glaubitz & heidepriem
Achterbahn und Abenteuer
Ein Unternehmer und ein Philosoph unterscheiden echte von simulierten Risiken - und empfehlen, Bedenken auch mal zu überwinden
07.10.2010

chrismon: Fahren Sie gerne Achterbahn, Herr Safranski?

Rüdiger Safranski: Zurzeit nicht. Ich habe das Gefühl, das ganze politische Leben ist gerade eine Achterbahnfahrt.

Ist Achterbahnfahren überhaupt ein Risiko, Herr Mack?

Roland Mack: Wo Menschen Hand anlegen, gibt es keine hundertprozentige Sicherheit. Und trotzdem: Das Risiko, sich bei einer Achterbahnfahrt ernsthaft zu verletzen, liegt bei eins zu 23 Millionen. Das ist etwa so, wie wenn man hintereinander zwei Sechser im Lotto landet. Die Achterbahn ist das sicherste Massenverkehrsmittel der Welt. Deshalb würde ich nicht von Risiko sprechen, sondern v on einer Art Abenteuer. 

Safranski: Aber das ist ursprünglich immer mit Gefahr verbunden, sonst wäre es kein Abenteuer. Klar, in einem Park wie Ihrem darf nichts passieren, deshalb gehört er wohl in die Sphäre des simulierten Abenteuers mit simuliertem Risiko, passend zu unserem Sicherheitsdenken. In unseren hochentwickelten Wohlfahrtsgesellschaften haben wir einen ungeheuren Sicherheitskonsum. Es war noch nie so sicher zu leben wie heute. Und je größer die Sicherheit ist, desto größer ist die gefühlte Bedrohung. Das ist das eine: die Dialektik der Sicherheit. Das andere ist: Diese sichere Gesellschaft produziert das Bedürfnis nach Grenzsituationen. Aber es müssen simulierte Grenzsituationen sein.

Mack: Kann man von einem sicheren Abenteuer sprechen?

Safranski: Der beste Lackmustest darauf, wie viel Gefahr wirklich in so einem Abenteuer steckt, ist: Gibt es eine Versicherung, die für ein Risiko aufkommt? Wenn die eine Motorradreise in die südliche Sahara nicht mehr bezahlen, ist es wirklich ein Abenteuerurlaub! Nun sind solche echten Abenteuer nicht unbedingt was für jedermann - und es ist doch ein zivilisatorischer Gewinn, dass wir heute viele Ernstfälle in entlastende Spielsituationen überführt haben. Wir haben zum Beispiel den Fußball, wo sich Nationalgefühle ohne Gefahr abreagieren können.

Mack: Geht es denn wirklich immer um die Gefahr? Als meine Kinder noch ganz klein waren, habe ich sie oft in die Luft geworfen. Ich war Torwart, ich wusste, ich konnte sie gut auffangen. Und die wollten das immer wieder! Es war wohl eher das Kribbeln im Bauch, das Gefühl, schwerelos zu sein, die Bewegung.

Safranski: Ja, Kinder scheinen das zu brauchen. Sie haben schon Angst - aber sie suchen Situationen der Herausforderung. Deshalb machen Jugendliche Mutproben.

Aber, Herr Mack: So ein kleiner Zwischenfall mit der Achterbahn, alle zwanzig Jahre und ohne dass jemandem etwas passiert - das würde doch den Nervenkitzel erhöhen, oder?

Mack: Mit Sicherheit nicht! Ich glaube, wer so eine Bahn wie unseren neuen Megacoaster "blue fire" das erste Mal fährt, weiß einfach nicht: Wie reagieren mein Körper und meine Psyche darauf? Wir setzen die Gäste der vier- oder fünffachen Schwerkraft aus, wir drehen sie in spektakulärer Weise, wir halten sie ohne Gurt, nur mit Bügeln. Es ist verrückt, Sie haben wirklich das Gefühl, Sie fliegen raus - allerdings nur für eine Sekunde. Aber Sie werden absolut sicher gehalten. Durchgerechnet und TÜV-geprüft.

Safranski: Das ist doch ein schönes Beispiel: Man wird absolut sicher gehalten, aber hat wirklich das Gefühl, man fliegt raus. Das ist das Optimale - das Körpergefühl der Grenzsituation, aber es ist, gottlob, doch keine Grenzsituation.

