Mel Gibsons Film "Die Passion Christi" über das Sterben Jesu weckt bei Zuschauern sowohl Abscheu als auch Bewunderung. Sein fragwürdiger Blick auf das Judentum und sein filmischer Blutrausch machen den Streifen zu einer Katastrophe. Da kann es nur heißen: Informationen statt Effekthascherei
07.10.2010

Orgie nach Übernüchterung

Mel Gibsons Passionsgemetzel zeigt weder, was in Jerusalem vor rund 1970 Jahren wirklich geschah, noch vermittelt es Einblicke in den Kern der christlichen Botschaft

Eigentlich ist der gigantische Kassenerfolg von Mel Gibsons Kinofilm "The Passion of Christ" nichts anderes als das größte Missverständnis der Filmgeschichte. Auf persönliches Risiko hatte Hollywoodstar Gibson, Angehöriger einer fundamentalistischen Randbewegung des Katholizismus, sein Leinwandspektakel finanziert, das mit einem Produktionsbudget von 25 Millionen Dollar eine eher billige Angelegenheit blieb. Darüber hinaus wollte sich der Held zahlreicher Action-Spielfilme auf keinen Fall den vermuteten Wünschen eines Massenpublikums beugen.

Ob "Die Passion" ein Publikumshit würde, interessierte den frommen Gewaltdarsteller nicht die Bohne ­ ja, er tat alles dafür, seine Version der Kreuzigung Christi sperrig auf die Leinwand zu bringen. Gibson engagierte mit Ausnahme von Monica Belucci (Maria Magdalena) keinen Star des eigenen Kalibers. Seine Darsteller reden Aramäisch oder süditalienisch gefärbtes, historisches Latein. Und Jesus spricht ausschließlich Text, den die vier Evangelien überliefern. Dass sein Streifen der frömmste Horrorfilm aller Zeiten werden würde, eine Orgie in Kunstblut, ein streng gläubiges Schlachtfest, vervollständigt nur die Liste der Publikumsbarrieren für das zu erwartende Resultat: Kassengift, Ladenhüter ­ Prädikat: nicht vorzeigbar.

In Gibsons schlichter Glaubenswelt ist der Massenkonsum ein Wunder

Mel Gibson, siebenfacher Vater und durch die Bekehrung zum Glauben von der Trunksucht genesen, wollte nur eines: Jesus, dem Heiland, mit seinen Mitteln nahe kommen, ihm mit seiner persönlichen Version der Ereignisse vor 1970 Jahren in Jerusalem die Referenz erweisen. Möglicherweise hat er ein Gelübde erfüllt. Dass inzwischen Millionen Amerikaner und hunderttausende Deutsche dem bigotten Gemetzel zugelaufen sind, wird ihn zunächst überrascht, dann aber doch gefreut haben. Denn in Gibsons schlichter Glaubenswelt ist der Massenkonsum fast ein Wunder und deshalb ein Hinweis auf die Gott-Gefälligkeit des Werkes.

Zur Deutung der Wirklichkeit des christlichen Glaubens trägt der Film wenig bis nichts bei. In seinem redlichen Ansinnen, den laschen Christen an der Schwelle des 21. Jahrhunderts einen Eindruck vom wirklichen Leiden Christi aufzuzwingen, geht sich der Regisseur selbst in die Falle. Sein Versuch, die Kinobesucher der Gegenwart auf die Zeitreise nach Jerusalem zu schicken, endet in einem gewöhnlichen Historienfilm von ungewöhnlicher Blutfeuchte.

Anstatt Jesus von Nazareth in die Gegenwart unseres Lebens zu bringen, schließt er ihn ein in einer sado-masochistischen Museumskammer. Er schleppt Jesus an einen archaischen, abgeschlossenen Ort, wo römische Legionäre die Geißel in sein Fleisch schmatzen lassen. Gibson entrückt ihn, legt den Menschensohn in eine Blutlösung ­ Fleisch und Blut ohne Glaube, Hoffnung und Liebe, ohne Weg und Wahrheit, ohne Auferstehung und ewiges Leben (die Auferstehung ist als liebloser 1,30-Spot ans Ende geklatscht).

Dieser Jesus stirbt nicht unseren Tod

Dieser Jesus stirbt nicht unseren Tod. Die Blutdusche und die Reduktion auf die vermeintliche Historie rücken den Erlöser in die Ferne: Ein netter Kerl eben, den sie auf grausamste Weise abschlachten -­ und keiner weiß so recht, warum eigentlich?

