Ältere Menschen trifft man jetzt auffallend oft, wo früher Jüngere waren. Spielplätze, Spaßboote, Karateclub.
Tim Wegner
07.10.2010

Das erste Aha-Erlebnis hatte ich bei der Recherche zu einem echten Altenthema: Scheidung nach der Goldenen Hochzeit. Der alte Herr hatte drei Stunden lang geduldig von der Geschichte seiner Ehe erzählt, als er plötzlich auf seine Armbanduhr blickte: "Entschuldigen Sie mich bitte, ich muss los, an die Uni." Die Reporterin, verständnisvoll, klappte ihren Spiralblock zu und fragte höflich: "Senioren-Uni?" Nein, sagte der 70-Jährige, "Kinder-Uni. Jeden Mittwoch. Die machen total interessante Themen, heute geht es um die Frage: Wie die Dinos laufen lernten." Inzwischen mehren sich die Indizien: Dieses Land war zwar nie ein Kinderland. Aber jetzt wird es definitiv ein Altenland. Die paar Oasen, die sich das dicht bebaute Autofahrerland Deutschland bislang noch für Familien mit Kindern ausgedacht hatte - sie werden langsam, aber sicher geriatrisiert. Das ist nicht schlimm, aber manchmal ein bisschen traurig. Und manchmal auch ein bisschen albern.

Da sagte der 70-Jährige: "Ich muss los, in die Kinder-Uni!" 

Zum Beispiel in Rastatt, Mercedes-City. Hier wird die A-Klasse gebaut, das "Familienauto". Wer es selber abholt, fühlt sich wie im Kreißsaal. An einer Glasscheibe drückt man sich die Nase platt, bis endlich das neue Baby hereinrollt, die neue A-Klasse. Das kann dauern, und drum hat der schwäbische Autobauer hier alles schön gemacht für die junge Familie. Die Kinder könnten mit gigantischen bunten Stoffelementen ihr Traumauto bauen, könnten auf dem Kinderhochstuhl, Marke Tripp Trapp, gratis ihre Spaghetti mit Tomatensoße essen, während die Eltern die Ausstellung "Automobil von morgen" besuchen.

Allein, das "Auto von morgen" werden nicht mehr viele dieser Kunden fahren. Außer unseren beiden Jungs tollt kein einziges Kind in den bunten Stoffelementen herum. Der Tripp-Trapp- Stuhl steht unbenutzt und unbekleckert in der Ecke. Dafür ruhen sich auf den blauen A-Klasse-Spielkissen erschöpfte Rentner aus, nachdem sie am Gratisbuffet ihren Kuchenteller aufgefüllt haben. Dem Autobauer kann's egal sein, dass sein einst als Familienkutsche konzipiertes Auto nun ein Rentnermodell wird - vor allem weil man so bequem ein- und aussteigen kann. Familien gibt es immer weniger. Ältere Leute hinterm Steuer aber sind eine begehrte Zielgruppe, bald ist schon jeder dritte Autofahrer über 60.

Doch für die paar Kinder, die doch noch im Kinderparadies rumtollen, wird es immer einsamer. Denn egal wo sie hinkommen - die Alten sind immer schon da. Betritt man an einem Sommermorgen um acht in Köln das Spaßboot "Moby Dick", sind alle Plätze im Maul des Riesenwalfischs schon besetzt. Ausnahmslos von Senioren, die es offenbar schon viel früher aus den Federn getrieben hat. Auch auf der "Rhein Energie", jenem Hightechkatamaran, der so jungdynamisch daherkommt, sitzen in den Strandkörben schon morgens fröhliche Rentner mit Kühlbox und Tupperdose.

316 Milliarden Euro Kaufkraft haben die über 60-Jährigen heute

Und wie sie da sitzen, kurz nach halb neun mit dem ersten Piccolo und ganz schön laut, da kommt man schon ins Grübeln. Hier sitzt die Generation der Kriegskinder, und gerade hier in Köln weiß man, was die geleistet hat: auf den rauchenden Trümmern rund um den Dom das Land wieder aufgebaut. Wer wollte es ihnen verwehren, jetzt die Früchte ihrer Arbeit zu ernten. Die Kriegskinder von einst, sie sind die Glückskinder von heute. 316 Milliarden Euro Kaufkraft haben die über 60-Jährigen heute, und jeder einzelne Euro sei ihnen von Herzen gegönnt. Lasst es krachen, ihr Alten, mag man ihnen zurufen. Ihr habt es verdient. Ihr seid die erste Altengeneration, die so unbeschwert ihren Lebensabend genießt - und zugleich die letzte. Denn wenn es mit der Geburtenrate so weitergeht, wird es bald schon ein geriatrisches Lumpenproletariat geben.Wer heute nicht baut und nicht "riestert", wer nicht brav seine Euros in die private Altersversorgung steckt - wird morgen auf keinem lustigen Schiff sitzen und keine bunten Autos kaufen.

