Ein Bischof und ein Hochschullehrer streiten über die Zwischenbilanz von Kirche der Freiheit, dem Reformprozess der Evangelischen Kirche in Deutschland
Portrait Burkhard Weitz, verantwortlicher Redakteur für chrismon plusLena Uphoff
07.10.2010

chrismon: Warum brauchen wir eine evangelische Kirche?

Hans-Martin Gutmann: Wir brauchen die Kirche, um das Evangelium weiterzusagen und die Sakramente Taufe und Abendmahl zu feiern. Dafür braucht die Kirche eine soziale Gestalt. Und sie muss in den Alltag hineinwirken - in das Leben individualisierter Menschen mit gebrochenen Lebensläufen. Ich wünsche mir eine Kirche, in der Alternativen zur marktökonomischen Durchdringung aller Lebensbereiche entwickelt und gelebt werden.

Christoph Kähler: In der DDR galten wir Christen über Jahrzehnte als diejenigen, die die Welt nicht wirklich kennen. Aber es steht vor aller Augen, dass wir eine sehr viel realistischere Weltsicht und ein sehr viel realistischeres Menschenbild hatten als alle Ideologen. Wir konnten uns im Hören auf Gottes Anspruch und Zuspruch sehr viel besser orientieren. Die evangelische Kirche hat uns solche Orientierung gegeben. Auch in Zukunft wird das nötig sein. Ich wünsche mir, dass meine Enkel in der Kirche so eine Heimat finden, egal ob sie in Paris, Bonn oder Berlin leben.

chrismon: Finden Sie Ihre Wünsche an die Kirche im Impulspapier "Kirche der Freiheit" wieder?

Kähler: Ja, es geht um Verkündigung, geistliche Heimat und die dazu nötigen Voraussetzungen.

Gutmann: Mich stört, dass das Impulspapier seine Ziele nicht wirklich biblisch begründet. Statt zu überlegen, wie die biblische Botschaft in einer Kirchenreform Gestalt gewinnen kann, wird vorgefertigten Meinungen ein biblisches Etikett aufgeklebt. Außerdem müssten wir mehr von der Rechtfertigungsverheißung sprechen: Gott gibt uns Gerechtigkeit, wir geben die Sünde zurück. Dieser Tausch fällt eindeutig zu unseren Gunsten aus. Was wir bekommen, können wir nicht wie Besitz anhäufen, aber wir können es weitergeben. Solch biblisches Denken passt einfach nicht zur Sprache der Ökonomie, des Handels und Austauschs von Waren, wie sie auch im Impulspapier zum Tragen kommt.

Kähler: Beim Wittenberger Zukunftskongress im vergangenen Januar hat aber der EKD-Ratsvorsitzende Bischof Wolfgang Huber die Begründung für die "Kirche der Freiheit" in der Botschaft von der Barmherzigkeit Gottes, also der Rechtfertigung, vorgestellt. Leider ist diese Grundsatzrede in der Diskussion bisher ziemlich untergegangen.

Gutmann: Es ist ja nicht nur das Thema Rechtfertigung. Die Kirchenreformer fragen mir zu wenig nach dem Bösen und der Sünde, also nach dem, was Menschen heute ängstigt, quält und unterdrückt - und was sie andererseits befreit. Natürlich enthält das Impulspapier gute theologische Ansätze, das will ich nicht in Abrede stellen: das Priestertum aller Glaubenden zum Beispiel, die Mitwirkung von Ehrenamtlichen in der Gemeinde.

Kähler: Lassen Sie mich begründen, warum wir in diesem Reformprozess theologische Reflexion voraussetzen und uns auf Fragen der Umsetzung konzentrieren. In der Kirche sind wir unglaublich stark beim Entwerfen von Visionen. Wenn es an konkrete Konzepte geht, sind diese schon erheblich magerer. Und wenn es an die Umsetzung geht, ergreifen die meisten die Flucht. Wir haben ein schwieriges Verhaltensmuster kultiviert: Alle dürfen mitreden, auch wenn sie nur beschreiben, was "nicht geht", und später keine Folgen tragen wollen. Das macht notwendige Veränderungen wie etwa die Vereinigung der thüringischen Landeskirche mit der Kirchenprovinz Sachsen besonders schwierig.

chrismon: Warum?