Gründonnerstag, Karfreitag, Ostern werden sich wieder tausende von Pastorinnen und Pfarrern mühen, Jesus für uns Zeitgenossen greifbar, erfahrbar, im wahrsten Sinne des Wortes anrührend zu machen, den Bruder und Herrn in unsere Gesellschaft zu holen. Dann erst wird die unglaubliche Zumutung seines Gebotes der Gottes- und Menschenliebe um jeden Preis (auch den des eigenen Todes) spürbar.

Leiden, Tod, vor allem aber die Auferstehung Christi, die Überwindung des Todes befreit uns nach christlichem Glauben von dem trostlosen und grausamen Trugschluss, dass der Mensch im Töten absolute Gewalt über den Menschen habe und der Tod das letzte Wort über sein Schicksal sprechen könne. Zu jeder Zeit und überall wo Menschen gedemütigt und erniedrigt, ermordet und hingerichtet werden, ist Jesu Kreuz gegenwärtig. Jesus stirbt in klinisch sterilen Hinrichtungskammern in Texas, er wird mit irakischen oder israelischen Zivilisten in die Luft gesprengt, sein Kreuz ist das der nigerianischen Ehebrecherin, die zu Tode gesteinigt wird.

Jesu Kreuzigung hat sich tatsächlich ereignet, dennoch ist sie für den Glauben weit mehr als ein historisches Ereignis. Mit der Auferstehung wächst sie über historische Dimensionen und Begriffe hinaus. "Das Kreuz, auf das der Menschensohn genagelt wurde, um zu sterben", schreibt der Philosoph Peter Strasser in seinem "Journal der letzten Dinge", "hat keinen Platz innerhalb der Geschichte. Jesu Passion ist weder moralisch, noch historisch." Es ist wichtiger, das Kreuz zu begreifen, als es anfassen zu können.

Die Blutorgie rund um Golgatha als Marketinggag

Mel Gibson hat "Die Passion Christi" als Historienspektakel in der Tradition von "Der Gladiator" verfilmt. Die Blutorgie als Darstellung des tatsächlichen Geschehens rund um Golgatha zu verkaufen kann man als Marketinggag belächeln. Keinesfalls handelt es sich bei dem Film aber um ein Glaubenszeugnis oder wenigstens um eine Verbildlichung der christlichen Botschaft. Der evangelische Theologe Thies Gundlach erkennt in der filmischen Massakrierung Jesu eine "sehr eigenwillige Mischung" der vier Evangelien mit "eigenwilligen Erweiterungen und der gesammelten Inszenierungskompetenz Hollywoods im Blick auf Gewalt und Brutalität. Direkter, viehischer, auch schamloser ist das Leiden Christi vermutlich nie dargestellt worden, auch nicht in dem an Brutalität nicht eben armen Hochmittelalter oder in der Reformationszeit", in der das stellvertretende Opfer Jesu für alle Menschen betont wurde.

Mel Gibson stellt seinem Film das Wort des Propheten Jesaja voran: "Durch seine Wunden sind wir geheilt." Zumindest für evangelische Christen, wahrscheinlich aber auch für eine große Zahl gläubiger Katholiken ist diese Heilung ­ die Erlösung ­ ein Gnadenakt Gottes durch Jesus. Dieser Gnadenakt ist indes nicht abhängig vom Ausmaß des Leidens Jesu und auch nicht von der Menge des vergossenen Blutes. Thies Gundlach: "So viel Gewalt braucht wirklich niemand, um das Erlösungswerk Jesu Christi eindrücklich zu finden. Nicht die Menge der Wunden Christi heilt, sondern die Art der Wunden." Es ist die absolute Einsamkeit, von Gott im Augenblick des Todes verlassen zu sein, die Jesus in der Auferstehung überwindet. Gundlach: "Ohne diese Auferstehung als Urknall neuen Lebens ist Jesus ein weiteres, banales, nebensächliches, bei den Römern ständig vorkommendes Kreuzigungsopfer, bei dem letztlich niemand weiß, wie es damals wirklich zugegangen ist."

