Tim Wegner
Tim Wegner
07.10.2010

Es ist Advent, die Menschen zünden Kerzen an, und Sie, Herr Tsokos, schneiden Leichen auf. Wie halten Sie das aus?

Michael Tsokos: Es macht für mich keinen Unterschied, ob Weihnachten vor der Tür steht oder Ostern. Gestorben wird immer.

Gisa Klönne: Mein allererstes Buch war eine Anthologie mit Weihnachtskrimis, das ist ein Bestseller. Das liegt sicher daran, dass sich so viele Hoffnungen auf das Fest der Liebe richten. Alle wünschen sich Weihnachten kuschelig, aber je höher die Erwartungen sind, desto schneller geht es schief. Und die größten Abgründe offenbaren sich oft innerhalb der Familie.

An Weihnachten gibt es mehr Gewalt

Wird an Weihnachten mehr gemordet als sonst?

Tsokos: Gemordet nicht. Aber es gibt mehr Gewalt. Da sitzen Leute aufeinander, die sich das ganze Jahr nicht sehen und dann auf Knopfdruck als Familie funktionieren sollen. Übrigens suizidieren auch nicht mehr Menschen als sonst. An Weihnachten ist es dunkel, das passt gut zum Gefühlsleben der Depressiven. Im Frühjahr, wenn es heller wird, ist der Kontrast zum Seelenleben von Depressiven so groß, dass viele sich umbringen.

Klönne: Man hält die Sehnsucht nicht aus und das Glück der anderen. Das ist, wie wenn man Liebeskummer hat und denkt, draußen laufen nur Verliebte rum.

Dann ist jetzt also Normalsaison für Sie, Herr Tsokos?

Tsokos: Nein, es gibt mehr Erfrorene, in Berlin mehrere pro Woche. In Wohnungen erfrieren übrigens mehr Menschen als im Freien. Denen wurde der Strom oder das Gas abgestellt. Soziale Kälte, im wörtlichen Sinne. Fast immer spielt Alkohol eine Rolle. Wer sozial isoliert ist, trinkt öfter. Und mit Alkohol im Blut merkt man nicht, wie kalt es wirklich ist.

Sie haben beide mit solchen Abgründen des Lebens zu tun. Glauben Sie noch an das Gute im Menschen?

Tsokos: Auf jeden Fall, sonst könnte ich den Job nicht machen. Klönne: Manchmal fällt mir das schwer, zum Beispiel wenn ich sehr tief in den Recherchen zu einem Buch stecke, also vor allem die Schattenseiten betrachte. Aber zum Glück wird ja nicht jeder zum Mörder.

Können Sie abends wirklich abschalten?

Tsokos: Ja, immer. Was ich alleine gestern erlebt habe: Ich habe ein 19 Monate altes Kind obduziert, das an einem Herzfehler litt, von dem keiner wusste. Dann war da noch ein 31-Jähriger, der von seiner Mutter nackt mit Kondom im Bett gefunden wurde; er hatte Viagra und Kokain konsumiert und ist beim Geschlechtsverkehr mit einer Prostituierten gestorben. Wieder ein anderer hatte sich vom Hochhaus gestürzt. Wenn ich näher über solche Geschichten nachdenken würde, würde ich zerbrechen. Ich vergesse es nicht, aber es kommt nicht in mein persönliches Leben.

Auch nicht, wenn Sie Ihr eigenes Kind auf den Schoß nehmen?

Tsokos: Einmal habe ich kurz innegehalten. Ich habe ein Kind obduziert, das war genau vier Tage alt. Wie damals mein Ältester, ich war noch frisch in Vaterfreuden. Dann denke ich: Mein Gott, so spielt das Leben, es kann jeden Tag zu Ende sein.

Glauben Sie an Gott?

Tsokos: Nein, zumindest nicht an den von der evangelischen und katholischen Kirche. Den Glauben habe ich über die Jahre verloren. Tödliche Unfälle von Kindern, weil mal einer eine Sekunde nicht aufgepasst hat - das passt nicht zu dem, was mir im Konfirmationsunterricht erzählt worden ist. Ich kann nicht glauben, dass es eine höhere Gewalt gibt, die zulässt, dass Kinder sterben.

Klönne: Ich glaube auch nicht an diesen Kinderbibelgott, der auf einer Wolke sitzt und zuguckt und richtet. Und natürlich bleibt immer die Frage: Wenn Gott das Gute will, warum lässt er das Böse zu? Das war doch auch die Diskussion nach Auschwitz, ich glaube, die Theologin Dorothee Sölle hat gesagt: Der allmächtige Gott ist tot. Aber im Neuen Testament geht es ja auch um Gottes Mitleid. Die Menschen sind frei, sie müssen zwischen dem Guten und dem Bösen wählen. Und Gott leidet mit, wenn es das Böse wird. Das ist natürlich sehr abstrakt und schwer zu verstehen.

Tsokos: Kommen Sie aus einer Pastorenfamilie?

Klönne: Mein Großvater war evangelischer Pastor.

Tsokos: Das hat Sie natürlich geprägt!

