Illustration: Frank Höhne
Eine Reise in die virtuelle Welt mit Zwischenstopps im Hier und Jetzt
Digital netzwerken, im Internet unterwegs sein, ist das gefährlich? chrismon-Autor Christoph Grabitz machte sich auf die Reise ins Herz der Finsternis. Und kam überraschend heil zurück
07.10.2010

Es ist schon spät und das Weinglas an der Seite fleckig, als ich diesen Satz eintippe: "Hey Russ", schreibe ich, "come on, man, let's be friends." Russ hat kurz geschorene braune Haare, oben igelig, und einen Schnauzbart. Er trägt ein türkises Hemd mit lila Krawatte, das über dem Bauch spannt; Russ ist US-Bürger, Mitglied der Federal Aviation Administration, ein Flieger. "We are family, Russ", schreibe ich, "ich wette, wir haben dieselben deutschpolnischen Vorfahren." Russ Grabitz als Freund hinzufügen? Yes, please. Ich suche bei Facebook nach neuen Kontakten.

Wie jetzt? Im Internet? Ausgerechnet an jenem Ort, an dem wir uns mehrmals täglich aufhalten, der aber zugleich als "achter Kontinent" verschrien ist - ein Ort der entfesselten Geltungssucht, der Willkür, des Mobbings, der Rechtlosigkeit, weit, weit entfernt von uns, der unsere Persönlichkeit verändert, uns krank, doof und abhängig macht, dieser Hort des Oberflächlichen, diese Pornohölle?

Eine Reise durch den "achten Kontinent" ist denn auch eine Reise ins Herz der Finsternis, Irrtümer und Irrwege inbegriffen und sehr viel Angst. Und wie bei jeder guten Reise steht am Ende eine Erkenntnis: Das Netz, das sind wir! Es spiegelt unsere Bedürfnisse wider. Es ist genauso wunderbar wie wir - und genauso krank. Aber dazu gleich.

Plötzlich poppt ein Chat auf

Die Reise beginnt im Juli 2008 in Südamerika, Montevideo, Hauptstadt von Uruguay. "Una lluvia irlandesa", ein irischer Regen, heißt das Theaterstück, das ich mir in einer alten Apotheke ansehe. Mann trifft Frau in Bar. Mann und Frau wandeln durchs Publikum, setzen sich mal hier-, mal dorthin und erzählen ihre Liebesgeschichte. Von dem ersten schüchternen Blick - darf ich mich zu Ihnen setzen - bis zum Ende einer Liebe, bis zur Abtreibung. Es regnet, ein geradezu irischer Regen. Es regnete auch bereits, als sie sich hier das erste Mal trafen.

Es regnet auch noch, als ich durch die Straßen Montevideos in mein zugiges Quartier zurückgehe. Ein geradezu irischer Regen, er regnet bis tief hinein in meine wirren Gedanken. Der Regen trommelt auf das Blechdach, als ich zu Hause ins Internet gehe, um einen Artikel über das Stück zu finden. Irgendeine Rezension wird es schon geben. Ich brauche das jetzt. Ich bin allein. Ich habe gerade niemanden zum Reden.

"Patricia Riquelme Sobrin möchte auf Facebook befreundet sein", lese ich in meinen E-Mails. Kenne ich nicht. Ein Mädchen mit dunklen, fast schwarzen Locken in meinem Alter blickt mich mit großen braunen Augen von ihrem Profilbild an. Woher könnte ich sie kennen? Plötzlich poppt an der Seite ein Chat auf:

Sie: "Abi in Warschau, wie lang ist das her! " Ich: "-?! -"

Sie: "Du weißt schon, die internationale Schule ..."

Ich: "Eine Verwechslung? Abi in Germany, you know.." Sie: "Ooops, Malentendu :P"

Das :P sollte kein :P bleiben. Wenige Sekunden verharrt es.

Dann schiebt der Doppelpunkt sich nach oben, wobei das P nach rechts unten kippt und sich der Zwischenraum plötzlich mit roter Farbe füllt. Übrig bleibt ein Männchen, das mir die Zunge entgegenstreckt. Ich muss lachen. Ab diesem Moment bin ich in meiner ersten Internetbeziehung verfangen.

Fortan verbringe ich Zeit mit meiner neuen Bekannten aus, ähem, Warschau. Wann immer es mir mein Praktikanten-Terminkalender erlaubt, einen ganzen Südhalbkugelwinter lang. Obgleich sie Tausende Kilometer von mir entfernt ist, obwohl wir niemals auf eine Schule gegangen sind, teilen wir ab jetzt Geschichten, Erlebnisse, Gefühle und Gedanken.