Kähler: Kürzlich sprach ich mit einem Unternehmensberater. Im katholischen Bereich hat er erlebt, wie ein Erzbischof die Mitarbeiter zusammenrief und ihnen sinngemäß sagte: "Blut, Schweiß und Tränen! Es wird ganz schwer, aber wir stehen das gemeinsam durch! " Die einschneidenden Kürzungen waren dann nach überschaubarer Zeit durchgestanden. Eine evangelische Einrichtung verpflichtete dieselbe Beratungsfirma. Die sind bis heute nicht fertig, weil sich diverse Gremien zwar beraten, aber nicht einig werden. Ich schätze die demokratische, synodale Verfassung unserer Kirchen sehr. Aber sie muss sich jetzt auch bewähren. Entweder schaffen wir es, notwendige Entscheidungen zu treffen, oder die Entwicklung überrollt uns. "Kirche der Freiheit" wagt zu sagen: "Macht mal! " und setzt theologische Reflexionen voraus.

Gutmann: Natürlich wäre es schön, wenn wir die Entscheidungsprozesse beschleunigen könnten. Aber der Wunsch nach Schnelligkeit wird sich immer an der synodalen Verfasstheit der Landeskirchen reiben. Evangelische Kirchen kann man eben nicht von oben nach unten regieren.

Kähler: Es gibt aber den Eindruck, als wolle die EKD mit dem Impulspapier von oben regieren. Das geht überhaupt nicht. In den entscheidenden Bereichen sind die Landeskirchen gefragt angeregt durch das Impulspapier -, miteinander eigene passgenaue Konzepte zu entwickeln und andern zur Verwendung anzubieten. In Thüringen haben wir zum Beispiel eine sehr erfolgreiche Wiedereintrittskampagne entworfen und durchgeführt, die sich modifiziert auch an anderer Stelle wiederholen lässt. Wir können untereinander unsere guten praktischen Ergebnisse austauschen - gezielt und systematisch.

Gutmann: Meine Kritik liegt auch mehr bei den grundlegenden Fragen. Der Begriff Gerechtigkeit kommt in der Argumentation kaum vor. Mir fehlt der Blick auf die Lebenswelt der Menschen. Wir fragen in der Kirche zu viel danach, wie wir Menschen erreichen. Wichtiger wäre erst einmal zu fragen: Worunter leiden sie, und wo liegen ihre Verheißungen? w

chrismon: Hätten Sie das Papier lieber "Kirche der Freiheit und Gerechtigkeit" genannt?

Gutmann: Ja, unbedingt. Dann wäre die Kirche näher an dem, wie die Menschen denken. Man hat den Eindruck, der Rat der EKD sei einer vorübergehenden neoliberalen Modewelle aufgesessen. Doch die Agenda 2010, mit der die rot-grüne Bundesregierung vor vier Jahren den Menschen in der Sozialpolitik teils harte Einschnitte abverlangte, ist in der SPD schon wieder heftig umstritten. Und Bundeskanzlerin Angela Merkel hat ihre marktliberalen Positionen, die sie vor zwei Jahren noch vertrat, auch geräumt. Politiker haben längst gespürt: Da herrscht ein anderes Lebensgefühl bei den Leuten.

Kähler: Die Verfasser des Impulspapiers wollten aber gar nicht alles beschreiben, was für unsere Kirche in den nächsten 25 Jahren inhaltlich wichtig ist. Sie haben gewagt, den innerkirchlichen Betrieb anzusehen und sich auf einige veränderbare Punkte zu beschränken. Übrigens: Innerhalb von sieben Tagen sind das Impulspapier und eine Armutsdenkschrift der EKD erschienen, in der genau die Themen behandelt sind, die Ihnen hier fehlen.

Gutmann: Selbst wenn man die Kirche vor allem als eine Organisation oder als einen Betrieb ansieht, muss sie doch ökonomische Prozesse und Verwaltungsfragen anders als weltliche Unternehmen lösen. Dahinter steht noch ein theologisches Thema, das auch in eine theologische Reflexion gehört hätte: die sogenannte Zwei-Regimenten-Lehre. Für den Reformator Martin Luther waren beide Herrschaftsweisen, die weltlich-institutionelle und die geistliche, aufeinander bezogen: Sie hängen in der Herrschaft Gottes zusammen. Das bedeutet für die Kirche, dass sie etwa in einem Ernstfall ihre Mitarbeiter nicht so entlassen kann, wie es vielleicht ein Wirtschaftsunternehmen tun würde. Doch genau in diesem Punkt verstrahlt das Impulspapier eine große Kälte.