Klönne: Mich hat die Kirche in Ostdeutschland geprägt, dort hat mein Großvater gelebt, dort war die Kirche ein Ort der Menschlichkeit, des Widerstands. Hier stehe ich und kann nicht anders, ich muss jetzt einfach sagen, was schiefläuft - das hat mir imponiert. Deswegen würde ich auch nie austreten.

Und drum haben Sie gleich einen ganzen Kriminalroman im Kirchenmilieu spielen lassen?

Klönne: In "Farben der Schuld" geht es um Morde an katholischen Priestern, das Beichtgeheimnis und um Regeln wie den Zölibat - da tun sich natürlich noch ganz andere Abgründe auf. Aber am Anfang stand für mich meine Hauptfigur, die Kommissarin Judith Krieger. Sie hat im Dienst getötet, und obwohl das Notwehr war, wird sie mit ihrer Schuld nicht fertig. Hat sie noch das moralische Recht, Mordermittlerin zu sein? Damit war ich mittendrin in der Frage von Gut und Böse. Kann man unschuldig schuldig werden, was ist Schuld, gibt es Vergebung?

Mein Figuren fragen sich letztlich immer: Was kommt nach dem Tod?

Was fasziniert Sie an düsteren Themen?

Klönne: Weniger das blutige Detail einer Tat, sondern das Davor und Danach. Mord ist in meinen Büchern immer der Ausgangspunkt dafür, dass die Figuren sich infrage stellen müssen und mit ihrer eigenen Sterblichkeit konfrontiert werden. Letztendlich also mit dem "Warum lebe ich?" und "Was kommt danach?".

Tsokos: Nichts. Wir haben ein Leben und nur diese eine Chance, etwas daraus zu machen. Dann kommt die Leichenfäulnis.

Klönne: Dass der Körper vergänglich ist, ist klar. Aber die Seele? Tsokos: Ich glaube, man hat eine Seele, aber zu Lebzeiten. Viele Rettungssanitäter machen für die Toten das Fenster auf, damit die Seele rausfliegen kann. Ich glaub das nicht. Wenn man eine Seele hat, muss man das zu Lebzeiten zeigen.

Und die Nahtoderfahrungen, die Erzählungen vom Licht?

Tsokos: Das sind Endorphine und Transmittersubstanzen. Diese Lichter sind nichts als Neuronen, die verrückt spielen.

Klönne: Das glaube ich nicht. Da ist noch was! Ich habe zwei Mal erlebt, dass sich Menschen im Traum von mir verabschiedet haben. Später erfuhr ich, dass die wirklich in dieser Nacht gestorben waren.

Tsokos: Vielleicht war es umgekehrt: Sie haben von deren Tod erfahren und danach gedacht, Sie hätten diese Träume gehabt. Der Geist spielt uns oft was vor. Wie beim Déjà-vu: Man kommt wo hin und denkt, da war man schon mal. Dabei läuft die neuronale Verknüpfung nur auf dem falschen Ast ab. Klönne: So war das aber nicht, da bin ich sicher.

Wenn Sie so sicher sind, dass mit dem Tod alles aus ist - was folgt daraus für das Leben, Herr Tsokos?

Tsokos: Die Vorsicht: Meine Kinder halte ich fern vom Wasser. Wenn ein Kind ertrinkt, ist immer ein Erwachsener schuld. Ein Kind kann Gefahren nicht einschätzen. Mein dreijähriger Sohn hat mir erklärt, wenn er aus dem vierten Stock fällt, kommt er einfach wieder hoch. Ich selbst gehe bedrohlichen Situationen aus dem Weg. Streit um den Parkplatz? Nichts wie weg! Sie glauben nicht, wie viele Menschen mit einem Messer rumlaufen.

Klönne: Was hätten Sie anstelle von Herrn Brunner gemacht, der in München totgeprügelt wurde, weil er Kinder beschützt hat?

Tsokos: Kinder bedrohen ist das Allerletzte, die würde ich schützen, garantiert.

Sie sind Mediziner. Bedauern Sie manchmal, dass Sie den Toten nicht zu Lebzeiten helfen konnten?

Tsokos: Als Arzt würde ich vieles nicht ertragen: in einem Hospiz arbeiten; oder auf einer Kinderkrebsstation, auf der meine kleinen Patienten sterben. Ich kann es zuspitzen: Die Menschen, die vor mir liegen, haben es hinter sich, ich kann nichts mehr für sie tun. Ich kann den Toten höchstens noch zu ihrem Recht verhelfen, indem ihr Mörder gefunden wird. Oder ich kann Angehörigen versichern, dass jemand nicht lange leiden musste, als er starb.

Warum sind Rechtsmediziner in Krimis kauzige Typen?

Klönne: In meinen Büchern sind die nicht kauzig.

Tsokos: Ich bin doch auch nicht kauzig!

Klönne: Mein Rechtsmediziner hat gute Laune, ist dem Leben zugewandt, trinkt auch mal ein Glas Wein. Es ist so: Kriminalromane faszinieren, weil sie den Tod thematisieren, den wir ja alle gern, so gut es geht, verdrängen. Und selbst, wenn es ernst wird: Wer bahrt schon einen Toten zu Hause auf?

