Tim Wegner
Tim Wegner
07.10.2010

chrismon: Frau Waltz, können Sie erkennen, ob ein Mensch in seinem Körper zu Hause ist?

Sasha Waltz: AlsChoreographin vertraue ich auf mein Gespür, aber ich kann mich auch täuschen. Bei dir habe das Gefühl, du gehst positiv mit dir um.

Nathalie Todenhöfer: Mein Körper macht komische Sachen, ich fühle mich nicht hundertprozentig wohl. Aber ich probiere, positiv damit umzugehen, dadurch bin ich besser zu mir selbst. Waltz: Was heißt das, der Körper macht komische Sachen?

Todenhöfer: Multiple Sklerose kommt in Schüben, bei jedem Schub kann eine Funktion aussetzen- es kommt zu Sehstörungen, motorischen Problemen, Sprachstörungen, Schmerzen.

Ich komme mit meinem Körper gut klar, obwohl ich die Kontrolle über ihn verliere

Wird der Körper da zum Feind?

Todenhöfer: Oft beschreiben Kranke, dass sie sich so fühlen, als sei ihr Körper ein Fremdkörper; als wären sie einfach in einen Körper gesteckt worden, über den sie keine Kontrolle haben.

Waltz: Hast du ein zwiespältiges Gefühl zu deinem Körper?

Todenhöfer: Nicht mehr. Ich komme gut mit meinem Körper klar, obwohl ich immer mehr die Kontrolle über ihn verliere. Ich muss mehr an mir arbeiten als normale Leute, ich achte darauf, dass ich fit bleibe. Ich fahre viel Rad, mehr als 100 Kilometer die Woche.

Wie dachten Sie vor der Erkrankung über Ihren Körper?

Todenhöfer: Als ich krank wurde, war ich sehr jung, 19. Ein ganz normales Mädchen - ich bin tanzen gegangen, habe viel Sport gemacht, lange Jahre auch Ballett. Ich wusste nicht, wie wichtig es ist, dass der Körper richtig funktioniert; wie schön es sein kann, wenn man keine Schmerzen hat. Aber so kann man auch nicht denken als gesunder Mensch. Heute habe ich immer leichte Nervenschmerzen, schwere Arme, ein permanentes Brennen in den Beinen. Man gewöhnt sich einigermaßen dran.

Sie haben mal gesagt, dass Sie nicht mehr tanzen mögen. Was denken Sie, wenn Sie das hören, Frau Waltz?

Waltz: Es ist ja nicht so, dass ohne Tanz die Welt untergeht. Ich selbst tanze weniger als früher, ich choreographiere mehr. Aber du tanzt ja nicht professionell, in die Disco gehst du doch?

Todenhöfer: Ich gehe gern aus, aber dann sitze ich am Rand, wenn die anderen tanzen. Das stört mich am meisten: Man verliert das Körpergefühl, diese Finesse. Wenn ich tanze, weiß ich, dass das keine schönen Bewegungen sind.

Waltz: Du denkst, dass es schön aussehen muss. Tanz kann ja auch nur die Lust des Momentes zum Ausdruck bringen.

Todenhöfer: Aber ich kann nicht das machen, was ich, was mein Kopf eigentlich will - auch wenn es gar keinem auffällt.

Auch uns Tänzern gehorcht der Körper nur zu einem gewissen Grad

Was kann man beim Tanzen ausdrücken?

Waltz: Man kann sehr viel über Beziehungen erzählen, über emotionale Zustände. Man kann in Ebenen geraten, die dem Unbewussten entspringen - wo Sprache nicht mehr hinkommt, höchstens die Poesie. Die größte Freiheit, die das Medium Tanz bietet, ist: Wenn man tief forscht, entdeckt man, was aus dem Körper an Emotionen geboren wird. Als Künstlerin würde mich reizen, das im Tanz darzustellen: dass jemand nicht so kann, wie er will.

Todenhöfer: Haben Tänzer Probleme, sich auszudrücken?

Waltz: Ich ermutige sie, sich nicht immer zu beurteilen; nicht zu sagen, "Das war gut, das nicht" - sondern eine Leistung auch mal so stehen zu lassen. Auch uns gehorcht der Körper nur zu einem gewissen Grad. Ich selbst hatte vor zwei Jahren einen Zusammenbruch, eine Art Burn-out. Das war in einer Probe. Plötzlich fiel meine linke Seite aus, ich hatte keine Kontrolle mehr.

Todenhöfer: Was ist dann passiert?

Waltz: Ich hatte unglaubliche Angst, ich dachte, ich habe einen Herzinfarkt oder bin gelähmt. Ich konnte nur schreien und habe versucht, mich mit der rechten Seite aufrecht zu halten, dass ich rechts am Leben bleibe, während die linke Seite stirbt - so hat sich das angefühlt. Ich bin mit dem Notarztwagen ins Krankenhaus, die haben alles untersucht, Herz, Gehirn, aber nicht wirklich was gefunden. Die Zeit danach war eine völlige Entfremdung von meinem Körper. Ich kenne das Gefühl, dass nichts mehr zusammenpasst. Es war eine einschneidende Erfahrung, mich neu wieder zusammensetzen zu müssen.

