Was ist eine Sekte?
Mal geht es bei Sekten um kleine Geheimnisse. Oder darum, wie man die Bibel liest. Doch spätestens dann, wenn dieser Glauben die Freiheit vertreibt, ist Kritik gefragt
Portrait Eduard KoppLena Uphoff
07.10.2010

Allein schon der Name: "Sonnentempler"! Eine religiöse Gruppe dieses Namens machte Mitte der Neunziger Schlagzeilen. In Erwartung eines anderen, eines besseren, lichten Lebens griffen sie dem befürchteten Weltuntergang vor: Insgesamt 74 Menschen in der Schweiz, in Frankreich und Kanada legten Hand an sich selbst oder an andere. Sie taten dies in der Erwartung, der Tod sei leicht zu bewältigen, der Lohn des Sterbens ein neuer Bewusstseinszustand.

Portrait Eduard KoppLena Uphoff

Eduard Kopp

Eduard Kopp ist Diplom-Theologe und chrismon-Autor. Er studierte Politik und Theologie, durchlief die Journalistenausbildung des ifp, München, und kam über die freie Mitarbeit beim Südwestrundfunk zum "Deutschen Allgemeinen Sonntagsblatt" nach Hamburg. Viele Jahre war er leitender theologischer Redakteur bei dieser Wochenzeitung und seinem Nachfolgemedium, dem evangelischen Magazin chrismon. Seine besonderen Interessengebiete sind: Fragen der Religionsfreiheit, Alltagsethik, Islam, Geschichte des 20. und 21. Jahrhunderts, Krieg und Frieden.

Eine Sekte im umgangssprachlichen Sinn: eine religiöse Gruppierung, die Emotionen und Fantasie der Menschen anregte. Und ein Vorfall, der alles hatte, was Journalisten lieben: geheimnisvolle Umtriebe, gepaart mit Erlösungs- und Verschwörungsfantasien; autoritär-charismatische Führergestalten, die radikale Disziplin und Unterwerfung fordern; eine selbst gewählte Distanz zur Öffentlichkeit.

So versteht man eine Sekte im landläufigen Sinne, als Gruppierung, mit der man sich als moderner, demokratisch gesinnter, religiös mündiger Mensch besser nicht einlässt. Fällt in den Medien der Begriff Sekte, dann oft in der Bedeutung: Hier geben sich Menschen einem Irrglauben hin, der sie selbst und andere in Gefahr bringt und die Freiheitsrechte grob verletzt. Es ist ein Begriff mit klar negativer Bedeutung.

Auch die Kirchen benutzen diesen Begriff. Die lutherischen Kirchen in Deutschland veröffentlichen in regelmäßigen Abständen neue Auflagen ihres "Handbuchs Religiöse Gemeinschaften", in dem sie auch Sekten auflisten, darunter die Neuapostolische Kirche, die Zeugen Jehovas und die (anthroposophische) Christengemeinschaft. Ganz anders als im umgangssprachlichen Sinn bezeichnet hier eine Sekte konfessionelle Unterschiede. Es geht um Differenzen in der Lehre, zum Beispiel im Verständnis des Evangeliums. Die Kirchen legen Wert darauf, dass sie das Wort rein deskriptiv, nicht wertend benutzen.

Eine Häresie ist eine Denkweise, eine Wahl

Das Bundesverfassungsgericht seinerseits entschied im Jahr 2002, dass die Osho-Bewegung (der frühere Bhagwan-Kult), die 1984 Salmonellen-Anschläge auf die Bevölkerung von The Dalles, Oregon, USA, verübte, durchaus als Sekte bezeichnet werden durfte, denn eine Abwertung sei damit nicht verbunden. Dieser Begriff, so wird schnell klar, hat sehr unterschiedliche Bedeutungen.

Die ursprüngliche reicht in die Antike zurück. Abgeleitet aus dem lateinischen "sequi", "folgen", ist eine Sekte nichts anderes als eine Gefolgschaft. Sekten in diesem Sinn waren religiöse, philosophische oder politische Gruppen, die sich um einen Führer scharten. Nicht zuletzt war das Christentum selbst eine jüdische Sekte, die der "Nazarener".

Auch der entsprechende griechische Begriff für Sekte - "hairesis", die "Häresie", wörtlich "Denkweise, Wahl" - bezeichnet zunächst nur eine philosophische oder religiöse Schule, ohne sie einer pauschalen Abwertung zu unterziehen. In der Apostelgeschichte des Neuen Testaments werden so zum Beispiel wichtige jüdische Religionsparteien als häretisch bezeichnet: die der Pharisäer und der Sadduzäer.

Es wäre besser, ganz auf das Wort Sekte zu verzichten

Zur Kriminalisierung der Sekten kam es im Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Kaiser Friedrich II., Triebfeder der Inquisition, sanktionierte im frühen 13. Jahrhundert Ketzer- und Sektierertum mit Ächtung und Tod. Sektierer waren also nicht nur theologische Irrlehrer, die die Einheit der Kirche beschädigten, sondern zugleich "Verbrecher gegen den Staat" (Paul Tillich).

In der Reformationszeit gelten als Sekten die Religionsgemeinschaften, denen die staatskirchenrechtliche Anerkennung fehlt - die also weder katholisch noch lutherisch oder, später, reformiert waren. Als das Staatskirchentum 1919 endete, gab es auch keine Sekten mehr, jedenfalls nicht im staatskirchenrechtlichen Sinne.

Zwar hält sich in der Soziologie und in der Konfessionskunde der Begriff der Sekte noch etwas, aber er verliert an Bedeutung. Es gibt sicherlich bessere Wege zu beschreiben, wie religiöse Gruppen in Spannung und Widerspruch zu ihrer Umwelt stehen. Der Begriff der Sekte wird sich wohl nie ganz aus dem Gestrüpp moralischer Werturteile befreien. So wäre es besser, ganz auf ihn zu verzichten.

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