Flucht in der Bücherkiste
Die Gesetze der Humanität sind immer gültig, ermahnte der Theologe und Jurist die Strategen des Dreißigjährigen Krieges
Portrait Burkhard Weitz, verantwortlicher Redakteur für chrismon plusLena Uphoff
07.10.2010

Was für einen ausgeprägten Sinn für das Gemeinwohl dieser Mann doch hat! Da hockt er zu lebenslanger Haft verurteilt im Knast, auf einer Landzunge zwischen Maas und Rheindelta. Seine weitere Karriere als glänzender Jurist und calvinistischer Theologe in den Niederlanden kann er sich aus dem Kopf schlagen. Doch selbst in dieser Lage lässt sich Hugo Grotius nicht entmutigen. Trotz unfreiwilliger Klausur auf Burg Loevestein in Gelderland lässt ihn die Weltpolitik nicht los.

Man schreibt das Jahr 1621. Protestanten und Altgläubige sind dabei, aus geringem Anlass einen Krieg anzuzetteln, der dreißig Jahre in Mitteleuropa wüten und ganze Landstriche entvölkern wird. Und der Häftling unternimmt das in seiner Macht stehende, um dem verrückten Treiben der Fürsten Einhalt zu gebieten: Er schreibt eine Abhandlung.

Grotius lässt kistenweise Fachbücher ins Gefängnis kommen. Dort bringt er Vorüberlegungen für ein allgemeines Völkerrecht zu Papier, für jeden Fürsten verständlich und anwendbar auch im Kriegsfall. "Der Satz 'inter arma silent leges' (zwischen den Waffen schweigen die Gesetze) gilt also nur von den Zivilgesetzen, die ausdrücklich für den Frieden bestimmt und ihm eigentümlich sind, nicht für die ewigen, für alle Zeiten gültigen Gesetze." So steht es in seinem wohl wichtigsten Werk "Über das Recht des Krieges und des Friedens". Mit anderen Worten: Auch unter anarchischen Umständen begangene Verbrechen gegen die Menschlichkeit muss man ahnden.

Grotius ist hochbegabt. Schon als Zwölfjähriger soll er fließend Latein und Griechisch gesprochen haben. Er stellt sein Talent in den Dienst der Allgemeinheit. Mit 21 Jahren bittet ihn die Niederländische Ostindienkompanie um ein Rechtsgutachten. Einer ihrer Kapitäne hatte ein portugiesisches Handelsschiff gekapert, Grotius soll die rechtliche Lage prüfen. Der Jurist holt weit aus: Die Meere seien gemeinsames Eigentum aller Völker. Kein Papst könne Portugiesen oder Spaniern Hoheitsrechte auf dem Ozean übertragen.

Die Kompanie bereinigt ihren Streit zwar, bevor das Gutachten fertig ist, und die Abhandlung "Das freie Meer" erscheint erst später. Bis heute prägt sie das Seerecht, das in internationalen Gewässern keine nationalen Gesetze gelten lässt.

Und Grotius ist ein fairer Vermittler. Ab 1610 spaltet ein nach heutigen Maßstäben bizarrer theologischer Streit die Niederländer. Zur Debatte steht die Frage: Was entscheidet über das Heil des Christen - sein Glaube oder Gottes ewiger Ratschluss? Der Streit eskaliert, der Staat muss eingreifen. Aber soll er auch Partei ergreifen, und wenn ja, für wen? Grotius begründet, warum der Staat unparteiisch bleiben soll. Er dürfe nur Stellung beziehen, wenn religiöse Lehren die öffentliche Ordnung unterminieren. Alles andere sei dem Gewissen des Einzelnen überlassen.

Wieder ist Grotius seiner Zeit voraus.

Sein Dienstherr Johan van Oldenbarnevelt, Landesadvokat der Provinzen Holland und Utrecht, ergreift Partei. Doch da sich sein politischer Gegenspieler Prinz Moritz von Oranien, Statthalter der Vereinigten Niederlande, für die Gegenseite entscheidet, steht Grotius plötzlich bei den Abweichlern. Deshalb gerät er 1618 in Haft.

Mutig und ziemlich kaltschnäuzig ist dieser Mann obendrein. Im Schloss Loevestein versteckt er sich 1621 in einer der gelieferten Bücherkisten. Als Diener die Truhe hinaustragen, merken sie nicht, dass der Häftling unter dem Bücherhaufen verborgen liegt. Grotius flieht nach Frankreich. Dort vollendet er seine Abhandlung "Über das Recht des Krieges und des Friedens". Der auf lutherischer Seite im Dreißigjährigen Krieg kämpfende schwedische König Gustav Adolf soll das Werk auf seinen Feldzügen immer dabeigehabt haben. Ob er sich davon auch leiten ließ? Grotius erörtert darin Rechtsfragen, etwa zu Gemeinbesitz und Eigentum, zur Geltung von Verträgen. Es geht um Gesetze, die gültig sind, egal wie die regionalen Sitten ausfallen. Gültig sogar, wenn es Gott nicht gäbe (lateinisch: "etsi deus non daretur").

Hugo Grotius gilt als Begründer des Völkerrechts. Keine Widrigkeit des Schicksals brachte ihn davon ab, für jeden Streit eine rationale Lösung zu suchen. Wenn fromm ursprünglich rechtschaffen hieß, war Grotius ein sehr frommer Calvinist.

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