Angeblich bedecken Menschen die Köpfe mit Hüten, Tüchern und Mützen, um ihr edelstes Teil zu schützen. In Wahrheit ist das Haupt aber vornehmster Ort für politische, kulturelle und religiöse Botschaften. Und daran wird sich nichts ändern
Lena Uphoff
07.10.2010

Niemand kann sich erinnern, dass Großmutter jemals barhäuptig das Haus verlassen hätte. Eine Braut ohne Schleier, ohne Haube oder breitkrempigen, flachen weißen Hut wie auf dieser Hochzeit ­ die alte Dame wäre entsetzt gewesen. Das gehörte sich einfach nicht, hätte ihr Kommentar gelautet. Aus. Fertig.

Im Sommer, wenn die Sonne vom Himmel brannte, trug Großmutter ihren feinen Florentiner Strohhut. Regnete es, band sie sich ihr seidenes Kopftuch unterm Kinn. Frühjahr und Herbst kam der so genannte Übergangshut zum Einsatz, passend zum gleichnamigen Mantel. Und im Winter deckte entweder der graue Lodenhut die Dauerwelle oder die Persianermütze.

Als Anne die Familienalben hervorkramte, dämmerte uns, wie sehr sich unsere kleine deutsche Welt verändert hatte.

Wir, die inzwischen die Älteren sind, waren zur Hochzeit der Nichte Kathrin hutlos erschienen. Allesamt. Als Brautmutter Anne die Familienalben hervorkramte, mit den Hochzeitsfotos der vergangenen fünfzig Jahre, dämmerte uns, wie sehr sich in diesen paar Jahrzehnten unsere kleine deutsche Welt verändert hatte.

Der Zylinder, den Großvater auf der Hochzeit meiner Eltern 1956 getragen hatte, landete nach dessen Tod in der Fasnachtskiste. Drei, vier Jahre später warfen wir die Ruine des einstmals stolzen Kopfputzes schließlich auf den Müll ­ übersät von Brandlöchern, Ketchup- und Senfflecken. Die Mechanik, die den zusammengeklappten Hut zum maßlosen Entzücken der Kinder auseinander schnellen ließ, wenn Großvater ihn leicht gegen den Unterarm schlug, war längst verbogen und verklemmt.

Irgendwann in den sechziger Jahren hatten Hut, Kopftuch und Haube den Hut nehmen müssen, hatten abgedankt, verschwanden aus dem Straßenbild der Städte. Adenauers Pepita-Hütchen, die schmalkrempigen Sonnenhüte der Genossen Ulbricht und Honnecker, Breschnews Pelzmütze und der Cowboyhut des US-Präsi- denten Lyndon B. Johnson bildeten den spießigen Abspann der alten Zeit.

Die Mädels zogen blank

Die neue Epoche war eine haarige. Die Mädels zogen blank, weil sich hochtoupierte Haarkunstwerke, mit Haarspray gehärtet, nun mal nicht mit Kopftuch und Hut vertrugen. Die hätten das sorgsam aufgetürmte Blond nur platt gemacht. Schrille Hüte wirkten lächerlich. Über Wilhelmine Lübke, die Frau des reisefreudigen Bundespräsidenten mit Vornamen Heinrich, kursierte dieser Witz: Das Präsidentenpaar habe sich bei der NASA für eine Reise ins All beworben und sei nur abgelehnt worden, weil Wilhelmines Hut nicht ins Raumschiff passe.

Hutlos ist die derzeit Politik und Gesellschaft dominierende Generation groß geworden. Höchstens im Winter bedecken die ihr Zugehörigen ihre sich lichtenden Scheitel, der Not gehorchend. Das barhäuptige Sein bestimmt das Bewusstsein ­ beim Betrachten von Bildern wie in den Debatten über den politischen und religiösen Charakter von Kopftüchern. Die Schädeldecke als Kulturträger bleibt mittelalten Mitteleuropäern so fremd wie jene, die sich bedeckt in der bloßen Umwelt behaupten.