Mel Gibson interessieren solche Debatten wenig. Er verfolgte mit seinem düsteren Werk persönliche Ziele. Seine Biografie ­ Überwindung einer Sucht, Entzug und Hinwendung zu einer strengen Form des Glaubens ­ gibt Anhaltspunkte. Die nach Entzug eintretende Übernüchterung wird von den Betroffenen als weitgehender Verlust von äußeren Reizen empfunden. Übernüchterte, vermutlich auch Gibson, finden alles nichtig und bedeutungslos, sogar die Erkenntnis selbst, dass alles nichtig und bedeutungslos sei.

Der frisch bekehrte Gibson mag darunter gelitten haben, dass ihm ein stark verweltlichtes, verharmlosendes Allerweltschristentum nicht die starke Dosis Gott anbot, die er sich erhoffte, sondern einen guten, freundlichen, milden, schlimmstenfalls einen abwesenden Gott. Das Empfinden dieser reizarmen, deshalb sündigen und gottesfernen Atmosphäre provozierte den Filmstar zu einem reaktionären Lobpreis des Schmerzes. Damit bedient Gibson zugleich den Durst zahlreicher, ebenfalls reizentwöhnter Zeitgenossen nach Blut, Schweiß und Tränen. Da diese Körpersäfte fast vollständig aus dem aseptischen Alltag verdrängt sind und selbst Kriege als steril und sauber präsentiert werden, liefert die bluttriefende Leinwand den erwünschten Schauder.

Zu besichtigen ist dies im Jesusfilm nicht zum ersten Mal. Schon in seiner Rebellentragödie "Braveheart" läßt Gibson die Hauptfigur William Wallace (von ihm selbst gespielt) ausgiebig unter Folterqualen mit anschließender Hinrichtung leiden. Der Fundamentalist des Leidens will nicht das religiöse Gespräch, er will die Vernichtung der Skepsis, der Verweltlichung, der aus seiner Sicht nihilistischen Versuchung. Deshalb sucht er die Konfrontation. Niemand soll ausweichen können. Da Gibson kein Kreuzfahrer ist, sondern ein Abkömmling der Hollywood-Industrie, setzt er auf seine Waffen: die Inszenierung einer Blutschwemme, eines Massakers und steigert sich dabei in das Bedeutungsfieber religiöser Militanz.

Mit der christlichen Blutmystik des Hochmittelalters hat der Extremkatholik Gibson nur den Grundstoff des Glaubens gemein. Der Franziskanermönch Bonaventura etwa sah im 14. Jahrhundert in Jesu Wunden die "blutroten Blumen unseres süßen und blühenden Paradieses, über die die Seele wie ein Falter schweben muss, bald an dieser, bald an jener trinkend. Durch die Seitenwunde muss sie bis zum Herzen selbst vordringen." Der Dominikaner Heinrich Seuse beschrieb in seinen Devotionen, das ganze rote und warme Blut aller Wunden Christi sei durch seinen Mund in sein Herz und in seine Seele geflossen. Katharina von Siena, einer der großen Heiligen der Kirche, erschien der Auferstandene und ließ sie wie aus der Mutter Brust aus seiner Seitenwunde trinken. Gibsons Vision hat nichts derlei Poetisches an sich. Statt der Erlösung versinkt die Heilsgeschichte in einer Blutlösung. Die Kunstbluthersteller freuen sich über den reichlichen Einsatz ihrer Produkte.

"Ein grausiges, bluttriefendes Werk, das sich an den Schmerzen des Erlösers weidet"

Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) kommt zu einem klaren Urteil: Gibsons Film sei nicht empfehlenswert, weil oberflächlich und brutal, "ein grausiges, bluttriefendes Werk, das sich an den Schmerzen des Erlösers weidet". Auch unter den Katholiken stößt Gibsons Werk überwiegend auf große Skepsis oder klare Ablehnung. Der Vorsitzende der katholischen Bischofskonferenz, Kardinal Karl Lehmann, meint, das filmische Passionsspiel verkürze "mit der drastischen Darstellung der Grausamkeiten auf problematische Weise die Botschaft der Bibel". Allein Kardinal John Patrick Foley, Medienbischof des Vatikans, nimmt Gibson gegen den Vorwurf, exzessive Gewalt zu zeigen, in Schutz: "Es ist sicher kein Vergnügen für die Zuschauer. Für Jesus war die übermäßige Gewalt, die er erlitten hat, erst recht kein Vergnügen." 