Tsokos: Als meine Oma starb, bin ich sofort los, um sie noch zu sehen, in ihrer Wohnung, in ihrem Bett - und nicht in einem plüschigen Leichenhemd im Sarg. Ich finde es wichtig, sich von einem geliebten Menschen zu verabschieden, wenn der Zustand der Leiche es erlaubt. Eine Stunde saß ich bei ihr.

Klönne: Rechtsmediziner gucken eben genauer hin. Und im Roman kann man Menschen, die mit dem Tod arbeiten, quasi über die Schulter gucken, aber wohldosiert - und ohne Gerüche ...

Tsokos: Und ohne kreischende Säge, die den Kopf aufmacht. Deswegen werden wir so kauzig dargestellt. Niemand kann sich vorstellen, dass wir normal bleiben. Aber ich hab keinen Tick und muss nicht aufs Klo, um einen Flachmann zu trinken.

Klönne: Na ja, aber ganz folgenlos bleibt der Beruf für die Kommissare, mit denen ich spreche, nicht. Die Konfrontation mit Gewalt, Tod und dem Leid der Angehörigen hinterlässt Spuren.

Den perfekten Mord gibt es nicht

Gibt es eigentlich den perfekten Mord, Herr Tsokos?

Tsokos: Nur dann, wenn ein Arzt eine oberflächliche Leichenschau durchführt und einen natürlichen Tod attestiert, obwohl jemand nur den Kragen an Großvaters malträtiertem Hals hochgeschlagen hat. Das deutsche Leichenschauwesen ist das schlechteste auf der Welt. Viele Ärzte entkleiden den Leichnam nicht mal, sie gucken auch nicht im Müll nach leeren Tablettenschachteln. Wenn Opa verbrannt wird, ist es vorbei. Aber sobald wir dran sind, gibt es den perfekten Mord nicht mehr.

Sie haben mal gesagt, dass Sie kein Fahrrad mehr fahren.

Tsokos: Nur auf dem Ostseedeich. Da fahren keine Autos. Im Januar 2007, als ich nach Berlin kam, hatte ich jede Woche drei bis fünf tote Radfahrer auf dem Tisch. Da habe ich beschlossen: Ich fahr kein Fahrrad. Und auch meine Kinder nicht.

Man wird eher überfahren als ermordet, oder?

Tsokos: Ja, natürlich! Die Wahrscheinlichkeit, dass einer von Ihnen als Mordopfer vor mir auf dem Tisch liegt, ist gleich null. Mord findet in ganz anderen gesellschaftlichen Schichten statt. Es ist ein Tatortklischee, dass sich Mord immer im gediegenen bürgerlichen Milieu abspielt. Die Realität ist: Zu Mord und Totschlag kommt es vor allem unter den Randständigen, die den ganzen Tag saufen und sich gegenseitig erschlagen.

Gibt es Erzählungen, die Ihnen Hoffnung geben?

Klönne: Jedes ernsthafte Buch über die Liebe. Auch am Ende meiner Bücher gibt es Hoffnung durch ein gewisses Maß an Gerechtigkeit. Momentan plane ich einen Roman über die Kriegstraumata von Kindern in der Nazizeit, die bis heute nachwirken, auch bei den Enkeln. Aber Heilung ist möglich: Wenn man die Erinnerungen zulässt, kann aus Leid etwas Neues entstehen. Wie diese Haltung in Deutschland, dass es nie wieder Krieg geben darf.

Jesus, der Erlöser kommt auf die Erde und nimmt sich der Menschen an - geht dieser Kern der Weihnachtsbotschaft in Lebkuchen und Lichterschmuck unter?

Klönne: Ich war voriges Jahr in einem Weihnachtsgottesdienst, dort entzündete jeder eine Kerze. Ein simples Symbol für die Botschaft: Es gibt Dunkelheit, aber immer auch Licht. Man muss es nur sehen. Das ist doch bei Ihnen auch so, Herr Tsokos, oder? Wenn Sie abends nach Hause gehen, zu Ihrer Familie ... Tsokos: ...das ist das Licht, genau! Klönne: Die Liebe also.

Tsokos: Meine Großmutter hat ihre Familiengeschichte aufgeschrieben. Vor vier Generationen waren das ärmste Bauern, meine Großmutter war eine der ersten Frauen in Deutschland, die Mathematik studieren durften. Mein Ururgroßvater, Julius, bekam von seiner Oma zum fünften Geburtstag gesagt: "Ach, Jula, geh ins Bett, da findet dich der Hunger nicht." Julius wurde Bäckermeister, ein angesehener Mann. Das sind Geschichten, die mir Hoffnung geben. Ich lasse das gerade alles binden, mit Fotos, und diese Bücher verschenke ich zu Weihnachten. e

Moderation: Nils Husmann und Ursula Ott

Glauben Sie trotz Tod und Verbrechen an das Gute im Menschen? Und an Gott? Diskutieren Sie mit unter www.chrismon.de

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