Nur Klosterfrauen, Landfrauen und Fürstinnen hielten eisern an ihren mobilen Dächern fest, allen voran Englands Monarchin Elisabeth. Sollte der ganze Erdteil über bizarre Filzkreationen und praktische Kopftücher die Nase rümpfen, die Königin ließ es kalt. Wer Kopftücher trug, musste entweder Kartoffeln ernten, Kranke pflegen oder Cabrio fahren wie Monacos Fürstin Gracia Patricia. Ein Kirchgang mit Hut oder Haube war noch vor wenigen Jahrzehnten in den ländlichen Gegenden Süddeutschlands ein absolutes Muss gewesen. In den Siebzigern mutierte das einst selbstverständliche Gebaren zum Folklorespektakel, ausgiebig fotografiert von angereisten Städtern.

An die Stelle der Hüte traten Matte oder Mähne

Die Jungs hatten von den Beatles und den Rolling Stones gelernt. An die Stelle der Hüte traten Matte oder Mähne. Lediglich die Baskenmütze und der große schwarze Schlapphut überlebten. Für die Popularität der Mütze hatte der Revolutionär Ernesto Che Guevara gesorgt. Der breitkrempige schwarze Hut stand für die Zugehörigkeit des Trägers zur Boheme, wenn unter ihm ein struppiger Vollbart hervorwucherte.

Mehr als jedes andere Kleidungsstück symbolisert die Kopfbedeckung Zugehörigkeit, Weltbild und Geschmack ihres Trägers und ihrer Trägerin. Der Zweispitz, der Dreispitz, der Helm. Zylinder, Melone, Baseballmütze oder Narrenkappe. Turban, Kopftuch, Jägerhut und Pudelmütze. Heute, da sich die Vielfalt der Stile als modischer Normalfall eingestellt hat und, abgesehen vom Streit über das Kopftuch einer muslimischen Lehrerin, im Alltagsleben alles möglich scheint, kann man sich kaum mehr vorstellen, für welche Brisanz mancher Kopfschmuck in früheren Zeiten sorgte. Im Herbst des Jahres 1797, so heißt es, sei ein gewisser James Heatherington in London erstmals mit einem Zylinder auf dem Haupt herumspaziert. Innerhalb weniger Minuten wurde Heatherington zum Mittelpunkt eines gewaltigen Auflaufs. Die Polizei zog mehrere Frauen ohnmächtig aus dem Gedränge, ein Junge wurde zu Boden geworfen, fast zu Tode getrampelt und brach sich einen Arm. Dann nahmen die Ordnungshüter den Zylinderpionier fest und verhängten wegen Landfriedensbruch eine deftige Geldstrafe von 50 Pfund gegen ihn.

Dem Schutz des Kopfes vor Kälte, Sonne, Wind und Regen dient der Hut. Das Kopftuch soll das Haar der Frauen in Teilen der islamischen Welt vor unschamhaften Männerblicken schützen. Doch dass die Hülle über Haupt und Haar auch politische, religiöse und nationale Botschaften präsentiert, ist längst ein alter Hut. Die phrygische Mütze wurde zum Erkennungszeichen der Jakobiner in der Französischen Revolution. Die deutschen Demokraten trugen bei ihrem Umsturzversuch 1848 Zylinder mit schwarz-rot-goldenen Kokarden.

Die Debatte darüber, ob die Lehrerin Ferestha Ludin während des Unterrichts in einer deutschen Schule ein Kopftuch tragen darf, beschäftigte im Herbst 2003 das Bundesverfassungsgericht, und dessen Urteil sorgt gegenwärtig für Arbeit in Parlamenten und Ministerien. In einigen Bundesländern bastelt man an Gesetzen, die das Kopftuch als politisches Symbol in den Schulen verbieten. Anderswo will man jeden Einzelfall daraufhin untersuchen, ob die Trägerin ein religiöses Zeichen setzen will und sich deshalb auf die Religionsfreiheit berufen kann.