Die Pforten der Kinohölle

Die Leinwandhelden der Nachkriegszeit sahen über ihre Verletzungen hinweg. Die Helden von heute können gar nicht genug bluten. Passionsgeschichten als Mythen der Gegenwart \ ? Blut auf der Leinwand? Grausame Bilder fand man lange Zeit nicht im Kino, sondern eher ­ in den biblischen Geschichten der Religionsfibeln. Das Kino war noch in den fünfziger Jahren der Ort, an dem Helden das Opfer zu vermeiden wussten. Es war dort zwar immer etwas los, aber es kam nie zum Äußersten. Auch wenn in Western ein Böser eins auf die Nase kriegte, in Wahrheit ging es den Cowboys und ihren Freunden mit ihren atemberaubenden Schieß- und Reitkünsten gerade darum, das Blutvergießen zu verhindern. Tarzan tobte seine Wut an Krokodilen aus, Herkules zeigte seine Kräfte durch das fachgerechte Zerlegen von Säulenbauten, und wenn Godzilla eine Weltstadt in Trümmer legte, schien kein einzelner Mensch zu Schaden zu kommen.

Auch als die Filme etwas erwachsener wurden, der Tod wenigstens am Rande vorkam, gab es kaum einmal Blut zu sehen. Unsere Helden wollten den Feind nicht bluten sehen, und sie ignorierten an sich selbst die Wunde: "Ach, das ist nur ein Kratzer." Aber sie sahen nicht hin. Und wenn sich Cowboys und Indianer zum Zwecke der Blutsbrüderschaft den Arm aufschnitten, verzogen sie keine Miene. Auch dann sahen sie nicht hin. Nicht hinsehen, das war die Strategie einer Kultur, die nach dem größten Blutvergießen der Menschheit entstanden war. Das ging so bis zu unserem Freund Winnetou, der dann aber doch das letzte Opfer zu bringen hatte: sein Leben.

Das Blut war von der Leinwand so radikal verbannt, dass ein Film wie Georges Franjus "Le Sang des Bêtes" (1949) wie ein tiefer Kulturschock wirkte. Er zeigte nichts anderes als das, was in einem Schlachthof geschieht. Er zeigte die blutende Kreatur. Es ist schwer vorstellbar, von heute aus gesehen, wo wir den Blick auf blutende Wunden im Kinderprogramm sehen und an Direktübertragungen von Herzoperationen gewöhnt werden, welche emotionale Abwehr diese Bilder damals auslösten. Dieses Blut auf der Leinwand war real und gegenwärtig. Es sprach uns schuldig.

Ziemlich blutig ging es in Alfred Hitchcocks kleinem SchwarzWeiß-Film "Psycho" (1960) zu, von dem jeder, der ihn sieht, sogleich weiß, dass er mehr ist als ein etwas seelenkranker Thriller um einen mutterfixierten Mörder. Der panische Blick auf das Blut des Opfers wirft unausweichlich die Frage der Schuld auf. Hitchcocks Epigonen versuchten immer wieder diesen Blick zu wiederholen, und etwa bei Brian De Palmas "Dressed to Kill" (1980) konnte man sich selbst als mittlerweile abgebrühter Filmzuschauer nicht vor dem Schock bewahren: Mit dem Blut aus der Wunde tritt das Böse in der Welt zutage, und mit ihm die verzweifelte Sehnsucht nach Erlösung. Und man ahnt, was eine Heldentat von einem Opfer unterscheidet. Der Held will aufhören, sobald das Blut fließt. Aber das Opfer beginnt da erst.

Zwei Jahrzehnte zuvor hatte allerdings ein großer, absurder Western schon die radikalste Aneignung des Opfergedankens auf der Leinwand vollzogen, ein Film, der bei uns "Leichen pflastern seinen Weg", im Original viel genauer und poetischer "Il grande silenzio" (1968) hieß. Die Geschichte eines Mannes, der sich willentlich töten lässt, um zum Zeichen gegen das Böse in seiner Welt zu werden. Das unauslöschliche Film-Bild für dieses radikale Opfer: Blut auf reinem, weißem Schnee. Die Wundmale an den Händen. Die Pietà. Und von da ab hörte das Kino nicht mehr auf, das Menschenopfer in den Mittelpunkt zu stellen. Blutig geopfert werden die Motorradhippies von "Easy Rider" (1969) und die katholischen Gangster in den "Mean Streets" (1973). In der Sprache des jungen Hollywood-Films am Ende der sechziger Jahre war die Rolle des Rebellen christlich besetzt.