Herr Mack, gibt es für Sie Grenzen beim Bau von Achterbahnen, absolute Grenzen?

Mack: Wir untersuchen mit den Ingenieuren und auch mit den Medizinern an der Technischen Hochschule in München seit vielen Jahren, was man Menschen zumuten kann. Wir wollen als Hersteller schon auch die physikalischen Grenzen der Belastbarkeit des Menschen kennen - und auch erreichen. Aber ich würde niemals diese Grenzen überschreiten. Drei Minuten vier g, vierfache Schwerkraft, wie es Astronauten aushalten müssen, kann ich unseren Fahrgästen nicht zumuten. Aber eine oder zwei Sekunden: Das geht, sagen die Mediziner. Für mich sind es eher wirtschaftliche Risiken, die ich nicht eingehe. Wir werden immer wieder gefragt, ob wir so einen Park nicht in einem andern Land einfach noch mal aufbauen wollen. Nein, wollen wir nicht, wir haben nicht die Managementkapazität, wir stoßen an unsere Grenzen.

Safranski: Da kommen wir an den eigentlichen Sinn des Begriffs. Als das Wort aufkam, im 16. Jahrhundert, da war mit Risiko das unternehmerische Risiko gemeint. Wörtlich bedeutet Risiko: "um die Klippe herum". Handelsleute, die ein Schiff Richtung Neue Welt schickten, fragten sich: Kommt es zurück? Risiken waren nicht irgendwelche Gefahren, sondern Gefahren, die mit unternehmerischen Handlungen zusammenhingen. Inzwischen hat sich die Bedeutung stark ausgeweitet und verändert. Etwa in der Medizin: Wir lassen uns durchchecken, ermitteln, zu welcher Risikogruppe wir gehören, und all die Vorsorgeuntersuchungen zwingen uns, uns selbst als ein Bündel von Risikofaktoren zu begreifen. Man wird dazu angehalten, einen ständigen Verdacht gegenüber möglichen eigenen Krankheiten zu haben - ein Verdacht, der selbst krank macht. Es gibt Standards der Vorsorge und der Selbstbeobachtung, die grenzen an Hypochondrie.

Vielleicht kümmern wir uns deshalb so um unsere Gesundheit, weil andere Risiken heute sehr abstrakt oder komplex sind?

Safranski: Klar, wir sind mit dem technischen Fortschritt in neue Dimensionen geraten. Wir produzieren Risiken, die nicht mehr kontrollierbar sind. Auch da lohnt es sich, bei Versicherungen zu fragen: Keine Versicherung würde die Risiken der Atomkraft versichern. Umso mehr sind wir natürlich froh, wenn wir doch Schuldige benennen können. Deshalb war ja der isländische Vulkan ganzinteressant. Der ist gewissermaßen schuldlos. Das ist die Natur, da raucht und faucht sie mal, und der ganze europäische Flugverkehr bricht zusammen. Wem, Herr Mack, hätten Sie die Schuld geben können, wenn Ihre Parkidee gescheitert wäre?

Mack: Nur uns selbst. Viele haben uns damals den Erfolg nicht zugetraut. "Die Freizeitruine wächst" - das waren so die Schlagzeilen 1975, als wir anfingen. Mein Vater, Hersteller von Fahrattraktionen, war schon 52, er musste mit seinem gesamten Vermögen haften, da muss man schon fest an seine Idee glauben.

Man muss an etwas glauben?

Mack: Na ja, wir wussten auch etwas, wir hatten einen Informationsvorsprung. Seit vielen Generationen haben wir die Erfahrung, wie so eine Anlage funktioniert, und wir haben im richtigen Augenblick die Marktlücke eines Freizeitparks gesehen. Wer nichts riskiert, kannnicht einmal verlieren - das hat Reinhold Messner in seiner Laudatio gesagt, als ich Entrepreneur des Jahres wurde.

