Es kann ziemlich laut werden, tief in der Taiga. Aber auch schön still. Merle Hilbk traf Musiker und Models, lernte Atomforscher, berauschte Schamanen und exzessive Leser kennen ­- und fand eine Ahnung von der russischen Seele. Eine Reise durch fremdes, fernes und seltsam vertrautes Land
07.10.2010

Es begann an dem Tag, an dem ich mich verlaufen hatte; verlaufen in diesem Land, dessen Sprache ich nicht sprach, in einer Stadt am Rand der Steppe, in der ich nicht einmal die Straßennamen lesen konnte. Es war eine Dienstreise. Sonst wäre ich wahrscheinlich niemals auf die Idee gekommen, nach Kasachstan zu fahren.

Während ich durch die Straßen wanderte, die grauen Wohnquader sah, vor denen junge Frauen auf Pfennigabsätzen durch den Sand staksten, die Brachflächen mit den wilden Blumen, die Kioske, über und über mit Zigarettenschachteln und Kaugummipackungen beklebt, erschien mir all das plötzlich seltsam vertraut. Das kann nicht sein, sagte ich mir, du bist doch noch nie hier gewesen.

Ich lernte eine Mann kennen, der sich mit dem Mädchennamen meiner Mutter vorstellte

Drei Jahre später lernte ich auf einem Familienfest in Bayern einen Mann kennen, der Deutsch mit einem russischen Akzent sprach und sich mit dem Mädchennamen meiner Mutter vorstellte. Ob ich nicht gewusst hätte, dass meine Vorfahren nach Westrussland ausgewandert und später nach Sibirien und Kasachstan deportiert worden seien, fragte er. Ich dachte an das Gefühl, das mich früher manchmal beschlichen hatte: Dass es da einen blinden Fleck in der Familiengeschichte gab. Kein großes, sorgsam gehütetes Geheimnis, sondern etwas, dem die Eltern, die Großeltern, die Onkel und Tanten mit Gleichgültigkeit begegneten ­ wohl nicht zuletzt, weil sie nach dem Krieg ihre ganze Energie darein- gesteckt hatten, etwas aufzubauen, dazuzugehören zu dieser bundesdeutschen Gesellschaft.

Jahrelang bin ich durch die Welt gereist auf der Suche nach etwas, was ich nicht benennen konnte. Jetzt, mit meinen russlanddeutschen Verwandten am Tisch, die russischer sind als ich, aber auch deutscher und evangelischer als ich, und mit den Erinnerungen an Kasachstan im Kopf, bekam dieses Etwas endlich Kontur, und es sah fast so aus wie: Heimat.

Eine Heimat, die ich mir nicht als einen Ort vorstellte, an dem ich mich zu Hause fühlte, sondern eher als eine Art, die Welt zu betrachten, eine Haltung, ein Lebensgefühl, das mit meinem eigenen korrespondierte ­ und das ich nun im Osten zu finden hoffte, dort, wo er mir am geheimnisvollsten erschien: in Sibirien.

Ich landete in einem Zimmer mit Häkelgardinen und Kohlköpfen vor dem Fenster, unter der Obhut eines Patriarchen, der mich keine Minute aus den Augen ließ. Der Patriarch war ein Cousin eines Studienfreundes meiner russlanddeutschen Verwandten. In Deutschland hätte eine solche Beziehung höchstens für einen höflichen E-Mail-Kontakt gereicht. In Nowosibirsk saß ich mit der Frau am Mittagstisch, ging mit der Tochter zum Einkaufen und mit dem Sohn zum Schwimmen an den Ob. Und Grigori, der Patriarch, stellte mich an seinem Arbeitsplatz, dem "Institut für Atomphysik", seinen Kollegen vor.

Was hatte ich mir alles ausgemalt: Stacheldraht, bewaffnete Uniformträger, Hunde

Was hatte ich mir alles ausgemalt, als ich diesen Namen hörte: Stacheldraht, bewaffnete Uniformträger, Hunde. Lauter Kalter-Krieg-Phantasien, genährt von John Grisham-Romanen und James Bond-Filmen. Stattdessen nickte mir eine alte Dame freundlich zu, als ich die Eingangspforte passierte. In den Fluren sah ich Schautafeln, die physikalische Phänomene erläuterten, und einen Zettel mit den Trainingszeiten der Aerobicgruppe. In den Büros Resopaltische, Russlandkarten und platinblonde Sekretärinnen, die Tee mit einem schlecht isolierten Tauchsieder kochten ­ der gefährlichsten Gerätschaft, die mir im Institut unter die Augen gekommen ist.

