Wenn ich euch nicht hätte!
Umzugserfahrene erzählen von alten und neuen Freunden
Tim Wegner
07.10.2010

LAURA MEYER, 16,
wohnt jetzt mit ihren Eltern und ihrem Bruder Lukas in der Nähe von Frankfurt am Main.

Für immer weg, konnte ich nur denken, und dass ich einen Neuanfang nicht aushalten würde. Im Sommer vor zwei Jahren war das, mein Vater hatte einen neuen Job gefunden. Als ich in Hannover meine Abschiedsparty feierte, wurde mir richtig bewusst, was ich zurücklasse, alle hatten an mich gedacht: Meine Mitschüler schenkten mir eine Mappe mit Fotos, und jeder schrieb mir einen Brief. Meine Volleyballmannschaft brachte einen Ball mit, auf dem alle Spieler unterschrieben hatten. Und unsere Nachbarn hatten eine Fotocollage gebastelt. "Wir kommen dich besuchen", versprachen sie, das half ein bisschen, denn sie sagten nicht nur: "Bleib hier, bleib hier", das hätte den Abschied noch schwerer gemacht.

Ich war acht, als wir nach Hannover kamen, und 14, als wir gingen. Ich fühlte mich zu Hause dort, ich würde sogar sagen, dass dort meine Wurzeln sind, nicht in Schles-wig-Holstein, wo ich geboren wurde. Vielleicht liegt es daran, dass ich die Zeit in Hannover verbracht habe, in der ich anfing, bewusst Freundschaften zu schließen. Sina ist bis heute meine beste Freundin. Ich vermisse sie sehr, wir telefonieren mindestens einmal die Woche, und wir chatten übers Internet. In jeden Schulferien fahre ich für ein paar Tage zu ihr, mit dem Zug bin ich in zweieinhalb Stunden dort. Sie feiert dann immer eine große Party, damit ich auch meine anderen alten Freunde sehen kann.

Aber man kann ja nicht nur in der Vergangenheit leben. Es gibt nach einem Umzug zwei Möglichkeiten: heulen oder rausgehen. Und ich gehe raus. Gleich als wir in Oberursel angekommen waren, suchte ich mir eine neue Volleyballmannschaft. Ich nahm Tanzstunden. Und in meiner neuen Klasse lernte ich schnell Leute kennen. Sie fragten, Laura, am Wochenende ist eine Party, willst du auch kommen? So ging es los, sie haben mich einfach aufgenommen. Natürlich gab es anfangs auch Streit, die eine dachte, ich würde ihr die beste Freundin wegnehmen - dabei wollte ich nur zur Clique dazugehören. Das klingt, als könne man die alten Freunde ersetzen. Mit dem Umzug die Festplatte überschreiben. Aber so ist das nicht, ich habe genug Energie für alle. Manchmal frage ich mich, was Leute machen, die keine Freunde haben. Die können ihre Probleme nicht teilen und müssen alles in sich reinfressen. Ganz schön bitter. Insgesamt habe ich etwa 15 Freundinnen und Freunde, und ich versuche, alle gleich zu behandeln: für jeden von ihnen da sein, wenn sie Ärger mit den Eltern oder in der Schule haben. Mal anrufen. Ins Kino gehen. Ins Freibad. Oder im Garten grillen.

Nicht alle verstehen, dass ich ihnen nicht die hundertprozentige Aufmerksamkeit geben kann. Mir hat deswegen auch mal ein Mädchen die Freundschaft gekündigt, die wollte mich für sich allein. Aber das geht nicht. Mit Jungs ist es einfacher, die sind nicht so eifersüchtig und sagen einfach, hey Laura, hast du denn keine Zeit mehr für mich? Meistens bekomme ich aber von selbst ein schlechtes Gewissen. Dann denke ich, oh Mist, ich habe mich schon zwei Wochen nicht mehr bei Mertcan gemeldet oder bei Esa, jetzt müssen Xenia und Frede eben mal warten.

MARGOT BRANDT*, 38,
war in Hamburg, Kiel, Freiburg, Berlin und Schottland zu Hause. Seit fast vier Jahren wohnt sie in Essen.

Früher zog ich um, weil mir ein Ort gefiel oder ein Job. Nach Essen kam ich, weil mein Freund hier lebte und wir die Fernbeziehung nicht mehr wollten. Ein Jahr, nachdem ich angekommen war, trennten wir uns. Ich hatte noch keine eigenen Leute in der Stadt, weil ich mit Job und mit Heimweh beschäftigt gewesen war. Es war Dezember und dunkel. Jetzt musst du raus, habe ich mir gesagt, sonst vereinsamst du. Aber mit wem? Natürlich schleichen doofe Gedanken durch den Kopf: Ich könnte aufdringlich wirken. Jemand könnte sagen, nein, ich will mich nicht mit dir treffen. Aber es gibt an einem Ort nicht nur Bekloppte. Für den Anfang reicht es, eine Gemeinsamkeit zu haben: eine Kollegin, die sich für Filme interessiert. Mit der kann man ins Kino gehen. Oder eine, die gerne Fahrrad fährt.

