Eine Liebesgeschichte
Future Image/imago
30.11.2010

Je älter ich werde, umso mehr bemerke ich, dass es eigentlich gar keine langweiligen oder gar eintönigen Lebensläufe gibt. Selbst diejenigen, die man in der Nachbarschaft und unter Bekannten als einfache und gradlinige Menschen eingeschätzt hatte, entpuppen sich bei näherem Hinsehen als komplizierte Typen, die hinter ihrer Fassade Stoff für die Abenteuerromane des Lebens liefern könnten.

Aus Saulus, dem fanatischen Christenverfolger, wurde bei Damaskus von hier auf jetzt ein glühender Missionar des Christentums namens Paulus, der als Märtyrer endete. Der große Augustinus, eine Zierde der Kirchengeschichte, war in früher Jugend ein Weiberheld, und mein Lieblingsheiliger Franz war sogar ein stadtbekannter Playboy, Partylöwe, Raufbold und in seiner jugendlichen Clique als Spaßmacher allseits beliebt, bevor seine Geliebte, die domina paupertas, die Herrin Armut, ihn im Traum küsste. Und andererseits: Selbst solche, die als wilde Lebenskünstler, Schwerenöter in die Geschichte eingegangen sind, haben sich zum Teil erst spät entpuppt, nachdem sie sich als schüchterne Musterknaben versucht hatten.

Für ein Leben gibt es oft zwei Drehbücher: ein komisches und ein tragisches

Für ein Leben gibt es oft zwei Drehbücher: ein komisches und ein tragisches. Heiligenlegenden und Schurkenstücke werden von ein und derselben Person gespielt. Selbst von Heiligen wissen wir, dass sie höchst gegensätzliche Lebensabschnitte zu bieten haben.

Mein Onkel Michel, Bruder meiner Oma Lieschen, ist mir in Erinnerung als ein miesepetriger Hagestolz, von dem ich nur wusste, dass er ein korrekt-eintöniges Leben führte. Jeweils am zweiten Weihnachtsfeiertag besuchte er die Familie seiner Schwester und er war, wie meine Mutter oft erzählte, immer so knötterig wie bei seinen späteren Besuchen nach Weihnachten bei uns, in der Familie der Tochter dieser Schwester. Er war immer gleich sorgfältig gekleidet. In der Westentasche eine goldene Uhr, die an einer langen, über den Bauch hängenden Kette befestigt war. Auf dem Kopf trug er einen kleinen, steifen, schwarzen Hut. Sein Schnurrbart war akkurat und gepflegt. Er kam immer zur gleichen Zeit und ging immer nach der gleichen Besuchszeit von sechs Stunden, sprach nie viel, brachte immer eine Flasche Rotwein mit und hinterlegte beim Abschied immer unter derselben Blumenvase einen sorgfältig zusammengefalteten Zehnmarkschein.

Stets gepflegt und mäßig spendabel: Bei Michel gab es keine Überraschungen

Was gibt es von seinem über 80-jährigen Leben zu berichten als immer das Gleiche? Man hätte nach seinem Tagesablauf die Uhr stellen und nach seinem Lebenslauf Fahrpläne und Kalender erstellen können. Seine verwandtschaftlichen Beziehungen und Kontakte mit Mitmenschen hatten sich auf fast rituelle Wiederholungen reduziert. Der Junggeselle Michel hatte ungefähr so viel Berührungen mit dem Leben wie ein Heiliger, der sich auf einer alleinstehenden Säule in der Wüste häuslich eingerichtet hatte. Montags brachte er seine schmutzige Wäsche zu Tante Tina, er legte sie im Treppenhaus vor ihrer Wohnungstür ab. Mittwochs holte er sie frisch gewaschen und gebündelt dort wieder ab. Weitere Dienste für ihren Bruder erledigte Tina nicht. Täglich trank er einen Schoppen Nahe-Wein und rauchte eine Zigarre. Weitere Ereignisse aus seinem Leben sind nicht bekannt ­ außer einem: Im Krieg holte er unter Lebensgefahr die Vereinsfahne aus dem von einer Bombe getroffenen, brennenden Kolpinghaus. Die Kolpingbrüder legten ihm zu Ehren die gerettete Fahne bei der Beerdigung auf seinen Sarg.

Das ist es, was von Onkel Michel und seinem Leben zu berichten ist. Es geht auf zwei Blatt Papier. Sonst nichts? Von wegen! Erst später, als er längst tot und sein Grab schon vergessen war, erfuhr ich von dem Drama im Lebens des ewigen Junggesellen und verbitterten Kauzes Michel. Michel war einst ein stolzer Sohn einer begüterten Küferfamilie, als dessen Erbe er vorgesehen war. Er war ein angesehener junger Mann und mit einer Jungfrau aus einer ebenso angesehenen gutbürgerlichen Binger Familie verlobt. Alles war für ein Leben in Ehre und Wohlstand eingerichtet.