Und noch etwas anderes hatte ich mir ausgemalt: Dass in Sibirien kein Tag vergeht ohne Wodka. In diesem Fall übertraf die Wirklichkeit sogar meine Vorstellung. Es gab Wodka, um eine Arbeitspause zu begießen oder den Feierabend einzuläuten, als vertrauensbildende Maßnahme, auf die Freundschaft und auf die Schönheit der Frauen, Wodka zum Vergessen des Alltags und gegen die Melancholie. "Warum sollen wir heute schon über die Sorgen von morgen nachdenken?", fragte ein Kollege von Grigori verwundert, während er mir den vierten Wodka des Abends einschenkte. "Die holen einen sowieso von selbst ein."

Wir saßen auf Plastikstühlen vor der Datscha, vor uns der Grill, auf dem selbst marinierte "Schaschliki" rösteten, hinter uns die Birken, die so weiß im Mondlicht schimmerten, als wären sie mit Kreide in den Himmel von Nowosibirsk gezeichnet. Ein anderer Kollege griff sich Grigoris alte Gitarre und begann zu singen, "byt s toboj rjadom, nitschewo ne nado ­ Dir nahe zu sein, mehr brauche ich nicht". Mit einer Melancholie in der Stimme, die uns wie ein zartes Gespinst umfing. Zuerst summten wir nur leise mit, dann sangen wir, bis wir vergessen hatten, wer wir waren; wir waren eins, ein Herz, eine Stimme, die diesen Refrain wiederholte, bis der Morgen heraufdämmerte: "Nitschewo ne nado."

Und weiter ging es gen Osten. 32 Stunden lang schaukelte die Transsibirische Eisenbahn durch eine Sommerlandschaft, die die Farben der russischen Flagge trug: das satte Blau des Himmels, das warme Rot der Holzhäuser, das sanfte Weiß der Kartoffelfelder. Auf den ausgefahrenen Sandwegen neben den Gleisen schloss von Zeit zu Zeit ein Bauer auf einer Ural bis auf Abteilhöhe auf, winkte und drehte dann wieder in Richtung Dorf ab. Die Luft, die aus dem spaltbreit geöffneten Fenster hereinwehte, roch nach Grillkohle und Apfelblüten.

Ich wünschte, wir hätten angehalten und diesen Sommer ins Abteil gelassen.

Dann brach die Nacht an, die Abteilnachbarn packten Stockfisch, Schwarzbrot und Wodka aus ihren Reisetaschen, wir tranken und redeten über ihre Lieblingsbeschäftigung, die sie mit den meisten anderen Russen teilten: Lesen. In keinem Land habe ich Menschen so exzessiv lesen sehen wie in Russland. In Bussen, in Warteschlangen, im Speisewagen und auch in den engen Gängen der Transsib hockten sie, vertieft in Tolstoi- und Tschechow-Schwarten; Bücher, die, wie die Marktfrau aus Tschita neben mir meinte, "patriotische Gefühle wecken". Die Marktfrau selbst zog ein schmales Bändchen aus ihrer Reisetasche, dessen Titel mir bekannt vorkam: "Mondscheintarif", die kyrillische Ausgabe von Ildiko von Kürthys Bestseller. Der Arzt auf dem Sitz gegenüber hatte Haruki Murakamis "Mister Aufziehvogel" aufgeschlagen auf den Knien liegen. "Das ist ein so sentimentales Buch, dass man glauben könnte, der Autor sei Russe", sagte er.