Todenhöfer: Solche Symptome hatte ich auch. Aber jetzt ist alles wieder ganz normal?

Waltz: Niemand wusste, was es ist. Ein halbes Jahr konnte ich gar nicht arbeiten, auch jetzt muss ich extrem diszipliniert sein. Erst dadurch ist mir bewusst geworden, wie lange ich viele Signale ignoriert hatte, obwohl mein Körper meine Sprache ist.

Multiple Sklerose kann zu einem schleichenden Verfall führen. Bringt einen das dazu, über Sterbehilfe nachzudenken?

Todenhöfer: In England gab es eine MS-kranke Frau, der es wie mir ging - also relativ gut. Sie zog vor Gericht, weil sie durchsetzen wollte, in Würde zu sterben. Sie meinte, wenn sie behindert sei, könne sie das nicht mehr. Ich finde das nicht gut - nur weil jemand im Rollstuhl sitzt oder einen Stock zum Gehen braucht!

Und Sie?

Todenhöfer: Ich habe in der Schule eine Facharbeit über Sterbehilfe geschrieben. Sie war schon fast fertig, als ich den ersten Schub hatte und meine linke Körperhälfte nicht mehr spürte; ich habe die Arbeit komplett umgeschrieben. Eigentlich war ich pro Sterbehilfe. Aber als ich selbst so krank wurde, habe ich umentschieden. Gesetze kann man nicht für Einzelfälle machen. Ich bin sicher, die Sterbehilfe würde ausgenutzt. Es ist besser, eine Regelung zu haben, die kranke Menschen vor sich selber schützt.

Wären Menschen in einer Welt ohne Schmerzen glücklicher?

Todenhöfer: Das wäre natürlich sehr schön.

Oder gewinnt man durch Krankheit auch?

Waltz: Ja!

Todenhöfer: MS ist das Schlimmste, was mir passieren konnte. Ich wünschte, ich hätte es nicht. Aber es hat mir viele positive Dinge gebracht: Ich achte mehr auf mich, ich mache nur noch, was mir wichtig ist.

Waltz: Der Mensch entwickelt sich nur durch Schmerz und Bewusstheit. Leben beginnt im Schmerz. Die Geburt meiner Kinder, diese Koppelung von Schmerz und Lebensbeginn war eine Bewusstseinserweiterung. Schmerzen sind Momente, in denen wir anfangen können, noch stärker darauf zu hören, wie es tief in uns aussieht. Der Körper hat eine direkte Koppelung zur Seele. In unserer Gesellschaft ist immer die Rede von Wellness, Schönheit und Jugend, aber an dieser Stelle müsste Bewusstheit stehen.

In Deutschland werden die Menschen meistens wegen Rückenbeschwerden krankgeschrieben. Zufall?

Waltz: Ein Grund ist sicher: Wir sitzen viel und schränken unsere Bewegung ein, obwohl wir sie viel komplexer ausleben könnten. Aber ich weiß immer nicht: Arbeiten die Menschen zu viel oder zu wenig? Ich glaube, sie arbeiten etwas, zu dem sie gar keine Lust haben. Der Rücken trägt uns, die Wirbelsäule ist die Kraft, die vom Boden in den Himmel wächst: die Lebensachse. Alle Pflanzen haben diese Kraft, die nach oben strebt. Wenn zu viel Last entgegenwirkt, kann der Mensch das nicht tragen.

Der Apostel Paulus sagt: Der Körper ist der Tempel des Heiligen Geistes.

Waltz: Ein sehr schönes Bild! Das ist diese Beziehung zwischen Seele und Körper. So was Ähnliches könnte es auch im Buddhismus oder im Hinduismus geben. Dieser Tempel will gepflegt sein. Wir müssen auch Opfer dafür bringen, immer wieder in uns hineinhören: Was ist der innere Schweinehund, den ich überwinden kann - und was ist einfach nur zu viel? Man muss immer wieder in diesen Tempel gehen und mit sich auch in Dialog treten.

Man kann diesen Tempel pflegen, wie man will - manche Krankheiten kommen trotzdem. So wie bei Ihnen, Frau Todenhöfer. Finden Sie das ungerecht?

Todenhöfer: Ja. IchkannSport treiben, mich gesund ernähren, Ruhe halten - und dann kriege ich einen Schub, grundlos. Meine linke Körperhälfte spüre ich dann gar nicht. Ich habe Schmerzen, kann mich nicht mehr bewegen, dann verschwinden Muskeln, aber nur auf der linken Seite. Ich habe in den vergangenen fünf Jahren bestimmt zehn-, zwölfmal von null angefangen.

Fragen Sie sich manchmal, ob Gott Sie übersehen hat?