Also, carpe diem! Bloß: Geht's vielleicht auch ein kleines bisschen leiser? Muss es diese Attitüde sein: "Hallo, jetzt kommen wir!"? "Wir sind die Mehrheit!", brüllt mir morgens auf dem Weg zum Bäcker ein Plakat der Seniorengruppe der SPD entgegen. Danke Genossen, das wusste ich schon. Aber mir hat meine Oma noch beigebracht, dass man sich nie so aufführen soll, als sei man allein auf der Welt. "Kinderstube" nannte man so was früher - ob sich die eine oder andere Oma daran bitte mal erinnern kann? Neulich in einem Hamburger Hafenhotel. Ich bin mit meinem siebenjährigen Sohn Oskar unterwegs, Geburtstagsgeschenk. Das Kind ist aufgeregt, Hafen und Container und Kräne kennt es nur aus demWimmel-Bilderbuch von Ali Mitgutsch. Wir betretenum 17 Uhr das Zimmer, Oskar probiert mit Feuereifer sämtliche Türklinken aus, von denen eine ganz offenbar zum verschlossenen Nachbarzimmer führt. In einem modernen Kindergarten hätte er für seine Neugier wahrscheinlich den Von-der-Leyen-Frühforscher-Preis gekriegt. Aber hier ist Altenland Deutschland, und bereits nach zwei Minuten steht der Hoteldirektor mit einer keifenden Rentnerin vor der Tür. "Todesängste" habe sie eben ausgestanden, als die Türklinke sich bewegt habe, das Kind müsse umziehen, und zwar sofort.

Die "Wir sind die Mehrheit"-Attitüde

Natürlich sind nicht alle Alten so. Es gibt wunderbare Omas, die einem mit dem Kinderwagen in den Bus helfen. Es gibt lustige Opas, die im Wartezimmer beim Arzt unaufgefordert Quatsch machen mit den Jungs. Aber immer öfter begegnet einem diese "Wir sind die Mehrheit"-Attitüde. Früher, als eine Oma auf viele Kinder kam, da war sie etwas Besonderes, die weise, lebenskluge alte Frau. Als es nur einen Elder Statesman gab, den alten Willy Brandt etwa, da lauschte man seinem Ältesten-Rat. Bald kommen 20 Omas auf ein Kind, und die Wahrnehmung ändert sich. Was früher altersweise wirkte, wirkt heute altklug. Und in den Medien beraten sich bald nur noch der alte Helmut Schmidt mit dem alten Richard von Weizsäcker, der alte Günter Grass mit dem alten Martin Walser. Da talken die alten Vogel-Brüder mit dem alten Norbert Blüm übers Altwerden. Es weht ein Grauschleier über den bunten Flachbildschirmen.

Und dabei ist man noch froh, wenn die Alten - zwar in großer Zahl, aber immerhin - sich benehmen wie Alte. Ganz komisch wird es, wenn die Generationen durcheinandergeraten. Wenn sich die Alten aufführen wie große Kinder, während die Kinder immer kürzer Kind sein dürfen. Wenn die Alten mit Bauklötzchen Türme bauen und auf Seniorenspielplätzen wippen und schaukeln, während die Kinder nicht nur Terminkalender haben wie Erwachsene, sondern auch schon die dazu passenden Krankheiten, von Migräne bis Magersucht.

"Ältere Menschen sind ein Wachstumssegment"

Wer das sofort verstanden hat, das ist die Wirtschaft. Dafür kann man ihr keinen Vorwurf machen, im Gegenteil - das ist in einer Marktwirtschaft so gewollt. "Ältere Menschen sind ein Wachstumssegment", sagte Staatssekretär Hermann Kues im Juni auf einem Kongress, "nun müssen daraus Wachstumsschübe für die Wirtschaft werden." Wachstumsschub ist ein tolles Wort. Weil: Die Kinder wachsen ja immer schneller. Sie kommen heute schon größer und schwerer auf die Welt als früher. Und "sie werden immer schneller erwachsen", klagt der Produktmanager der Spielefirma Ravensburger, Thomas Zumbühl: "Die haben früh einen I-Pod, ein Handy und einen Gameboy - und drum verlieren wir sie früher."

Also müssen die Alten quasi rückwärts wachsen. In der richtigen Mischung aus Infantilisierung und Nostalgie scheint eine Riesenmarktlücke zu liegen. Weil es wenig echte Kinder mehr gibt, müssen sich die Alten entweder aufführen wie die Kinder - auf dem Spielplatz das Gleichgewicht üben auf dem Schwebebalken. Oder sich daran erinnern, wie es in ihrer eigenen Kindheit und Jugend war. "Weißt du noch . . .", heißt die neue Seniorenspielreihe von Ravensburger. Bunte Kärtchen im Retrodesign müssen in die richtige Reihenfolge gebracht werden. Was war früher: das Kinoplakat von "Denn sie wissen nicht, was sie tun" oder die Erstbesteigung des Mount Everest? "Den Älteren geht es nicht darum, viele Punkte zu machen oder zu gewinnen", sagt Zumbühl, "sondern in Erinnerung zu schwelgen: Damals war ich doch mit Hans im Kino."