In den siebziger Jahren verlor das Kino gründlich seine Zurückhaltung gegenüber der Darstellung von Blut. Es wurde auf alarmierende Weise blutrünstig. Alle Welt sprach von seiner Verwahrlosung, aber kaum jemand davon, dass dieses Leinwand-Blut auch eine religiöse Symbolik hatte. Die Leinwand versank in Blut, Fontänen schossen in Zeitlupe aus den Körpern wie in den Todesballetten des amerikanischen Regisseurs Sam Peckinpah. Das sympathische Gaunerduo "Bonnie and Clyde" verblutete unter den Kugeln der Polizisten. Und zugleich begann eine Geschichte der Skandale in den filmischen Passionsbildern. Pier Paolo Pasolinis Film "Das erste Evangelium Matthäus" (1964), Herbert Achternbuschs "Das Gespenst" (1982) und schließlich Martin Scorseses "Die letzte Versuchung Christi" (1988) spalteten das Publikum und verleiteten die Rechtgläubigen schon einmal zu körperlicher Gewalt.

Daneben gab es aber auch Versuche, die Bilder der populären Kultur und der Religion miteinander zu versöhnen, etwa in Franco Zeffirellis Christus-Film oder in dem aufwändigen, Kontinente übergreifenden TV-Projekt der neunziger Jahre. Das ging immer schief. Es scheint bislang, als könnten Christus-Filme nur das eine oder andere sein: Skandal oder Kitsch. Und die einzige Diskussion schien darüber zu gehen, was von beidem schlimmer sei.

Das Kino blickte in die Hölle. Es entwickelten sich ganze Genres um den neuen Blutkult. Vampirfilme, in denen sich die Blutsauger nicht mehr mit einer Andeutung des blutigen Kusses zufrieden gaben, Kannibalen-Filme, in denen Menschenkörper in Nahaufnahme zerrissen wurden, und schließlich die Slasher- und Splatterfilme in Serien, die beim jugendlichen Publikum zum ("verbotenen") Kult wurden: Filme, in denen man die spitzen Gegenstände in das Fleisch eindringen sieht (to slash), und Filme, in denen das Blut gepeinigter Menschen spritzt (to splatter).

Die meisten Menschen empfanden die neuen Gewaltbilder einfach als etwas Böses. Vermutlich waren sie das auch zu einem nicht unerheblichen Teil. Aber für viele waren sie auch eine merkwürdige "Erlösung", endlich Bilder für das Grauen in der Welt, in der nichts und niemand Trost zu spenden verstand. Ein unaufhörliches Opfern. Serienweise fielen in den Achtzigern immer die Kids, die es mit Sex & Drugs & Rock 'n' Roll zu weit getrieben hatten, maskierten Mördern zum Opfer.

Es war der Teufel, der nun in Kunstblut watete, und der Mensch, der sich wie Martin Scorseses "Taxi Driver" (1976) nach dem reinigenden Opfer sehnte. So hatten sich innerhalb weniger Jahre die Verhältnisse geradezu umgekehrt. Während sich die religiöse Bilderwelt außerhalb des Kinos "zivilisierte" und fortschrittliche Theologen wie Eugen Drewermann die Angst- und Gewaltbilder behutsam aus dem Zentrum rücken wollten, barbarisierte sich das Kino zu einem endlosen Blut- und Opferbild. Zwar verschwanden sehr rasch die Exzesse des Leinwand-Sadismus, aber das Gewaltbild hatte in seiner mühsam gebändigten Weise auch den Mainstream erreicht. Das Blut- und Opferbild leitet mittlerweile jeden sonntäglichen "Tatort" ein.

Die beiden Bildwelten, Religion und Kino, haben sich ineinander geschoben. Im Kino konnte man beim besten Willen nicht mehr vom Religiösen absehen, und umgekehrt konnten die Kirchen ihren strengen, überlegenen und gar zensierenden Blick auf das Kino nicht mehr aufrechterhalten. An die Stelle der gegenseitigen Ignoranz ist spätestens in den achtziger Jahren mit den Diskussionen um Scorseses Christus-Film eine Lust an der gegenseitigen Verstörung getreten.

Es ist der Trick eines Kinobildes, zugleich Gegenwart und Vergangenheit, zugleich Mythos und Material zu sein. Ein "glaubhafter" Film ist einer, der seine Bilderlegende bis in unser körperliches Befinden einschreibt. Wir sehen nicht nur und hören nicht nur, ein Teil von uns ist im magischen Bildraum des Kinos eingetaucht. Das Mit-Leiden ist dabei die größte Chance, aber auch die größte Gefahr zwischen der Leinwand und den Kinobesuchern. Denn wer könnte im Bild der Gewalt, im Bild des Blutes, im Bild des Opfers das Mit-Leiden von der Mit-Täterschaft trennen, die Lust von der Erkenntnis, das Barmherzige vom Sadistischen?

