Auch die Opas und die Tanten. Aber wir spielen alle gegeneinander aus: Karriere-Zicken und Cappuccino-Luder, Ego-Singles und Erziehungs-Versager. Schluss damit! Ein Plädoyer für Vielfalt und Nähe ­ auch da, wo sie nervt Text Ursula ott Fotos Katharina Mayer
Tim Wegner
07.10.2010

Es war ein warmer Frühsommerabend, an dem das Stadtvolk draußen sitzt beim Lieblingsitaliener. Plötzlich tauchte, wie aus einer anderen Zeit, ein Zimmermann mit schwarzem Kordanzug und gedrechseltem Holzstock auf. Zwischen den Designertischen, an denen der Großstadtmensch seine Bärlauch-Consommé löffelt, sagte der junge Mann tapfer seinen Spruch auf von der Walz, auf der er sich drei Jahre lang und einen Tag befinde. Und sprach, voller Unschuld, seinen Abschiedsvers: "Und wünsch, allein des Reimes wegen, einen reichen Kindersegen."

Einen reichen Kindersegen, wie rührend. Nichts mehr stimmte an dem ganzen Auftritt. Alle, die wir da saßen, sind längst auf der Walz. Zwischen Köln und Frankfurt am Main, zwischen Großraumbüro und Kindergarten, zwischen Erstfamilie und Zweitfamilie. Statt der schönen christlichen Vokabel "Segen", den man sich einst von Kindern versprach, titelt der "Spiegel" schon mal mit einem "Kreuzzug" für die Familie. Und "reich" machen Kinder schon lange nicht mehr, so der neueste Bericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbands. Kinder machen arm, zwei Millionen Mal in Deutschland.

Heute kriegen die Mütter eins drauf, morgen die Singles, übermorgen die Alten

Man gab dem wandernden Handwerksburschen reichlich Euros. Und fragte sich den Rest des Abends, was eigentlich los ist in Deutschland im Jahr 2006. Seit Monaten tobt eine öffentliche Debatte um die Familie. Und mit jedem Tag wird sie gnadenloser. Heute kriegen die Mütter eins drauf, morgen die Singles, übermorgen die Alten. Mütter ohne Job trinken den ganzen Tag Cappuccino. Mütter mit Job entsorgen ihre Kinder kalt in der Kinderkrippe. Karrierefrauen ohne Kinder meißeln egoistisch an ihrer persönlichen Selbstverwirklichung. Alte verjubeln ihre opulente Rente auf Kreuzfahrten. Junge verkrümeln sich ins Ausland, anstatt ihre deutschen Gene in Deutschland zu vermehren und so die Renten zu sichern. Man möchte sich am liebsten ducken, damit einen die nächste Keule nicht erwischt.

Im Sortieren waren wir Deutschen schon immer gut, zu allen Zeiten, unter allen Verhältnissen. Heute sortieren wir die Kinderlosen von den Eltern. Die Doppelverdiener von den Hausfrauenehen. Die Kinderbesitzer von den Hundebesitzern. Die Deutschen von den Ausländern. Die Jungen von den Alten. Die Raucher von den Nichtrauchern. Die schnellen Schüler von den langsameren. Die auf Lebenszeit Angestellten von der Generation Praktikum. Gern verteidigen wir die kleine Schachtel, in der wir selber gerade stecken, und sind doch zerfressen vor Neid, sollte in der Box nebenan der leiseste Verdacht auf Vorteile aufkommen. Steuerfreibetrag? Vätermonate? Elterngeld? Skandal! "Bild"-Zeitung! "Christiansen"! Dass da mal bloß nebenan keiner zu glücklich wird.

"Vorher warst du Frau und Mensch. Jetzt bist du Mutter."

Man möchte im Moment nicht gerade in der Situation sein, von der einen in die andere Kategorie wechseln zu müssen. Zum Beispiel den Job verlieren. Oder alt werden. Oder Kinder kriegen. "Ich dachte, ich sehe nicht richtig", erinnert sich Claudia Fischer-Appelt, 38, Designerin aus Hamburg. "Als ich vor sieben Jahren mein erstes Kind bekam, wurde mir schnell klar gemacht: Jetzt musst du dich umstellen. Vorher warst du Frau und Mensch. Jetzt bist du Mutter." Bei jeder Windel, die sie ihrem Kind anlegte, ärgerte sie sich über die blöden Bärchen auf dem Klettverschluss. Bei jeder Persil-Werbung über den Spruch "Nur richtig weiß macht glücklich". Bei jedem Restaurantbesuch über die Unverschämtheit einer Kinderecke, in jedem Urlaub über das infantile Familienghetto.