Vor fast achtzig Jahren, am 25. November 1925, verbot Staatspräsident Kemal Atatürk seinen türkischen Landsleuten das Tragen der klassischen muslimischen Kopfbedeckungen. Männer mit Turban oder Fes und verschleierte Frauen machten sich strafbar. Atatürk, der Modernisierer der Türkei, erkannte: Strenggläubige Muslime verleihen mit dem Tragen von Turban und Kopftuch zugleich dem fundamentalistischen Prinzip Ausdruck, wonach der Islam dem Staat und seinen Gesetzen übergeordnet sei, ja sie stellten letzthin sogar den "laizistischen" (nicht religiös begründeten) Staat selbst in Frage. Das Kopftuch als politisches Symbol hat in der islamischen Welt eine Geschichte. Von christlichen Nonnen ist nicht bekannt, dass sie je den Schleier als Attribut der Überlegenheit ihrer Religion gegenüber dem Staat betrachtet hätten.

Dass Atatürk den Türken statt Turban und Fes eurpoäische Hüte empfahl, erwies sich in der religiösen Praxis als höchst unglücklicher Vorschlag. Die Krempe stört, wenn sich Muslime beim Beten mit der Stirne bis zum Boden gen Mekka verneigen.

Muslimische Kreationen sind Turban und Kopftuch indes nicht. Im Orient und auf dem indischen Subkontinent winden sich die Menschen seit Jahrtausenden die bis zu sechs Meter langen Tücher um den Kopf. Im Alten Testament, bei Moses, bei Jesaia oder im Buch Hiob finden sich zahlreiche Stellen, in denen die Autoren den Turban als Schmuck beschreiben, der für Reinheit, Würde oder Gerechtigkeit steht.

Den männlichen Gläubigen der indischen Sikh-Religion ist es nicht nur untersagt, sich die Bärte zu schneiden, sie müssen auch den Turban tragen, den Dastar jeden Morgen neu um ihre Häupter winden. Je nach Erfahrung und Wickeltechnik kann das zwischen fünf und 25 Minuten dauern.

Jasvir Singh ist der erste Sikh, der es geschafft hat, als Polizist in Kanada einen Dienst-Turban zu tragen, im selben Dunkelblau wie die Uniformmützen seiner Kolle- gen, mit Polizeiplakette über der Stirn. Sein deutscher Glaubensbruder Ranjit wurde gerichtlich von der Helmpflicht befreit. Er darf mit Turban Motorrad fahren.

Ich ziehe meinen Hut!

Ich ziehe meinen Hut! Gleiche Brüder, gleiche Kappen. Wer nicht spurt, bekommt eins auf die Mütze. Die deutsche Sprache ist reich an Aussprüchen, die sich um die Kopfbedeckung ranken. Mehr als sieben Jahrhunderte waren Hut und Mütze hierzulande obenauf. Gegenwärtig erleben sie eine Renaissance. Dem Dienst entfremdet, prangen russische Uniformmützen auf den Köpfen von Technofreaks. Mädchen tragen Piratentücher. Baseballmützen überall. Selbst Bischöfe ziehen sie sich in der Freizeit in die Stirn. Bei US-Präsidenten scheinen sie längst zur Amtstracht zu gehören.

Ob Großmutter Freude gehabt hätte an dieser Art, Hut und Mütze zu tragen? Während der Diskussion bei der Hochzeitsparty gehen die Meinungen auseinander. Dass Lilly, die Schwester der Braut, verkündete, für ihre eigene Trauung im kommenden Jahr würde sie eine Hutkreation entwerfen lassen, bei der uns die Augen aus dem Kopf fielen, hätte sie jedenfalls amüsiert. Das erschrockene Gesicht von Lillys Mutter obendrein. Wir, die barhäuptige Generation, müssen uns eingestehen: Unsere Jugendzeit war nur ein kurzes Zwischenspiel in der uralten Geschichte der Menschen und ihrer Hüte, Turbane, Kopftücher und Mützen. Arnd Brummer

 

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