Er war aus dem warmen Kraichgau ins zugige Wittenberg gezogen. Von hier aus reformierte er Schulen und Universitäten in ganz Europa: Philipp Melanchthon, der Reformator an Luthers Seite
Portrait Burkhard Weitz, verantwortlicher Redakteur für chrismon plusLena Uphoff
07.10.2010

Zwischen den Säulen der Aussichtsebene zischelt der Wind. Dann heult er, immer lauter. Von Süden, aus Richtung Dübener Heide, treibt eine gewaltige Regenwolke auf die Elbniederung zu. Sie hüllt die geschwungene Eisenbahnbrücke in Dampf ein und entlädt sich mit Wucht überm Wittenberger Altstadtoval. Aus einer Touristengruppe unten am Markt schlagen Regenschirme auf, dann verteilt sich die Menge hastig auf die angrenzenden Cafés. Nach wenigen Minuten reißt der Himmel wieder auf. Die Sonnenstrahlen glitzern in den Pfützen und auf den feuchten Dachpfannen. Die Regenfront hat bereits den Fläming erreicht, einen bis zu 200 Meter hohen eiszeitlichen Höhenzug im Norden der Lutherstadt.

Manchmal vermisst Stefan Rhein das liebliche badische Sommerwetter. 1998 war er aus Bretten im Kraichgau ins kühle, zugige Wittenberg gezogen, um die Leitung der Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt zu übernehmen. Wie sein Berufskollege aus dem 16. Jahrhundert sehnt sich auch der Altphilologe Rhein in Wittenberg manchmal nach badischem Wein, nach gutem Essen und der freundlichen, offenen Lebensart Südwestdeutschlands - "jeden Tag weniger", fügt er lächelnd hinzu. Dafür lebt er nun im Rom der Protestanten. Im beschaulichen Elbstädtchen, in dem die Neuzeit begann.

1518 kam Philipp Melanchthon hier an, völlig verdreckt nach mehrtägigem Ritt. Da war er 21 Jahre jung. Der eins fünfzig kleine Mann, mit Sprachfehler behaftet, muss einen jämmerlichen ersten Eindruck hinterlassen haben.

Doch schon wenige Tage nach seiner Ankunft hielt er die Antrittsvorlesung. "Sapere audete", rief er den Studenten und Professoren zu: "Habt den Mut, euch eures Verstandes zu bedienen." Das Zitat des lateinischen Dichters Horaz wurde einige Jahrhunderte später programmatisches Motto der Aufklärung.

Einfach nur glauben - wozu dann noch studieren?

Melanchthon forderte eine umfassende Bildungsreform. Man solle zu den Quellen der Christenheit zurückkehren, zu Heiliger Schrift und antiker Bildung. Mit seiner Rede eroberte er Wittenberg im Sturm. "Mein Graeculus", soll Martin Luther anschließend gesagt haben, als er ihn in die Arme schloss: "Kleiner Grieche". Für gut ein halbes Jahrhundert verwandelte sich das Provinznest Wittenberg in ein europäisches Zentrum der Gelehrsamkeit.

Vom alten akademischen Glanz ist heute nur die Stiftung Leucorea (auf Deutsch: "Weißer Berg" - wie Wittenberg) übrig geblieben, eine Außenstelle der Martin-Luther-Universität Halle, untergebracht in einem klassizistischen Bau entlang der Collegienstraße. Exakt an der Stelle, wo zur Reformationszeit die Universität stand. Nach Melanchthons Antrittsrede erlebte die Hochschule einen kurzen Aufschwung. Doch schon Mitte der 1520er Jahre blieben die Studenten wieder fern. Unmittelbarkeit zu Gott, das schienen die Reformatoren zu verkünden - einfach nur glauben, das reicht. Wozu dann noch studieren?

Erst als Melanchthon seinem Bildungsprogramm erste Taten folgen ließ, als er Luther zur Bibelübersetzung gedrängt und eine allgemeine Schulbildung durchgesetzt hatte, kamen sie wieder. Zu Hunderten bevölkerten sie die Provinzstadt. An die 1000 Ungarn sollen bei Melanchthon studiert haben, Hunderte Dänen, dazu Finnen, Norweger, Slowenen. Und jede Menge deutsche Studenten.

"Stellen Sie sich vor, Sie sehen Ihr eigenes Bild vorne am Altar"

"Hier, in diesem Raum, wohnten Studenten", sagt Stefan Rhein, "die saßen mit Melanchthons Familie am Abendbrottisch." Rhein sitzt auf einer Bank im zweiten Obergeschoss des Melanchthonhauses, Collegienstraße 60, gleich neben der Uni. Es ist heute das älteste öffentlich zugängliche Haus in der Lutherstadt. Drei Geschosse, ein rundbogig gegliederter Stufengiebel, unten eine schwere Holztür, deren untere Hälfte geschlossen ist - wie bei einem Pferdestall.

Die Räume sind groß. "Darüber staunen unsere Gäste am meisten", sagt Rhein. Der sächsische Kurfürst ließ das Haus 1536 für den Gelehrten bauen. Der war inzwischen verheiratet, hatte Kinder. Weil ihm seine alte Unterkunft zu eng wurde und man fürchtete, Melanchthon könne ins Ausland abgeworben werden, bauten Kurfürst und Stadt ihrem so erfolgreichen Professor ein neues modernes Wohnhaus.

In der Nähe vom Wittenberger Markt steht die prachtvolle Stadtkirche. Ein orientalischer Tourist stolpert durch den Eingang. Ein älteres Ehepaar hat sich unter die mit Goldkronen verzierte Kanzel gesetzt. Der Originalholzkasten, in dem einst Melanchthons älterer Kollege Martin Luther stand und predigte, war viel kleiner. Er ist heute im Lutherhaus ausgestellt.

"Stellen Sie sich vor, Sie sitzen in der Kirche und sehen Ihr eigenes Bild vorne am Altar", sagt Rhein. Er zeigt nach vorne links auf das Altarbild aus dem Jahr 1546. Luther sitzt darauf als Junker Jörg inmitten der Abendmahlsszene, von der Kanzel aus weist er als Prediger auf den gekreuzigten Christus. Und dort, auf dem linken Flügel, ist Melanchthon zu erkennen. Die hervorstehenden Backenknochen, das wilde Haar, der schmale Bart über Kinn und Mund. Rund 14 Jahre - bis zu seinem Tod 1560 konnte er während der Gottesdienste vorne sein Ebenbild bewundern.

Links richten die Altgläubigen die Pflanzung zugrunde

Der gemalte Melanchthon hält ein nacktes Kind über ein riesiges, steinernes Taufbecken. Mit der anderen lässt er Wasser über seinen Rücken rinnen. "Wahrscheinlich hat Melanchthon aber nie getauft", sagt Rhein. "Er blieb Zeit seines Lebens ein Lehrer. Pfarrer wollte er nie werden."

Rhein läuft rechts am Altar vorbei. Er deutet auf ein weiteres Gemälde: Arbeiter in einem steilen Weinberg. Martin Luther kehrt mit einem Rechen das unnütze Laub aus. Links richten die Altgläubigen die Pflanzung zugrunde, verbrennen Weinstöcke, schütten Steine in den Brunnen. Und rechts ist er wieder: Melanchthon schöpft Wasser aus einem Brunnen. "Das Bild gefällt mir", sagt Rhein. "Sehen Sie? Er ist ganz nah an der Quelle."

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