Gibt es sie überhaupt?

"Una lluvia Irlandesa". Kennt sie das Stück? Sie verneint. Googelt aber den Namen desAutors, ein Spanier namens Josep Pere Peyró, eher unbekannt. Am nächsten Tag besorgt sie sich das Büchlein in ihrer Madrider Buchhandlung. Wir tippen unsere Geschichten bei Skype ein, wir erzählen von unseren Begegnungen Mann - Bar - Frau, berichten vom Alltag auf Südkegel und iberischer Halbinsel. Eines Nachts träume ich von ihr.

Manchmal kommen Zweifel auf. Gibt es sie überhaupt? Oder ist sie eine kluge Maschine, genial programmiert? Gehe ich einer Betrügerin auf den Leim? Welcher normale Mensch verbringt so viele Stunden am Tag vor dem Rechner? Hat sie am Ende ein Geheimnis? Sitzt im Rollstuhl, hat keine Arme und keine Beine? Egal, " a partir de ahora somos almas gemelas", schreibt sie irgendwann, "wir sind jetzt Seelenverwandte". Gefolgt von einem Smiley. Ein Smiley: ein Lächeln. Viele Smileys: schallendes Gelächter. In zwei Monaten Uruguay habe ich eine Armada von Smileys für sie über den Atlantik geschickt: Das Netz hat mir eine wunderbare Freundin geschenkt. Herr Reiter, was zum Teufel soll an diesem Medium so fürchterlich sein?

Für Markus Reiter, Politologe, Medienberater und Autor des Buches "Dumm 3.0", bedroht der rasante Aufstieg des Internets nicht weniger als unsere gesamte Kultur. "Mimik, Gestik, das notwendige Bauchgefühl", sagt er, "langfristig verlieren wir durch zu viel elektronische Kommunikation die Fähigkeit, einander einzuschätzen." Macht uns das Netz zu Analphabeten unserer eigenen Gefühlswelt?

Um das zu überprüfen, melde ich mich beim Joyclub an, einer Dating-Community für Liebe und Erotik. Die Homepage ist rot und schwarz, es gibt viele Fotos von viel nacktem Fleisch, wer an konkreteren Details menschlicher Kopulation interessiert ist, muss Premium-Mitglied werden. Für Leute, die während ihrer Arbeitszeit im Büro nach Geschlechtspartnern im Netz fischen wollen - das ist übrigens ein Kündigungsgrund -, bietet der Joyclub ein praktisches Feature an: Durch einen schnellen Druck auf die Escapetaste kann man eine harmlose Exceltabelle vor die ganze nackte Haut zaubern - etwa wenn der Chef plötzlich um die Ecke kommt. Wenn es um Erotik geht, ist das Netz so etwas wie Westfernsehen in der DDR: Fast alle nutzen es dafür, die Pornofilmplattform Youporn hat allein 60 Millionen Klicks pro Tag, aber niemand spricht drüber.

Im Wettlauf um ihre Gunst

Der Joyclub zeigt aber auch die integrative Kraft des Netzes: Niemand muss intelligent und gewitzt schreiben können, um einen ansprechenden Text auf sein Profil zu zaubern. Man klickt einfach ein paar Eigenschaften an, die man für sich in Anspruch nimmt, und ein Textgenerator verfasst ein paar nette Zeilen. Bei mir sieht das so aus: "Ich stehe auf Personen, die offen für Neues sind, nette und anregende Gespräche und schöne Momente. Ich bin zwar nicht der König von Mallorca, aber eine eigene Urlaubsinsel in einem der Weltmeere wäre toll! "

Wie schön! Ich trage nun einen grammatisch korrekten Satz über mich selber in meinem persönlichen Profil, ohne die hässlichen Rechtschreibfehler, die ich vielleicht früher immer gemacht habe. Damit ist meine mangelnde Bildung zwar noch nicht vom Tisch, aber im Wettlauf um die Gunst des anderen Geschlechts steht sie mir nicht mehr andauernd im Wege. Mit Darwin gesprochen: ein Selektionsvorteil.

Und was passiert, wenn man Internet und Realität zusammenführt? Sonja und Markus - "keck-frech, offen-ehrlich, mögen: nackte Polonaisen durch den Hausflur; Swinger: ja, Partnertausch: ja" - laden alle Mitglieder des Joyclubs zu ihrer Trauung in die Berliner Hedwigskathedrale ein. Also auch mich. Auf zur Hedwigskathedrale.