"Wenn du erst mal Kinder hast, ist Schluss mit lustig", sei die Botschaft an die Jungen, glaubt Fischer-Appelt, Geschäftsführerin der Designagentur Ligalux. Und ließ das Umfrageinstitut Forsa bei 500 kinderlosen Deutschen fragen, wie sie dieses verstaubte Familienbild so finden. "Ziemlich abschreckend", war das Ergebnis. Zwei Drittel der jungen Frauen wollten keinesfalls so werden wie die Muster-Mütter aus der Werbung. "Das Design bestimmt das Bewusstsein", sagt die mittlerweile zweifache Mutter und rief die Aktion "Nieder mit den Bärchen" aus. Eine Einladung an alle, die Mickymaus-Strampler gratis gegen coole "Mamamoto"-Shirts einzutauschen und das verstaubte Familienimage gegen ein zeitgemäßes. "Wir müssen diese Kategorisierung in Eltern und Menschen aufheben", sagt die Agenturchefin, "die Familie in Deutschland ist viel moderner als ihr Bild."

In der Tat. Die Familie in Deutschland ist ja keinesfalls "katastrophal gescheitert", wie der "FAZ"-Herausgeber Frank Schirrmacher in seinem Buch "Minimum" beklagt. Sie ist hochmodern, sie ist flexibel ­ sie ist geradezu eine Meisterin der Anpassung. Dabei sind die Anforderungen in diesen Zeiten mehr als hoch: Nur noch eine Zeitspanne von fünf Jahren, so der neue Familienbericht der Bundesregierung, bleibt der Durchschnittsfrau, um in ihrer "Rush hour of life" ein Kind zu bekommen. Zwischen viel zu langen deutschen Ausbildungszeiten und dem biologischen Niedergang der Fruchtbarkeit. Die Wirtschaft verlangt nach Flexibilität, von allen. Der Hartz-4-Empfänger muss bis zu zwei Stunden Anfahrt in Kauf nehmen, der Manager soll sich fürs globale Pendeln allzeit bereithalten. Und zwischen 30 und 35, zwischen Thüringen und Bayern, zwischen Frankfurt/Main und Dubai soll sich der Mensch auch noch um die Pflege der alten Eltern kümmern ­ denn dafür hat der Staat bald kein Geld mehr.

Alles gleichzeitig, in immer gleicher Besetzung, das ist kaum zu schaffen. Deshalb verändern sich Familien im Laufe eines Lebens. "Wie ein mäandernder Fluss", schreibt der führende Familienforscher der Republik, Hans Bertram. Das Bild muss man sich merken.

Egoistischer Single? Hedonistische Karriere-Tusse?

Da ist Michael, der kinderlose Musiker, dessen Bruder mit Mitte 40 gleichzeitig den Job verliert und von der Frau verlassen wird. Michael packt seine Sachen, zieht für ein halbes Jahr von Hamburg nach Frankfurt/Main und versorgt die beiden pubertierenden Neffen, bis der Bruder wieder sein Leben in den Griff bekommt. Michael, ein egoistischer Single?

Da ist Anna, kinderlose Journalistin, die mit Ende 30 in die Nähe der verwitweten 80-jährigen Tante zieht. Ihr eine Pflegerin besorgt, sie zweimal die Woche abends besucht. Allerdings erst spätabends, denn Annas Kolleginnen haben Kinder und müssen pünktlich Feierabend machen. Anna macht einen Teil von deren Jobs mit. Anna, eine hedonistische Karriere-Tusse?

Da ist Mark, dessen Kinder längst aus dem Haus sind, als er sich in eine jüngere Frau mit zwei kleinen Söhnen verliebt. Es ist nicht Blut von seinem Blute, wenn sich einer der kleinen Stiefsöhne das Knie aufschlägt ­ aber natürlich klebt Mark ein Dino-Pflaster drauf. Tröstet sie, kocht ihnen Spaghetti und schnauzt sie an, wenn sie den Teller nicht freiwillig wegräumen. Mark, ein katastrophal gescheiterter Scheidungsvater?

Michael, Anna und Mark haben keine eigenen Kinder, die sie versorgen. Aber sie haben Familie. "Alle haben Familie" ­ Bischof Wolfgang Huber gab das zeitgemäße Motto aus. Alle haben Eltern, für die sie Verantwortung tragen. Und mehr denn je kümmern sich Menschen freiwillig um andere, um Nachbarn, um Patenkinder, um Flüchtlinge, um Alte ­ noch nie waren so viele Deutsche ehrenamtlich engagiert. Wahlverwandtschaften, manchmal nur auf Zeit. Aber deshalb nur Familien zweiter Klasse? Wie gnadenlos deutsch, auch das.

