter durchs Mikro. Maxi holt die CD-Kartons aus dem Bus und trägt sie zum Eingang der Kirche. Der Chor probt die Aufstellung. In der Kirche ist es kalt. Ein Knabe trägt nur einen Pulli. "Was habe ich in der Chorprobe gesagt?", sagt Beringer. Die Chormutter holt eine Ersatzjacke.

19.30 Uhr. Einige Männerstimmen spielen in schwarzen Anzügen vorm Gemeindehaus Kickball und rauchen. Maxi steht schon eine halbe Stunde in der Kälte an der Wechselgeldkasse. Vor ihm liegt die neue CD aus. Auf dem Cover sieht man drei blaue Weltkugeln im tiefschwarzen All. Unten rollt der Chorbus durch eine Mondlandschaft.

"Die Kinder Zi-i-ions sei'n frö-ö-ö-öhlich"

20 Uhr. Der Chor zieht ein. Auf den Scheiteln der Jungen spiegelt sich das gelbe Licht der Kandelaber. Im mächtigen Altarraum wirkt Beringer viel kleiner als im Probensaal von Windsbach. "Die Kinder Zions sei'n fröhlich über ihrem Könige", singen die Jungen. Rasend schnell wirbeln ihre Stimmen in die Höhe, gehen in einen Triller über, wie Kinderlachen. Einem Jungen sind die Brillenbügel abgebrochen. Er balanciert die Gläser auf der Nase und sieht wie gebannt auf Beringer. Kein Blick schweift ins Publikum.

Leise setzen die Knaben ein, wie aus dem Nichts: "Denn er hat seinen Engeln befohlen über dir..." Die Töne umspielen, reiben sich. Der Kleine, der in der Probe allein vorsingen musste, spannt im Eifer sämtliche Gesichtsmuskeln an. In ruhigen Akkorden fahren die Männerstimmen fort: "...dass sie dich behüten auf allen deinen Wegen."

Ein langer Schlussakkord. Das Publikum springt auf, applaudiert. Wie verzaubert erstrahlt das Gesicht des Kleinen. Die Lippen dehnen sich zu einem breiten, erlösten Lächeln. Alle Anstrengung ist von ihm abgefallen.

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