Mel Gibsons Film "Die Passion Christi" erinnert schon im Titel an jene Passionsspiele, die in ihrer Volkstümlichkeit immer einmal wieder antisemitische Phantasien bedienten oder erzeugten. Mel Gibsons Christus-Verständnis ist, darauf haben sich die Kritiker schon geeinigt, ein fundamentales, das heißt, es ist so eindeutig, dass es keinerlei Widersprüche zulässt. Es ist ein Ganz-oder-gar-nicht, ein buchstäbliches Glaubensbild. Die Mittel, dieses Bild zu erzeugen, sind offensichtlich: das körperliche Leiden, die Schmerzen. Nicht eine Station des Leidensweges erspart Mel Gibson den Kinobesuchern. Damit meidet er zugleich die verkitschten, abstrakten, modernen, gebrochenen Bilder. Doch diese Sichtweise auf das Leid, die nicht den geringsten Ausblick auf Versöhnung enthält, hat ihren Preis.

So wie in "bösen" Gewaltfilmen spekulieren nun Mel Gibsons Bilder mit der Authentizität des Körperlichen. Das Blut ist das Wirkliche in einer Symbolwelt, der Schmerz die reinste Existenzform (das ist, wenn man so will, die "Philosophie" des modernen Horrorfilms). Auf einer einfachen Ebene der Bilder ist der Film also nichts anderes als die Verknüpfung der religiösen Ikonographie mit der Erzählweise des Gewaltfilms: die Christus-Geschichte als Splattermovie.

Der Regisseur des Films benutzt die Mittel des Films so vollständig bedenkenlos, wie es nur einer kann, der keine Selbstzweifel und keine Selbstkritik kennt und für den der missionarische Zweck die unbarmherzigsten Mittel heiligt. Eine Kamera weiß nicht, wo der Unterschied zwischen dem Verharren vor einer auch körperlich ergreifenden Darstellung des Leidens und sado-masochistischen Inszenierung ist, sie weiß nicht, wo die Grenze zwischen Mit-Leiden und Hass-Erzeugen ist. Umso wichtiger ist, dass es derjenige weiß, der die Kamera führt. Es ist die Kamera, die Mel Gibson verrät. Diese Kamera, so scheint es, ist allwissend und allkönnend. Sie umkreist das Geschehen, fährt mit kalter Neugier hernieder. Sie umkreist den leidenden Körper, sucht sich den Ausschnitt mit der größten Wirkung, wechselt so effektvoll wie besinnungslos die Perspektive. Sie duldet keinen Widerspruch, packt den Zuschauer und taucht ihn in die Wunden. Es gibt keine historische Distanz, sagt die Kamera, es war, ist und wird sein: das Opfer.

So ist ein totalitärer Blick entstanden. Der Blick Gibsons ist ohne Demut; er identifiziert sich und die Betrachter des Films so vollständig mit dem Opfer, dass es keine Frage nach dem Ziel gibt, keine Hoffnung darauf, dass aus dem Opfer die Liebe erwächst. Ein Bild transzendentalen Geschehens, das selber keine Transzendenz zulässt ­ Glauben ohne Glaubenserfahrung. Daher fällt es so leicht, das Opfer als Erklärung der Welt und ihrer Verdammnis: Man braucht nur ein paar Kostüme zu ändern und man hätte, Bild für Bild, Tätervisage für Schmerzensdetail, ein Arrangement der ewigen Wiederkehr: die Opferung der Christen durch die Römer; die Opferung der Ketzer durch die Inquisition, die Opferung der Hexen, die eines Pferdediebes in einem Western, die Opferung der Rebellen durch den Staat und die Opferung der Verräter durch die Rebellen, die Opferung der Feinde, der Verbrecher, der Wahnsinnigen, die Mordanstalten der Konzentrationslager. Gibson fundamentalisiert das religiöse Bild, indem er es mit dem historischen verknüpft und alles Mythische daraus vertreibt.

Aus der Versöhnung der religiösen Bilder mit den Kino-Bildern ist paradoxerweise ein unversöhnliches Bild geworden.

Georg Seesslen

 

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