Das "Paris des Ostens"

Wir tauschten uns über unsere Lektüre aus, bis es hell wurde und wir das "Paris des Ostens" erreichten. So wird Irkutsk in den meisten deutschsprachigen Reiseführern genannt, und wer nur die Innenstadt kennen lernt, mit ihren sorgsam restaurierten Jugendstil-Gebäuden und Designer-Boutiquen, mit dunkel vertäfelten Cafés und Markthallen, wo es alle Lebensmittel der Welt zu kaufen gibt, dem wird das plausibel vorkommen. In den Vororten dagegen: verfallene Plattenbauten, marode Kombinate, daneben riesige, neonhelle Supermärkte, Nachtclubs mit pastellfarbener Fassade, wilde Wiesen, die Angara, die sich in weiten Schwüngen durch das Tal windet ­ eine rohe, wildromantische Kulisse voller Brüche, die nichts verbirgt, verheimlicht, beschönigt. Eine Kulisse, die die Schritte beschleunigt, das Adrenalin durch den Körper fluten lässt, den Geist aufrüttelt. Die einen das Leben so intensiv spüren lässt wie nirgendwo in diesen aufgeräumten, durchgeplanten deutschen Städten.

Vor der Technischen Universität spricht mich ein junger Mann an, der sich als Jewgenij vorstellt, Ingenieurstudent im sechsten Semester. Ob ich Touristin sei, will er wissen, und ob ich mich für Geschichte interessiere. Eine Stunde später stehen wir im Dekabristen-Museum, dem bedeutendsten Ort der Stadt, sagt Jewgenij. Er stammt aus einer alten Dekabristenfamilie.

Das Museum befindet sich im ehemaligen Wohnhaus der Wolkonskis, einem hell verputzten, zweistöckigen Bau, der aussieht, als hätte die Familie ihn soeben verlassen: schwere Teppiche, golddurchwirkte Vorhänge, mit Schnitzereien verzierte Bücherregale und mit Stoff bezogene Wände, an denen die Porträts der Familienmitglieder hängen, Männer und Frauen mit fein geschnittenen Gesichtern und bestickten Samtgewändern.

Die Wolkonskis waren alter Adel und enge Vertraute des Zaren. Doch Sergej Wolkonski, der im Napoleon-Krieg Seite an Seite mit Leibeigenen gekämpft hatte und in Paris und London mit den Idealen der Französischen Revolution in Berührung gekommen war, beteiligte sich 1825 an einem Putsch gegen Zar Nikolai. Der Aufstand scheiterte und die adligen Anführer der Bewegung, die später nach dem Monat des Putsches (Dekabr bedeutet Dezember) Dekabristen hießen, wurden nach Sibirien verbannt. Dort bauten sie mit dem Geld von Verwandten aus Westrussland Waisenhäuser, Universitäten und Theater, luden Wissenschaftler und Künstler aus ganz Russland nach Sibirien ein.

Der politischen Revolte der Dekabristen entsprach eine geistige Bewegung, die Russland nach dem Sieg über Napoleon mehr verändert hatte als alle Feldzüge: Junge Adlige, die von den Ideen der europäischen Bürgergesellschaft beeinflusst waren, hatten sich der Pflicht entzogen, als Beamte oder Offiziere dem Zaren zu dienen, sie wurden Musiker, Maler, Schriftsteller. Nicht mehr dem Obrigkeitsstaat fühlten sie sich verpflichtet, sondern der "Nation". Einer Nation, die sich vor allem in Abgrenzung zum Westen definierte und dafür unter anderem das philosophische Konstrukt der russischen Seele schuf, eine Idealisierung der unverfälschten, intuitiven Lebensweise und Religiosität der Bauern.

Verbannte, die ihren Verbannungsort in ein kulturelles Zentrum verwandeln, eine Nation, die sich über ihre Geistesgeschichte definiert ­ "je mehr die Wohnungs- und die Lebensmittelpreise in Irkutsk steigen und je schlechter die Lage auf dem Arbeitsmarkt wird, desto mehr richtet mich dieses Kapitel der russischen Geschichte auf", erzählt Jewgenij.

"Orgasmus Nostradamus"

"Orgasmus Nostradamus" will nicht über russische Geschichte reden. Museale Heldenverehrung, Nationalliteratur, Patriotismus: "alles Volksverdummung", schimpft Pjotr, der Manager der Band. Die hat sich einer Musik verschrieben, die zwischen den Holzhäusern, den Datschengärten und Sandwegen Ulan-Udes wie eine Kakophonie aus einer fremden Welt wirkt: Punk. Der Lärm begann zu einer Zeit, als Russland zum ersten Tschetschenien-Krieg rüstete. "Jeder, der jung war, musste damit rechnen, in die Hölle geschickt zu werden. Wir hingen am Leben. Deswegen haben wir einfach verrückt gespielt."