Todenhöfer: Meine Schwester hat im Kongo gelebt, die hat so schlimme Sachen gesehen, da brauche ich mich nicht zu fragen, ob der liebe Gott mich übersehen hat. Wir haben alle unseren Packen zu tragen. Ich habe diese Krankheit, ich habe sie akzeptiert.

Sie schreiben aber auf Ihrer Homepage, MS-Kranke sollten so behandelt werden wie andere Menschen auch. Geht das denn?

Todenhöfer: Es gibt viele MS-Kranke, die ihr Leben aufgeben müssen, weil sie keiner mehr einstellen will. Wir sind aber fähig zu arbeiten, auch wenn der Körper manchmal streikt. Der Kopf funktioniert, und wenn wir darauf achten, was uns guttut, geht das mit der Arbeit.

Es ist nicht leicht, immer zu wissen, was einem guttut.

Todenhöfer: Ich feiere nicht mehr die Nächte durch - sonst merke ich das fünf Tage später noch. Mein Vater hilft mit seinen Projekten vielen Menschen in aller Welt, in Asien, im arabischen Raum; ich habe ihn eine Zeit lang unterstützt - aber die Reisen waren zu viel für mich. Und wenn ich Urlaub machen will, jette ich nicht mehr durch die Welt, sondern ich fahre zu meiner Mutter nach Italien.

Waltz: Dieses richtige Maß zu finden, muss man erst mal lernen. Ich könnte nicht von mir behaupten, dass ich nur das mache, was ich will. Das Leben fordert Kompromisse. Erst mit meinem Zusammenbruch habe ich gelernt, Nein zu sagen. Ich musste immer alles besser machen und perfekt machen.

Als Choreographin arbeiten Sie mit den Körpern anderer. Wie wissen Sie, wo deren Grenzen sind?

Waltz: Früher habe ich meinen eigenen Körper stärker vernachlässigt und aufgepasst, dass es meinen Tänzern gutgeht. Die Suche nach Perfektion ist auch heute nicht verschwunden, aber es gibt etwas, was darüber hinausgeht. Ein starkes Tanzstück kann auch unscharfe Ecken haben. So etwas suche ich mittlerweile mehr: Den Stein, der grob behauen und nicht glatt poliert ist. Weil das Leben noch durchscheinen kann. Alles was poliert ist, scheint abgeschlossen zu sein.

Schon bevor ein Kind zur Welt kommt, durchläuft es viele Untersuchungen. Haben Sie die Pränataldiagnostik genutzt?

Waltz: Nein, ich wollte möglichst wenig wissen; nicht mal, ob es ein Junge oder Mädchen wird. Es ist eine Gefahr, je weiter man da eingreift - wie hätte ich gehandelt, wenn ich gewusst hätte, ich bekomme ein behindertes Kind? Ich weiß es nicht.

Todenhöfer: Es ist sogar ungesund für das ungeborene Kind, wenn eine Mutter solche Gedanken oder Ängste hat. Das Kind spürt das. Ich habe viele Ärzte auf der ganzen Welt kennengelernt, die haben alle gesagt, dass das, was die Mutter während der Schwangerschaft denkt und fühlt, einen großen Einfluss hat.

Wenn es die Möglichkeit gäbe zu erkennen, ob ein Kind an MS erkranken wird - wie würden Sie sich entscheiden?

Todenhöfer: Ich war noch nie schwanger, ich weiß es nicht. Wenn jemand MS hat, heißt es ja nicht, der sitzt morgen im Rollstuhl. Es gibt viele Varianten, die Krankheit verläuft bei jedem anders. Es gibt viele gute Medikamente, die den Krankheitsprozess verlangsamen können.

Waltz: Möchtest du Kinder haben?

Todenhöfer: Ja, ich wollte immer Kinder haben. Nicht erst mit 30, weil ich hoffe, dann noch fit genug zu sein.

Waltz: Wenn ich mich für ein Kind entscheide, möchte ich das Leben dann so annehmen. Ich habe das Glück, zwei gesunde Kinder bekommen zu haben ... Was heißt Glück? Ich habe Bekannte mit behinderten Kindern, das sind ganz glückliche Familien, die haben andere Aufgaben. Eine Gesellschaft, die sich mit Behinderung und Behinderten auseinandersetzt, wächst daran. Mein Sohn besucht eine integrative Schule, er lernt viel von den Kindern mit Downsyndrom, er übernimmt Verantwortung für sie.

Todenhöfer: Diese Verantwortung empfinde ich auch. Es gibt keine andere Stiftung, die MS-Kranke unterstützt. Ich muss immer an den Mann denken, dem wir einen elektrischen Rollstuhl finanziert haben. Seine Krankenkasse hatte argumentiert, dass er ja nicht mehr zur Arbeit müsse, wozu dann so ein teurer Rollstuhl? Ohne uns würde dieser Mann kaum mehr unter die Leute kommen. Ich habe selbst auch erst lernen müssen, wie groß die Probleme der Menschen sind. 

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