Freunde kann man nicht akquirieren. Wenn ich jemanden kennenlernen will, darf sich das nicht mühsam anfühlen. Es geht doch um Sympathie! Ich habe gelernt, dass es wichtig ist, großzügig zu sein: Auch mit Leuten was zu unternehmen, mit denen man sonst nichts machen würde, die man auf den ersten Blick nicht supertoll findet. Auf diese Weise habe ich Menschen entdeckt, mit denen ich schöne Sachen gemacht oder gute Gespräche geführt habe, die ich sonst nicht gehabt hätte. Klar ist aber: So eng wie mit meinen langjährigen Freunden werde ich mit den neuen Leuten wohl nie sein. Die alten wissen, wie ich als Jugendliche war, sie kennen die Männer, mit denen ich zusammen war - das kann niemand einholen, diese Plätze will ich auch nicht mehr vergeben. Neue Leute kennenzulernen ist wichtig, spannend und schön. Und meine alten Freundschaften hege und pflege ich. Eine meiner besten Freundinnen, Kristina, wohnte vier Jahre in Palästina. Ich bin drei Mal dort gewesen. Wir haben viel telefoniert und gemailt. Mit meiner Mädelsbande in Hamburg verabrede ich mich meistens, wenn ich in Hamburg bin. Zwei Mal waren sogar alle vier bei mir in Essen - wie Klassenfahrt! Wir kochen zusammen, machen Ausflüge, gehen aus und sabbeln bis zum Umfallen. Was ja auf der Strecke bleibt, wenn man sich nicht oft sehen kann. Ich gebe viel, und ich habe hohe Erwartungen - die ich auch an mich selber stelle: Wenn es einem selbst schlechtgeht, sollte immer noch Platz für die andere und ihre Sorgen sein. Und wir sollten uns ehrlich füreinander freuen können. Wenn eine zum Beispiel verliebt ist oder einen tollen neuen Job gefunden hat. Freunde sind lebenswichtig, vor allem wenn man keinen Mann und keine Kinder hat wie ich. Meine 20 Freunde sind meine Familie - neben meinen Eltern und meinem Bruder. Eine riesige, selbst gewählte Großfamilie. Was ein Glück, dass ich nicht allein sein muss.                                                                                                                                                    *Name geändert.

OLIVER WIMMEROTH, 33,
lebt seit gut einem Jahr in Köln. Davor wohnte er ein paar Jahre in Hamburg, London, Bonn und Genf.

Ich bin schlecht darin, Freunde zu pflegen. Als Selbstständiger arbeite ich 60 Stunden in der Woche, bin viel im Ausland unterwegs. San Francisco, London, Shanghai. Mein Unternehmen beschäftigt sich mit mobilen Inhalten für Handys, Klingeltöne oder Spiele, da muss ich beruflich viel reden und telefonieren. Und abends bin ich nur müde. Daher finde ich keine Zeit für Hobbys, keine Zeit, um zum Beispiel in einem Karnevalsverein mitzumachen.

Mir reicht, was ich habe: eine Handvoll sehr guter Freunde, fünf Männer und eine Frau - die lassen nicht locker und verzeihen mir immer wieder, dass ich mich kaum melde. Das rechne ich ihnen hoch an. Sie denken inzwischen, ach, der Oliver, so ist er halt. Im Gegensatz zu meinem Vater, er ist derjenige, der mir die Hölle heißmacht, wenn ich zwei Wochen lang nicht angerufen habe. Ich sage dann, hör mal, früher, da hast du an deiner Karriere gearbeitet und ich hab dich kaum gesehen. Jetzt ist es umgekehrt. Dann grummelt er ein bisschen. Und vergisst dieses Argument schnell wieder. Einer meiner Freunde, Dirk, telefoniert mir immer hinterher. Ich bin Patenonkel seiner Kinder Alina, Kiara und Sophie, und er sagt mir sogar ein paar Tage vor ihren Geburtstagen Bescheid, dass ich sie nicht vergesse.

Ob ich es hinnehmen würde, wenn sie sich mir gegenüber so verhalten würden? Vermutlich nicht. Es ist allerdings nicht so, dass ich nur nehme; wenn einer Probleme hat, bin ich da. Auch wenn er nachts um drei anruft. Was ja nicht ausbleibt, denn die Freunde von mobilen Menschen sind meist auch in der ganzen Welt unterwegs. Und wenn einer gerade verlassen wurde und es ihm schlechtgeht, dann ist die Zeitverschiebung egal.