Sie haben tatsächlich "verrückt" gespielt, und einige gingen sogar so weit, eine Schizophrenie vorzutäuschen. Außerdem spielten sie wie verrückt ihre Musik, trauten sich mit ihren drei Akkorden unter den misstrauischen Blicken der Kulturbeamten auf die Bühnen der Jugendclubs, verschanzten sich wochenlang auf der Datscha von Pjotrs Familie, tranken und kifften. Irgendwann schrieb sie ein Militärarzt wehruntauglich. Da gehörte das Rollenspielen, das Sich-der-Welt-Entziehen bereits so sehr zu ihrem Leben, dass sie es nicht mehr ablegen konnten. Sie verweigerten sich der Schule, der Berufsausbildung, dem Geldverdienen und dem Konsum ­ und je heftiger der Kapitalismus in Ostsibirien wütete, desto mehr Anhänger des "Sibirski Punk" von Orgasmus Nostradamus fanden sich auf der Datscha ein. Sie ließen Joints aus Baikalgras kreisen, tanzten Pogo, schubsten und brüllten, bis sie berauscht waren von dem Gefühl, anders zu sein, wilder, widerständiger.

Sibirien ist Europa näher gerückt. Das sagt Sofia Petrowna, die Leiterin der Model-Schule in Ulan-Ude, die ihre Mädchen mit strenger Disziplin zum Erfolg führen will: Sie müssen Diät halten, Gymnastik betreiben. Sie lehrt sie, wie man sich grazil bewegt, sich schminkt und verführerisch lächelt. Zwei haben es bisher zu einem Shooting nach Paris geschafft; zwei mit langen Beinen, blonden Haaren, schmalen Hüften. Die Burjatinnen mit ihren asiatischen Gesichtszügen seien nicht so gefragt, sagt Sofia: "Die sind den Modemachern dann doch zu exotisch." Die Mehrzahl ihrer Schülerinnen sind Burjatinnen, die bisher nur auf russischen Schauen gebucht wurden, wo sie volkstümliche Kleidung präsentieren sollten. Trotzdem träumt Sofia weiter, nach Paris oder Mailand eingeladen zu werden.

Die meisten der Mädchen träumen einen ganz anderen Traum als ihre Lehrerin. "Ich will hübsch sein, damit ich einmal einen gut verdienenden Ehemann finde", erklärt eine von ihnen, ein feingliedriges Mädchen mit glatten, schwarzen Haaren und knochigem Oberkörper. Die anderen nicken: genau deshalb hätten ihre Eltern sie an dieser Schule angemeldet. Und das Schulgeld, das sie investiert hätten, solle sich doch einmal bezahlt machen.

Die Zukunft aus einem Glas Wodka lesen

Ich selbst erfuhr, dass ich einen Mann finden würde, nach dem ich gar nicht gesucht habe; von einer Schamanin, die mir aus einem Glas Wodka die Zukunft las. Die Schamanin hieß Xenia und hat acht Kinder zur Welt gebracht, in einer Vier-Zimmer-Wohnung am Rande eines Industriegebietes von Ulan-Ude, wo sie auch ihre Klienten empfängt. Sie hockte sich im Schneidersitz vor ein Regal mit einer Batterie halbleerer Wodkaflaschen. "Ich sehe zwei Männer in ihrem Leben", begann sie, "der eine spricht ihre Sprache, der andere nicht. Aber sie werden die Liebe bei einem Unbekannten finden. Und ich sehe ­ ein Kind."

Als die Maschine schließlich in Deutschland landete, waren die Blätter an den Bäumen herbstlich gefärbt. Frost lag in der Luft, und auf St. Pauli hatte sich eine russische Band angekündigt, die den gleichen Punk spielte, wie ich ihn auf der Datscha von Orgasmus Nostradamus gehört hatte. Und plötzlich war alles wieder da: der Ob, die Taiga, der Rausch und die Melancholie. Meine Rastlosigkeit verschwand. Da wusste ich, dass ich so schnell nicht mehr wegfahren würde. Denn jetzt war ich zum ersten Mal ganz zu Hause.

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