Safranski: Ja, das ist doch in der gegenwärtigen Situation wichtig, in Erinnerung zu rufen: Die Idee des Unternehmertums hängt mit der Bereitschaft zum Risiko zusammen. Deswegen ist die Empörung umso größer, wenn ein Unternehmen mit einer bestimmten Größe nicht mehr bankrottgehen darf, weil es systemisch nicht möglich ist. In dem Moment hat man doch die eine Hälfte des Unternehmertums weggeschlagen. Dann ist das eben kein Privatunternehmen mehr, dann muss es auch anders behandelt werden. Als Gemeinwohlunternehmen meinetwegen. Daran krankt die Finanzbranche. Sie ist etwas Undefinierbares - sie ist nicht staatlich, aber auch kein richtiges Unternehmertum mehr. Es fehlt das Entscheidende, was zum Ethos des Unternehmertums gehört: Risiko.

Mack: Da gibt es schlimme Sachen, gar keine Frage. Wir brauchen Regeln gegen das Risiko, das die Finanzmärkte derzeit bilden. Ich weiß aber auch nicht, ob im globalen Wettbewerb solche Maßnahmen überhaupt greifen können...

Safranski: Na ja, aber der TÜV für Autos hat sich ja auch durchgesetzt, warum soll man nicht auch - à la longue - einen TÜV für Wertpapiere durchsetzen? Das ist eine politische Machtfrage. Mack: Mein Großvater hat zweimal sein Geld verloren, bei zwei Währungsreformen. Der hatte zum Schluss sein Geld bei 48 Banken, weil er keiner mehr getraut hat.

Wir leben jeden Tag nach dem Motto: Wird schon gutgehen! Wie soll man auch sonst leben?

Mack: So muss man es machen - aber immer mit einem Rückzugsplan. Wie die Bergsteiger. Die steigen bei Wind und Wetter auf, aber wenn es schlimm wird, geht's wieder ins Basislager. Trotzdem kann es natürlich schiefgehen.

Safranski: Das mit dem Basislager ist richtig. Aber das andere ist auch erforderlich: ein Stück Unbekümmertheit, Gottvertrauen. Ich wundere mich doch, wenn sich heute schon junge Studenten, Anfangssemester, um ihre Rente Gedanken machen. Ich will ja kein Generationenbashing betreiben. Aber ein Element von Frühvergreisung ist schon dabei, oder? Ich habe von 1964 bis 1970 studiert, da war die Lage auf dem Arbeitsmarkt auch nicht ideal, trotzdem hat sich keiner derartig um die Zukunft gesorgt.

Mack: Wir haben damals aber auch alle bescheidener gelebt, deshalb war dieses Sicherheitsdenken nicht so ausgeprägt. Wenn man schon in die Wohlstandsgesellschaft hineingeboren wird, hat man mehr zu verlieren.

Die Angst wird den jungen Leuten ja auch nahegelegt.

Safranski: Ich würde trotzdem empfehlen, sich davon frei zu machen, sonst verhagelt es einem doch das Lebensgefühl! Dann kann man sich höchstens noch in so einem Vergnügungspark austoben, um ein paar Stunden sorgenfrei zu sein. Wir sind eine verwöhnte Gesellschaft, und wir sind eine postheroische Gesellschaft. Darüber sind wir ja auch froh, dass man nicht mehr fürs Vaterland stirbt und solche Verrücktheiten. Aber es gibt eine Begleitmusik: die Überängstlichkeit. Es entstehen auch deswegen immer neue Krankheitsbilder, weil wir immer mehr Ängste entnsfalls in meinem Fachgebiet, der Philosophie. Deutsche Philosophen haben wie nirgends sonst das Thema Angst geistvoll und tiefschürfend aufgearbeitet, und so lesen jetzt wohlgelaunte Menschen in Rio de Janeiro Martin Heideggers Gedanken über die Angst und sagen sich: Das können die Deutschen - Autos bauen und Philosophien über die Angst entwickeln.

Mack: Angst ist ein schlechter Ratgeber! Man ist in den Gedanken nicht frei, wenn man Angst hat. Wir beide sind ja schon etwas älter, und trotzdem können wir sagen: Wir haben keinen Krieg erlebt. War es nicht viel, viel schlimmer, als es alle paar Jahrzehnte gekracht hat? Natürlich müssen wir vernünftiger werden und die Bremsen anziehen, die Staatsverschuldung ist ein absolutes Problem. Wir müssen sparen. Da kommt einiges auf uns zu.