Vor dem Rundbau am Berliner Bebelplatz steht eine strahlend weiße Hummer-Stretchlimousine, ein Geländewagen wie ihn Schwarzenegger fährt. An der Glastür zur Kirche sorgt eine grau melierte Dame dafür, dass die Touristen draußen bleiben, wohl eine Pfarrgemeindehelferin.

Frage: "Gehören Sie zur Hochzeitsgesellschaft?" Gesagt: "Ja."

Dabei gedacht: "Offenbar sind Sie kein Mitglied vom Joyclub." Ich gehe rein.

Stilistisch ist die Hochzeitsgesellschaft eine Mischung aus

"Eyes Wide Shut" und Zeche Zollverein. In breitem Ruhrpottwestfälisch werden Fürbitten verlesen, "Du unsa Vatta im Himmül", viele sind sonnenstudiogebräunt, einige Männer haben weißliche Gesichter und strenge Schnurrbärte, eine Frau trägt eine knallgrüne Federboa um den Hals, darunter schwarze Lackkleidung, zum perfekten SM-Outfit fehlen nur noch Peitsche und Maske.

Unterwegs auf dem "achten Kontinent"

Das Brautpaar kichert, herzt und wirft sich tiefe Blicke zu. Als die letzten Klänge des "Ave Maria" im Rund der Kirche verhallen, fängt eine Dame im Hosenanzug vor Rührung laut an zu weinen. 100 Prozent offline. Zum Feiern geht es samt Opa und Oma in ein Freudenhaus am Stadtrand, auch 100 Prozent offline. Es heiraten keine emotionalen Gefrierschränke, sondern Menschen, die sich am allerliebsten in die Augen sehen und miteinander tanzen. Auch nach der digitalen Revolution. Herr Reiter, was sagen Sie jetzt?

"Das Internet verstärkt alles Schlechte", sagt Markus Reiter. "Wer offline ein Außenseiter ist, wird es online noch mehr sein." Für Kritiker wie Reiter wirkt das Netz wie ein Brennglas oder eine Lupe. In Joseph Conrads Roman "Herz der Finsternis" reist der Flussdampferkapitän Marlow im Auftrag der belgischen Handelskompanie bis tief hinein in den Kongo. Auf seiner Reise stößt er auf schreckliche Willkür, rohe Gewalt, brutalen Rassismus. Er hält das alles kaum aus. Der wahre Horror indes, das wird erst im Verlauf der Reise deutlich, ist in ihm selbst, liegt im Abgrund seiner Seele. Vielleicht geht es uns wie Marlow, wenn wir unterwegs sind auf dem "achten Kontinent". Was ist das böse Netz? Und was ist unser Problem mit uns selber, mit den anderen?

Vielleicht hält das Netz uns bloß einen Spiegel vor, unerträglich blank geputzt, schrecklich ehrlich? Wer will, bekommt über das Internet all das Elend dieser Welt ins Wohnzimmer gespült, Kinderpornos, Folter, Umweltkatastrophen, Flugzeugabstürze, 24 Stunden am Tag, im Livestream, ohne Redaktionsschluss, keine Sonn- und Feiertage: Das macht Stress und erfordert ein kluges Konsumverhalten. Früher hat man aus Wut über den Inhalt einer Nachricht deren Überbringer erschlagen. Heute erscheint uns das grausam. Wenn es aber um das böse Netz geht, denken viele Kritiker genauso: Der Spiegel ist schuld an der Fratze, die er zeigt.

Machen soziale Netzwerke unsozial?

Dabei spricht alles dafür, dass Internetkritik tatsächlich Gesellschaftskritik ist. Bereits das unendliche Misstrauen Adornos und Horkheimers gegenüber dem Fernsehen galt weniger den lustigen neuen Kästen, aus denen plötzlich Musik und Nachrichten strömten. Es war ein Argwohn gegen eine befürchtete Verflachung, gegen die neue Vergnügungsindustrie. Heute wird an breiter Front vor einer "Generation Porno" gewarnt. Vor 13-Jährigen, die sich zum Gangbang mit Analsex verabreden statt zum "Mensch ärgere dich nicht". Dass aber ein Marquis de Sade bereits 1797 in "Justine und Juliette" wolllüstig vom Blasen und Lecken und Grabschen schrieb und begeisterte Leser fand, wird dabei gern verschwiegen. Jede Zeit hat ihr Medium und ihre Pornografie. Doch weil früher ja alles besser oder wenigstens nicht so schlimm war, wird heute der Abiturient mit De-Sade-Bändchen im Schrank für die Studienstiftung vorgeschlagen, der Pubertierende auf Youporn indes abgestraft.