Damals. Der Reflex funktioniert immer, wir alle reden immerzu von früher und gucken alte Fotos. Bloß: Je mehr Alte es gibt, desto mehr wird das Bedürfnis nach "Retro" von der Industrie verstärkt. Und das wirkt stilbildend, auch für die Jungen. Das Fernsehen glorifiziert mit der "Bräuteschule" die 50er Jahre. Im Kabarett reicht das Reizwort "Bonanza", und das Publikum kreischt, als hätte es gerade den ersten Schwarz-Weiß-Fernseher geschenkt bekommen. Und in Italien wird jetzt der Fiat 500 noch einmal aufs Band gelegt, exakt 50 Jahre nach seinem Siegeszug. "Viele Italiener haben in einem Fiat 500 zum ersten Mal ihre Freundin geküsst", sagt Silvio Berlusconi. Damals.

Letzte Station der Reise durchs Altenland: BadWaldsee, gleich um die Ecke von Ravensburger. In Bad Waldsee sitzt "BabyWalz", einst das Mekka aller jungen Eltern. Hier hat man die ersten Kinderlätzchen und Babyrasseln erworben, die Luftballons und Biene-Maja-Deko für den ersten Kindergeburtstag. Und in Stillgruppen wurde der Baby-Walz-Katalog mit den großen blauen Kulleraugen als Geheimtipp rumgereicht. Wenn die Milch nicht fließen wollte, legte man sich den Babykatalog parat, und schon lief's, so einfach strukturiert ist die Natur.

Seit Mai dieses Jahres gibt es den Zweitkatalog "Sunny Walz - das Leben genießen." Da schießt garantiert keine Milch ein. Statt Bärchenlatz können wir jetzt den abwaschbaren Plastiklatz, mit Klettverschluss, für Oma kaufen. Statt Biene-Maja-Deko ist Jubiläumskonfetti mit den Zahlen "50" bis "75" im Angebot. Und statt der Schatzkiste "Mein erster Zahn" das Retroalbum "Unser erster Urlaub". Damals.

Könnten die Alten nicht ihre Geschichten in der Grundschule erzählen?

Ein Fotoalbum, ein Kinoplakat, eine TV-Serie - damit man miteinander ins Gespräch kommt. Eigentlich stammt auch diese Idee aus der Grundschulpädagogik. "Erzählanlass" heißt das moderne Fachwort, damit wird Kindern ab Klasse eins das Aufsatzschreiben beigebracht. Da sitzen also Grundschullehrerinnen und denken sich Geschichten aus von der Ziege Berta und dem Kleinen Eisbären. Und im Altersheim zeigt man sich gegenseitig die Kärtchen von James Dean und der Mondlandung. Könnten die Alten nicht ihre Geschichten in der Grundschule erzählen? Und die Kinder ihre Aufsätze beim Altennachmittag vorlesen?

Und können wir, anstatt Deutschland in einen grotesken Altenspielepark zu verwandeln, nicht einfach Produkte entwickeln, die für alle gut sind? Die Idee gibt es schon, sie heißt "Design for all". Der Gedanke dahinter: Was den hohen Ansprüchen älterer Menschen entspricht, kann auch für jüngere durchaus segensreich sein. Handys mit lesbarem Display.Wasserflaschen, die man ohne Heimwerkerkasten öffnen kann. Supermärkte, die zwischen den Regalen eine Sitzbank aufstellen - über die sich nicht nur die gehbehinderte Oma freut, sondern auch das Meine-Beine-tun-soweh- Kind. Keine Ahnung, ob das ein Wachstumssegment ist. Aber eine schöne Idee allemal.

Letzte Meldung: Die Firma Daimler lässt das Modell A-Klasse vermutlich 2011 auslaufen,weil sie "einst als Einstiegsmodell konzipiert war, aber fast nur von Älteren gekauft wird", so die Wirtschaftswoche. Die Älteren sollen künftig die fast baugleiche, aber teurere B-Klasse kaufen. Und für die Jungen soll es ein "sportlicheres Einstiegsmodell" geben. Im Jahr 2011? Da gehe ich schon schwer auf die 50 zu. Sportliches Einstiegsmodell - vielleicht sollte ich mich schon mal auf die Warteliste setzen lassen?

Neuen Kommentar hinzufügen

Der Inhalt dieses Feldes wird nicht öffentlich zugänglich angezeigt.

Plain text

  • Keine HTML-Tags erlaubt.
  • Zeilenumbrüche und Absätze werden automatisch erzeugt.
Wählen Sie bitte aus den Symbolen die/den/das LKW aus.
Mit dieser Aufforderung versuchen wir sicherzustellen, dass kein Computer dieses Formular abschickt.