Seit dem Ende der Schulzeit bin ich fünf Mal umgezogen, aber ich habe es nie drauf angelegt, Leute kennenzulernen. Ohnehin kann man sich keine Freunde suchen - sie finden einen. Über Bekannte. Oder Geschäftspartner. Es passiert einfach. Darauf hinarbeiten hieße, sich zu verstellen. Freundschaft bedeutet, dass man bei dieser Person authentisch sein kann. Ungeschminkt.

Deshalb sind Freunde wichtiger als die Lebenspartnerin. In der Liebe fühle ich viel Verantwortung, da erlaube ich mir keine schwachen Momente. Bei Freunden schon. Da kann man auch erzählen, wenn man was Blödes gemacht hat. Im Handy von der Freundin gestöbert zum Beispiel. Der totale Vertrauensbruch. Ein guter Freund würde dazu sagen, Mann, warum hast'n das gemacht. Das geht doch nicht! Aber er würde einen dafür nie verachten.

Mit ihm kann man immer den Faden da aufnehmen, wo er runtergefallen war. So ist es zum Beispiel bei meinem ältesten Freund Tim, den ich jetzt 25 Jahre kenne: Er lebt auch in Köln, und wir schaffen es vielleicht einmal im Vierteljahr auf ein Bier. Aber die Hauptsache ist, dass die Begegnungen intensiv sind, dass man sich was zu sagen hat - dann kann es sogar ausreichen, wenn man sich nur einmal im Jahr trifft. Eigentlich habe ich sie ja sowieso immer alle dabei: in der Hosentasche, in der mein Handy drin ist. Allein die Gewissheit, dass wir reden könnten, wenn es nötig wäre, ist beruhigend.

CHRISTEL-ELISABETH BOSHOF, 74,
verließ Unna im vergangenen Januar zusammen mit ihrem Mann Hansher bert. Nun leben die beiden in Berlin.

Niemals! Das sagte ich immer zu meinem Mann, wenn er mich fragte, ob wir nach Berlin ziehen könnten. Zu unseren Kindern Arndt und Christiane, zu den drei Enkeln. Ich wollte nicht weg aus Unna. 26 Jahre hatten wir dort gewohnt, die längste Zeit meines Lebens.

Ich hatte viele Freunde in Unna. Besonders lag mir der Hauskreis am Herzen: Wir waren 16 Leute und trafen uns alle vier Wochen, um zu diskutieren. Über Hans Küngs "Credo", über Juden und Palästina-Probleme, den Krieg im Irak, Bush und Amerika, die Wirtschaft und ihre Zusammenhänge. Dort konnte ich sein, wie ich bin; sagen, was ich denke. Das geht nur unter Freunden.

Dann bot mein Mann im Sommer 2007 bei einer Bank unser Haus zum Verkauf an. Nur um zu gucken, wie die Möglichkeiten wären. Das erzählte er mir, mit einem schlechten Gewissen, erst Tage später. Ich konnte nicht mehr schlafen und verlor fünf Pfund Gewicht. Wie soll ich das überstehen, dachte ich.

Meine Kinder sagten, Mami, überleg doch mal, deine Freunde werden auch alt. Irgendwann sitzt ihr allein in einem Altersheim, und wir sind 500 Kilometer entfernt und können euch kaum betreuen. Sie überzeugten uns. Ich wollte auch zu meinem Mann stehen, und so entschieden wir, umzuziehen. In ein Viertel, in dem alte Menschen und Familien mit Kindern leben. Statt eines großen Gartens haben wir nur eine Terrasse. Ich habe mehr als 2000 meiner Bücher verschenkt. Und ich vermisste meine Unnaer.

Acht Wochen nach dem Umzug wurde mir klar: Die Trauer muss enden. Sonst würde ich nicht sagen können, ich hab's versucht. Da hat mir das Buch "Nachtzug nach Lissabon" von Pascal Mercier sehr geholfen: Wenn man die Chance zu einem Neuanfang hat, dann sollte man sie nutzen. Ich lud unsere Hausbewohner ein, es gab Kirschkuchen und Sekt. Wir sind fünf Parteien im Haus, drei Deutsche, ein Ehepaar aus Lettland und, ganz neu, ein chinesisches Ehepaar mit ihrer Tochter Yan. So hat man es in Berlin, schön bunt. Dann stellte mir die Mutter meines Schwiegersohns - eine Berlinerin - ihre Freundinnen vor. Seit dem Sommersemester studiere ich als Gasthörerin an der Freien Universität Philosophie und Englisch, und ich suchte mir einen neuen Bridgeclub. Jeder möchte doch als Mensch wahrgenommen werden. Mit den neuen Bekanntschaften habe ich dieses gute Gefühl.

In Unna geht es weiter ohne uns. Nur wenige Freunde werden bleiben: Wir haben uns bewegt und ein interessantes neues Leben gefunden; ich habe den Eindruck, dass manche nicht damit umgehen können. Aber vier Ehepaare und eine Freundin haben uns schon besucht. Alle Unnaer werden uns immer willkommen sein.

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