Damit Menschen neue Netzwerke knüpfen, müssen sie sich allerdings erst mal treffen. Deshalb ist es so dumm, das Lagerdenken der Deutschen. Schon im ICE ist es eine Unverschämtheit, Familien in ein eigenes Abteil zu stecken, auf dass die Kinder unter sich bleiben und sich gegenseitig die Köpfe einschlagen. Für eine ganze Gesellschaft ist es fatal: Weil wir uns gegenseitig gar nicht mehr kennen lernen. Der Hass auf Ausländer -­ er ist in Ostdeutschland dort am höchsten, wo es fast keine Ausländer gibt. Die Mär von der faulen deutschen Mutter ­- sie wird erdichtet in Männer- Redaktionen, wo Kinder bestenfalls als Minusposten auf der Unterhalts-abrechnung auftauchen.

Nähe aushalten: das muss diese Gesellschaft schleunigst lernen. Holt die Familien aus dem Bärchenghetto, lasst sie im normalen Restaurant essen ­ und faltet die Kinder zusammen, wenn sie sich danebenbenehmen. Allemal nachhaltiger, als im bürgerlichen Feuilleton den siebten klugen Essay über schlecht erzogene Kinder zu schreiben. Holt die Alten aus dem Seniorenghetto und lasst sie an die Uni. Aber sagt ihnen auch, dass sie nerven, wenn sie in der ersten Reihe sitzen und den Hörsaal mit Geschichten vom Krieg langweilen. Holt die Migrantenkinder aus den Türken-ghettos und schickt sie an die besten Schulen. Aber schmeißt sie von der Schule, wenn sie ihre Ehre mit Messern und Muskeln verteidigen wollen.

Windpocken, Lese-Rechtschreib-Störung und Star-Wars-Episode V

Nähe erzeugt Reibung, sagt die amtierende Familienministerin. Und Reibung erzeugt Wärme ­ alles besser als die Kälte im Ghetto. Einiges, was momentan diskutiert wird, soll die Lebenswelten besser mischen: In Mehr-Generationen-Häusern sollen sich Kinder und Alte treffen. In der Babyphase sollen mehr Väter zu Hause sein, was nicht nur für die Kinder nett ist. Sondern auch segensreich für das Liebesleben der Paare, das, wie jeder Väterforscher weiß, vor allem an der Entfremdung der Lebensstile scheitert. Und durch die verkürzte Elternzeit sollen mehr Mütter und Väter früher wieder in Betrieben auftauchen ­ damit auch die kinderlosen Kollegen frühzeitig mitkriegen, wie sich Windpocken, Lese-Rechtschreib-Störung und Star-Wars-Episode V anfühlen.

Ob sie sich durchsetzen, solche neuen Ideen? Sicher ist das nicht. Wie immer, wenn es ein bisschen komplizierter wird, haben schlichte Ideen großen Zulauf. Man könnte ja einfach die Uhr zurückdrehen. Sich wahlweise auf die Hirnforschung, die Evolution oder die Gene verlassen. Oder auf ein Geschwurbel aus allen drei Disziplinen, wie Frank Schirrmacher, und hoffen, dass Frauen sich wieder besinnen auf ihre Bestimmung und sich "aufopfern" für die Familie. Oder dass wenigstens die richtigen Frauen sich aufopfern, wie der amerikanische Soziologe Phillip Longman orakelt: Wenn ­ wie angeblich immer in der Evolution ­ die Konservativen mehr Kinder kriegen als die Fortschrittlichen, dann hat sich der Fortschritt irgendwann biologisch von selbst erledigt.

Aufopfern, auch so eine Vokabel, die mal die Kirche gepachtet hatte. Aber kein Papst und kein Bischof würde sich heute noch trauen, von der einen Hälfte der Menschheit ein Opfer zu fordern, auf dass für die andere Hälfte möglichst alles beim Alten bliebe. So was traut sich nur noch das politische Feuilleton. Um sich dann scheinheilig über den "Zickenkrieg" zu wundern, den man mit solchen Provokationen auslöst. Und der Bischof sagt, was eigentlich die liberalen Vordenker formulieren müssten: "Ich möchte, dass Menschen ihre Lebensgeschichte selbst gestalten können." So soll es sein.

 

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