Kähler: Trotzdem ist es interessant zu fragen, warum es zwischen Gemeinden so massive Unterschiede gibt. In vielen Gemeinden werden Menschen aufgefangen und fühlen sich angenommen. In anderen Gemeinden geschieht das leider nicht. Genau diese Frage nach den geistlichen und äußerlichen Bedingungen einer gelingenden Gemeindearbeit stellt das Impulspapier. Vernünftige Gestaltung der äußeren Kirche war schon immer ein Merkzeichen reformatorischer Freiheit.

chrismon: Haben Sie dafür ein Beispiel?

Kähler: Nehmen wir die Amtshandlungen: Wie wichtig sie sind, lese ich, wenn ein Pfarrer bei einer Beerdigung den Protest der Trauernden provoziert hat. Da kann man in der Regel nichts mehr gutmachen. Diese Geschichte bleibt 50 Jahre in der Familientradition erhalten. Qualität beginnt damit, dass man ein angemessenes Gespräch führt, zur Beerdigung pünktlich da ist, den richtigen Namen nennt; oft sind es die einfachen Fehler, die den nachhaltigen Eindruck bestimmen.

Gutmann: Einverstanden, entscheidend ist dabei aber: Wo schlägt das Herz? Es gibt ein Kernanliegen, und das müssen wir in technische, administrative und ökonomische Entscheidungen übersetzen. Im Impulspapier aber hat man den Eindruck, das Credo laute: Wie können wir als Kirche unsere Marktanteile sichern? Darum kann es nicht gehen. Wenn Bestattungsunternehmen Räume zur Verfügung stellen, in denen Menschen sich wohlfühlen, sollten wir als Kirche froh darüber sein. Wir sollten das nicht reflexartig als Konkurrenz begreifen und fürchten, dass wir da gar nicht mehr vorkommen. Unsere Leitfrage sollte sein: Wie bringen wir unseren Auftrag zu einer guten Gestalt? Wir müssen keine Geschmackszensuren verteilen, wenn Menschen zu ihrer Beerdigung "Ich hatt' einen Kameraden" hören wollen oder den Titelsong des Films "Titanic". Wir dürfen aber auch nicht alles hinnehmen. Wenn der Hamburger Großfriedhof Ohlsdorf einen Halbstundentakt für Beerdigungen vorschreibt, müssen wir uns als Kirche dagegen durchsetzen.

chrismon: Das Impulspapier ist vor 16 Monaten erschienen. Findet der in ihm gewünschte Mentalitätswechsel statt?

Kähler: Einen Mentalitätswandel kann niemand dekretieren. Der braucht auch mehr Zeit. Unsere Kirche steht vor großen Herausforderungen und Veränderungen. Und die Frage ist, ob wir sie erleiden oder gestalten. Ich bin dafür zu gestalten. Sonst wäre ich nicht in die Kirche gegangen, nachdem ich früher manches außerhalb der Kirche mitgestaltet habe. Sicher kamen viele Metaphern des Impulspapiers aus dem Wirtschaftsleben. Manchmal muss man Vergleiche benutzen, obwohl sie hinken. Das Impulspapier hat es gewagt, und das ist auch gut so. Es hat aber strikt eine Grenze eingehalten: Was wir predigen, ist kein "Produkt", und Gemeindeglieder sind keine Kunden.

Gutmann: Als kritisches Korrektiv zum Impulspapier möchte ich den Hamburger Religionspädagogen Fulbert Steffensky zitieren. Er hat sinngemäß vor der Nordelbischen Synode gesagt: "Wir können in der Kirche nicht mehr alles machen. Es passiert vieles, was überflüssig ist. Überflüssige Dinge machen das Leben auch überflüssig. Aber wir müssen drei große Perspektiven vor Augen haben: Gott loben, das Leben feiern und für Gerechtigkeit eintreten." Alle drei gehören zusammen, auch das Eintreten für Gerechtigkeit.

Kähler: Darüber ist kein Streit.

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