Da widerfuhr Michels Vater das Missgeschick, dass in seiner Küferei bei einem Unfall einem Küfergesellen die Hand abgeschlagen wurde. Michels Vater stritt mit dem Gesellen vor Gericht über die Ursache des Unglücks durch alle Instanzen. Er verlor nicht nur alle Prozesse, sondern auch viel Geld und durch die wiederholten juristischen Niederlagen auch sein Selbstwertgefühl, auf das jede Ehre angewiesen ist. Zu guter Letzt musste er Bankrott anmelden.

Vorbei war es mit der Zukunft des Küfermeisters Michel. Auch seine Ehre war jetzt beschädigt. So also setzte er sich an einem Sonntagnachmittag hin und schrieb seiner Verlobten, dass er ihr nicht zumuten könnte, den Sohn eines Bankrotteurs zu ehelichen und dass er wegen verlorener Ehre die Verlobung auflösen müsse. Diesen Brief übergab er ihr abends wortlos. Jetzt sah sich auch die Braut entehrt, und das ist eine bürgerliche Katastrophe. Lina, die Verlobte, verschwand über Nacht aus Bingen. Ihre Spuren, von ihren verzweifelten Eltern bis nach Amerika verfolgt, verloren sich im Wilden Westen.

Michel blieb allein zurück und verbrachte fortan sein Leben einsam in Bingen, einen Tag wie den anderen ­ lediglich von zwei Weltkriegen unterbrochen. Ein unscheinbarer Küfergeselle, der niemandem auf- oder gar zur Last fiel. Als Michel ans Ende seines Lebens kam, gab er seine Zimmer auf, in denen er sein Leben lang gewohnt hatte, und ging klaglos ins Altersheim. Was hatte er noch zu erwarten? So wenig wie damals nach dem Brief. Hier im Altersheim, ein Jahr vor seinem Tod, folgte jedoch ein Finale seines Lebens, mit dem niemand gerechnet hätte.

Im Altersheim stand er abends auf dem Gang hinter einer Schwingtür, die er gerade mehr kraxelnd als gehend durchschritten hatte, plötzlich vor seiner geliebten Lina. Sie war aus Amerika zurückgekehrt, weil sie in der Heimat sterben wollte. Wie es der Zufall oder das Schicksal oder die Gnade wollte, hatte sie dazu dasselbe Altersheim ausgewählt wie ihr geliebter ehemaliger Verlobter Michel.

In Amerika versuchte Lina die Tragödie ihres jungen Lebens zu vergessen

Lina war nach der Flucht aus verlorener Ehre ein Hausmädchen in Amerika in einem gottvergessenen Städtchen geworden. Fleißig und sparsam wie sie war, wurde sie von einem ebenso fleißigen Metzgergesellen als gute Partie geheiratet, gebar ihrem Mann fünf Kinder und führte fortan ein bescheidenes Leben als Ehefrau und Mutter ­ fern der Heimat in Amerika. Als die Kinder aus dem Haus waren, ihr Mann gestorben war, gestand sie sich endlich das Heimweh ein, das sie ein halbes Jahrhundert bedrückt hatte. Sie kramte ihr Erspartes zusammen, packte ein paar Habseligkeiten ein, nahm ein Fotoalbum ihrer Familie mit und ging über Nacht so zurück nach Bingen, wie sie einst aus Bingen geflohen war: Hals über Kopf.

Hier also beginnt das späte Happy End eines großen Liebesromans, den das Leben geschrieben hatte. Was werden sich die beiden wohl gesagt haben, nachdem sie unverhofft im Binger Altersheim aufeinander getroffen waren? Worüber haben sie gesprochen? Haben sie sich eingestanden, dass sie sich zwar aus den Augen, aber nie aus dem Herzen verloren hatten? Haben sie viele Worte gebraucht? Wie es war, weiß ich nicht. Oft saßen sie gemeinsam auf der Bank im Garten des Altersheims und studierten das Album mit Bildern von Linas amerikanischer Familie.

Michel hatte keine Fotos zu bieten. In seinem Leben war ihm nichts erinnerungswert erschienen. Sie sollen zärtlich miteinander umgegangen sein. Schließlich zogen die Witwe Lina und der Junggeselle Michel sogar noch in ein gemeinsames Zimmer. Und ein verspätetes "Hochzeitsfoto" ließen die beiden Alten auch noch machen. Viele sollen die beiden belächelt haben, wenn sie Händchen haltend gemeinsam durch den Garten schlurften. Wer ahnte schon etwas von der großen Revolution am Ende ihres Lebens?

Ein Jahr hatten sie noch Zeit. Dann starb Michel. Die Hand des Sterbenden hielt seine ehemalige Verlobte Lina, verwitwete Smith. Sie nahm sich nach dem Tod von Michel nicht mehr viel Zeit und überlebte ihn nur um zwölf Monate. Sie soll einen immer zufriedenen Eindruck gemacht haben. Fast immer lächelnd soll sie durchs Haus geschlichen sein. Vielleicht haben die beiden in dem einen Jahr vor Toresschluss mehr Glück erlebt als andere in 50 Jahren Ehekrieg. Wer weiß? Ich jedenfalls gönne meinem Onkel Michel sein großes letztes Glück.

 

 

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