"Machen soziale Netzwerke unsozial?", fragt die "Taz". Ja, sagt der auf Cybermobbing spezialisierte Rechtsanwalt Tobias H. Strömer, "weilmit steigender Bandbreite auch die Aggressionsbereitschaft steigt". Sicherlich hat die Angriffsfläche durch das Netz zugenommen. Wird mein Kind bei SchülerVZ als Bettnässer diffamiert: schlimm. Wird es jeden Tag nach der Schule von anderen e kleinen Monstern getreten und geschlagen: auch schlimm. Fällt Cybermobbing mit Prügel zusammen: fatal für eine Persönlichkeit. Natürlich brauchen wir mehr Aufsicht im Internet, mehr Polizei, bei der Strafverfolgung im Internet gibt es großen Nachholbedarf. Aber ist deshalb gleich das gesamte System zu verurteilen? Würden wir das Auto morgen stehen lassen, nur weil es Verkehrsunfälle gibt?

"Draußen", heißt es in einem Theaterstück von René Pollesch, "tobt der Konsens." Bezogen auf das große Geschmuse in der Politik mag das so sein. Allerdings müssen wir uns angewöhnen, in dieses "Draußen" auch das Internet einzubeziehen. Gesellschaftskritik kann heute überhaupt nur wirklich wahrnehmen, wer ein Auge und ein Ohr für das Internet hat.

Bloggen unter Lebensgefahr

"Draußen", Internet inklusive, werben Islamisten offen für den Dschihad, sammeln NPD und Scientology wie eifrige Bienchen Mitglieder. Auf Facebook versammelt ein junger FDP-Mann mehr als 30 000 User für einen Bundespräsidenten Joachim Gauck. Unter Lebensgefahr bloggen chinesische Dissidenten für ein wenig mehr Meinungsfreiheit. Unter den wütenden Augen von Millionen Usern ausaller Welt erstickt die Studentin Neda Agha-Soltan aus Teheran auf Youtube an ihrem eigenen Blut. Und in Deutschland vorder Fußball-WM hetzt ein brauner Fußballstammtisch-Mob gegen einen Spieler mit ghanaischen Wurzeln, als der Michael Ballack aus derWeltmeisterschaft foult. Wo bitte schön tobt hier der Konsens? Zum ersten Mal in der Geschichte gibt es einen globalen Marktplatz der Ideen - und die Chance auf globales Mitgefühl, globale Solidarität, auf dem "achten Kontinent".

Russ Grabitz übrigens hat meine Freundschaftseinladung niemals bestätigt. Vielleicht ist er einfach noch nicht dazu gekommen, oder vielleicht war ihm meine Frage nach den polnischen Vorfahren zu direkt. Irgendwann hat mir jemand eine Freundschaftseinladung geschickt, der mir viel näher steht als alle entfernten Verwandten aus den USA: meine eigene Mutter.

Und meine Schulfreundin aus Warschau? Stand irgendwann im ersten Schnee auf dem Hermannplatz in Berlin-Neukölln. Einen feuerroten Mantel trug sie, über dem sich die schwarzen Locken kringelten wie die Ranken einer eigensinnigen Pflanze. Fröstelnd stand sie da, zwischen einem griechischen Oliven- und einem türkischen Stoffhändler, unter der gräßlichen Bronzestatue gegenüber von Karstadt. Wir haben Fotos angeschaut, beim Lieblings-Thai gegessen, uns totgelacht, alles sehr vertraut. Ermöglicht mit freundlicher Unterstützung des "achten Kontinents". Heute allerdings sehen wir uns kaum noch.

Der "achte Kontinent" ist nur eine Konstruktion aus Hard- und Software - aus Plastik. Ein nützliches Werkzeug unserer Zeit, wie die Mikrowelle, das Handy, der Flachbildfernseher, eigentlich gar nicht wert, dass sich einer hinsetzt und einen langen Text über Paralleluniversen schreibt. Wir aber sind Menschen. Wir hören nicht auf, einander hören, sehen, fühlen, riechen, schmecken zu wollen, die heiß begehrte Ware heißt: Aufmerksamkeit. Und es ist völlig egal, ob die Währung, in der wir sie messen, Umarmungen, Küsse, Schwüre oder Klicks pro Minute heißt. Den "achten Kontinent", mit anderen Worten, gibt es überhaupt nicht. Welch ein Glück.

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