Was ist religiöser Fundamentalismus?
Jedes Wunder wörtlich nehmen, keine Wahrheit außer der eigenen gelten lassen: Manche Protestanten folgen einer Moral ohne Kompromisse ­- aber Gewalttäter sind nur wenige unter ihnen.
Portrait Burkhard Weitz, verantwortlicher Redakteur für chrismon plusLena Uphoff
07.10.2010

Auf dem Weg in die Klinik macht David Gunn an einer Tankstelle Pause, er liest Zeitung und trinkt einen Becher Kaffee. Michael Griffin hat ihn nur zufällig entdeckt. Man kennt Gunn in der kleinen Stadt in Florida, er ist der "Abtreibungsarzt". Griffin spricht ihn an: "David Gunn, der Herr hat mir gesagt: Sie haben noch eine Chance." Fünf Tage später, am 10. März 1993, schießt Griffin Gunn in den Rücken. Es war der erste Mord eines Abtreibungsgegners an einem Arzt in den USA.

Portrait Burkhard Weitz, verantwortlicher Redakteur für chrismon plusLena Uphoff

Burkhard Weitz

Burkhard Weitz war als chrismon-Redakteur bis Oktober 2022 verantwortlich für die Aboausgabe chrismon plus. Er studierte Theologie und Religionswissenschaften in Bielefeld, Hamburg, Amsterdam (Niederlande) und Philadelphia (USA). Über eine freie Mitarbeit kam er zum "Deutschen Allgemeinen Sonntagsblatt" und war mehrfach auf Recherchen in den USA, im Nahen Osten und in Westafrika. Seit November 2022 betreut er als ordinierter Pfarrer eine Gemeinde in Offenbach.

Seine Tat begründete Griffin mit einem Bibelzitat: "Wer Menschenblut vergießt, dessen Blut soll auch durch Menschen vergossen werden" (1. Mose 9,6). Griffins Insistieren auf einzelnen Bibelversen ließ ihn jeden anderen Gedanken ausblenden, sein Fanatismus schürte seinen Zorn. Einen wie ihn nennt man landläufig einen Fundamentalisten. Zu Recht?

Seinen Namen verdankt der Fundamentalismus einer Schriftenreihe, in der sich erzkonservative US-Protestanten gegen liberale Protestanten vor allem aus Europa abgrenzten. "The Fundamentals" erschienen zwischen 1910 und 1915. Ihr Anliegen: ein "wörtliches" Bibelverständnis.

"Schöpfung in sechs Tagen"

Damals wie heute sagen Fundamentalisten, dass die Welt in sechs Tagen erschaffen worden und 10 000 Jahre alt sei. Dass eine Sintflut den Globus bedeckte und Mose alle Bücher Mose geschrieben habe. Dass biblische Wunder wirklich geschehen seien und Jesus bald wiederkomme. Jeden Versuch, die Bibel historisch zu verstehen, lehnen sie ab. Ihre Ethik ist konservativ, sie verteufeln Abtreibung und Homosexualität.

Seit den achtziger Jahren verschafft sich die religiöse Rechte in den USA mit fundamentalistischen Ansichten zunehmend Gehör. Sie will ihr Weltbild im Schulunterricht verankert sehen, sie fordert Gesetze gegen Abtreibung und Homosexualität. Die Grenzen zwischen religiöser Rechter und radikalen Fundamentalisten sind fließend. Oft wird der Begriff "Fundamentalismus" aber auch sehr eng verstanden und nur auf radikale Bibeltreue bezogen, die sich in sektenähnliche Gemeinschaften zurückgezogen haben.

Seit 1985, als die Hisbollah im Libanon amerikanische Geiseln nahm, ist auch von islamischem Fundamentalismus die Rede. Um der amerikanischen Öffentlichkeit die Außenseiterposition der Radikal-Muslime verständlich zu machen, verglichen Journalisten sie mit den Fundamentalisten daheim. Der Begriff verselbständigte sich. Religiöser Fundamentalismus wurde zum Kampfbegriff gegen Fanatiker und Terroristen. Er gilt schiitischen Radikalen, Muslimbrüdern, Hamas- und Al-Qaida-Terroristen ebenso wie nationalistischen Hindus, radikal-konservativen Katholiken und starrsinnigen Athos-mönchen.

Einseitige Fixierung

Ob solche Übertragungen immer sinnvoll sind, ist fraglich. Denn sie suggerieren Ähnlichkeiten, wo es kaum welche gibt, und Differenzen, die so nicht vorhanden sind. Irreführend wäre zum Beispiel der Eindruck, nur radikale Islamisten glaubten an die Unfehlbarkeit des Korans. Das tun alle religiösen Muslime. Falsch wäre erst recht der Eindruck, Fundamentalisten seien immer Geiselnehmer und Bombenleger. Selbstverständlich sind die meisten Fundamentalisten friedlich.

Dennoch: Fundamentalistische Verblendung trug sicher dazu bei, dass Michael Griffin den Arzt David Gunn erschoss. Die Moderne war Griffins Angstgegner. Die einseitige Fixierung auf bestimmte Fundamente seines Glaubens versperrte ihm den Blick auf Mitmenschen, für die ihn der Glaube doch eigentlich öffnen sollte. Griffin klammerte sich an einzelne Bibelverse und überlas andere. Warum hat er sich nicht an die Geschichte von Jesus und der Ehebrecherin gehalten? Dann hätte er sich nicht zum Richter über Leben und Tod erheben können. Als Männer eine Ehebrecherin unter Berufung auf die Gebote steinigen wollten, warnte sie Jesus: "Wer von euch ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein." Und keiner warf (Johannes 8).

Fundamentalisten sind konservative Protestanten, die die Bibel wörtlich verstehen wollen und die Moderne verkommen finden. Man mag sie für skurril halten, gewalttätig sind nur wenige unter ihnen. Und religiöse Gewalttäter sollte man als das bezeichnen, was sie sind: Fanatiker und Terroristen.

Neuen Kommentar hinzufügen

Der Inhalt dieses Feldes wird nicht öffentlich zugänglich angezeigt.

Plain text

  • Keine HTML-Tags erlaubt.
  • Zeilenumbrüche und Absätze werden automatisch erzeugt.
Wählen Sie bitte aus den Symbolen die/den/das Roller aus.
Mit dieser Aufforderung versuchen wir sicherzustellen, dass kein Computer dieses Formular abschickt.