Safranski: Wir sind ja auch alle daran beteiligt gewesen, die ganze Mitte der Gesellschaft nimmt Wertschöpfungen in Anspruch, die noch gar nicht geschaffen sind. Da ist was faul im System.

Warum riskieren manche Leute eher ihr Leben als ihre Rente?

Mack: Vielleicht weil sie glauben, ihr Leben hätten sie eher in der Hand? Wir hatten einmal 30 Rennfahrer hier zu Gast, Piloten aus der Deutschen Touren-Meisterschaft. Fünf sind nicht eingestiegen in die Achterbahn, die hatten Angst. Die gehen in ihren Autos mit 300 Sachen in die Kurve, hatten aber das Gefühl: Wenn ich kein Lenkrad in der Hand, keine Bremse habe, bin ich dem System ausgeliefert. Dabei wissen wir aus Erfahrung: Wo ich es selbst in der Hand habe, ist das Risiko viel größer. Ist doch verrückt!

Herr Safranski, machen Sie riskante Sachen?

Safranski: Jedenfalls nicht so Sachen wie Motorradfahren, Bungeespringen oder Bergsteigen. Aber das Gefühl kann ich nachvollziehen: das Leben Spitz auf Knopf - man bekommt noch mal ein ganz anderes Bild von seiner Existenz, wenn man sie riskiert. Die eine Sphäre haben wir durchgerechnet, dazu zählt die Rente. In der anderen fühlen wir uns auf uns selbst gestellt, da mögen wir es, das ganze Leben mal als Gefühl in die Hand zu bekommen. Wir brauchen solche Grenzgänge. Eine mutige Berufswahl kann schon ein solcher Grenzgang sein.

Mack: Das braucht man in der Jugend, oder? Ich stelle mir einen Skispringer vor, wie der da vorm Absprung ist, vielleicht denkt der jetzt an sein Kind, und dann fehlen die letzten Zentimeter; er denkt an die Familie, und schon ist er nicht mehr Weltklasse. Irgendwann nimmt die Risikobereitschaft doch auch ab - weil man eine Verantwortung hat.

Herr Safranski, Sie schreiben Bücher für ein großes Publikum. Ist das auch ein Risiko?

Safranski: Nein, das ist eine schöne Herausforderung. Ein wirklich riskanter Schritt war es, sich ganz als Schriftsteller behaupten zu wollen. Schön, dass das gutging! Darauf konnte ich damals eigentlich nicht setzen. Aber das war auch ein Vitalitätstest. Junge Leute müssen lernen, dass Risiko zum Leben gehört, dass es dafür auch einen Vitalitätszuschuss gibt.

Mack: Wenn es mindestens 51 Prozent Chancen gibt und 49 Prozent Risiko - dann würde ich mich immer für die Chance entscheiden. Angst lähmt.

Safranski: Vielleicht können wir es so sagen: Vitalität bedeutet, dass man Angst, dass man Bedenken überwindet. Wenn Angst lähmend wird, dann erzeugt sie selbst die Situation, vor der man sich fürchtet. Es ist auch wichtig, wie viel Aufmerksamkeit man ihr schenkt. Es kann eine negative Rückkoppelungsschleife entstehen: Je mehr ich auf meine Angst achte, desto größer wird sie. Und es gibt eine positive Rückkoppelung - bei der Zuversicht. Die ist immer wacklig. Aber je mehr ich mich darauf einlasse, desto mehr wächst der produktive Faktor.

Mack: Manchmal muss man aber auch standhaft bleiben. Früher, vor zehn Jahren, wurde ich in die Talkshows als ein Familienunternehmer der siebten Generation eingeladen, der kein Privatkapital ins Unternehmen holen und keine Aktiengesellschaft gründen will. Keine Aktien, kein Private Equity? Da kam ich mir so richtig altmodisch vor! Heute geht ein Raunen durch den Saal, wenn ich sage: Nein, ich wollte nicht an die Börse; ich habe Nachwuchs, der will ins Unternehmen! Plötzlich kann man in Talkshows über Werte reden, und nicht nur über Börsenwerte. Vor zehn Jahren war das altbacken, und heute ist es so was von schick.

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