Foto: Katrin Binner
Zuhause bleiben? Arbeiten gehen?
Tim Wegner
Hedwig Gafga, Autorin
07.10.2010

chrismon: Frau Müller, bricht bei Ihnen zu Hause das Chaos aus, wenn Sie weg sind?

Christa Müller: Ich bin nie mehrere Tage weg. Ich hatte ein Schlüsselerlebnis, als unser Sohn zwei Jahre alt war. Ich musste nach Bonn fahren, als unser Kindermädchen krank wurde. Als ich unseren Sohn in eine Kita brachte, die er bereits kannte, schrie er in Panik. Da beschloss ich: Das kommt nie mehr vor. Ich reduzierte meine berufliche Tätigkeit und gab sie später ganz auf.

Silvana Koch-Mehrin: Wir sind zwei berufstätige Eltern. Glücklicherweise kann mein Lebensgefährte viel von zu Hause aus arbeiten. Trotzdem erfordert es jede Woche einen logistischen Aufwand wie bei einem Boxenstopp in der Formel 1. Von allen Seiten kommen die Teams und gucken, dass alles optimal läuft: meine Eltern, die mithelfen, eine Kinderfrau, die Krippe. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, die meine Töchter gut kennen. Auch bei sehr kleinen Kindern merkt man, ob sie sich wohlfühlen.

Müller: Als unser Kind klein war, wollte es nur zweierlei: Mutter und Vater. Wir hatten sogar von früh an ein Kindermädchen im Haus, aber die Akzeptanz des Kindes war nicht so, wie ich sie mir vorgestellt hatte. Mein Wunsch war immer, ein gesundes, fröhliches Kind zu haben. Wenn ich dafür bei ihm sein muss, dann mach ich das halt.

chrismon: Frau Koch-Mehrin, Sie haben schon einige Wochen nach der Geburt Ihrer Töchter wieder gearbeitet.

Koch-Mehrin: Ja, ganz klar. Ich habe festgestellt, dass für mich ein Leben ausschließlich zu Hause nicht das ist, was ich mir wünsche. Mein erstes Kind bekam ich mit 32. Ich hatte mich bewusst für mein Studium entschieden, Praktika absolviert, promoviert, danach meine eigene Firma gegründet. Das alles war nicht von dem Tag an unwichtig, an dem mein Kind geboren war. Ich empfinde es als eine künstlich konstruierte Konkurrenz, dass ich das eine für das andere zurückstellen müsse. Diese Dimensionen lassen sich in einem Leben gut vereinbaren.

chrismon: Können Sie das nachempfinden, Frau Müller?

Müller: Ich war ja selber nach der Geburt unseres Sohnes noch berufstätig. Aber als ich merkte, er braucht mich, wollte ich für ihn da sein. Was ich in den letzten zehn Jahren gemacht habe mich um mein Kind zu kümmern und meiner Mutter und meiner inzwischen verstorbenen Schwiegermutter noch ein paar gute Jahre zu verschaffen -, das finde ich wertvoller, weil ich damit zum persönlichen Glück von Menschen beitrage.

Koch-Mehrin: Wenn solche Entscheidungen aus Überzeugung getroffen werden, finde ich das richtig. Ich habe dann ein Problem, wenn als Dogma formuliert wird, das eine sei für die Gesellschaft wertvoller als das andere. Für mich ist die Frage, ob man eine gute oder eine schlechte Mutter ist, nicht mit der Frage verknüpft, ob man berufstätig ist oder nicht.

Müller: In den letzten Jahrzehnten wird die Erwerbsarbeit immer höher geschätzt, während Haus-, Erziehungs- und Pflegearbeit immer weniger Anerkennung erfahren. Man kann doch mal fragen, wer wichtiger ist: eine Frau, die einen Vorstandsposten in der gesundheitsschädlichen Zigarettenindustrie hat, oder eine Mutter, die Kinder großzieht?

Koch-Mehrin: Es ist unsinnig, in den Kategorien "wichtiger" oder "weniger wichtig" zu denken. Woran macht man das denn fest? Es ist das Gute in einer freien Gesellschaft, dass sich völlig unterschiedliche Meinungen herausbilden. Alles andere ist diktatorisch.

Müller: Diktatorisch ist es, wenn ich eine bestimmte Arbeit, die die Gesellschaft braucht, wie die Erziehungsarbeit, nur dann bezahle, wenn sie in Betreuungseinrichtungen geleistet wird, aber nicht, wenn Eltern sie leisten.

Koch-Mehrin: Na ja, solche Überlegungen gibt es ja mit der "Herdprämie", dass man geldliche Anreize schafft, damit Frauen zu Hause bleiben. Sie tun es ja auch jetzt schon, Männer nicht. Das macht mich so perplex. Frauen sind besser ausgebildet, haben großartige Chancen...

Müller: Es wollen ja gar nicht alle Karriere machen. In Umfragen sagen 70 Prozent der deutschen Männer und Frauen, dass sie sich in den ersten drei Jahren selbst um ein Kind kümmern wollen. Aber in unserer Gesellschaft werden die Strukturen darauf ausgerichtet, dass die Frauen ein Jahr nach der Geburt wieder arbeiten gehen und die Kinder in Betreuungseinrichtungen kommen. Nur wenn es ein sozialversicherungspflichtiges Erziehungsgehalt für alle gibt, ist eine Wahlfreiheit sichergestellt.

Koch-Mehrin: Wahlfreiheit haben Eltern doch nur, wenn es tatsächlich die Alternative gibt, weiter zu arbeiten, ohne sich aufzureiben. Dafür muss klar sein, dass die Kinder gut untergebracht sind. Die aktuelle Diskussion dreht sich darum, für gerade mal ein Drittel der Kinder unter drei Jahren Betreuungseinrichtungen zu schaffen. Zurzeit gibt es die für weniger als zehn Prozent der Kinder in diesem Alter. Deshalb gehen viele Mütter nach der Geburt aus dem Job raus und finden den Anschluss nicht wieder gerade Frauen mit höherem Bildungsabschluss. Für die ist es dann endgültig vorbei mit der Wahlfreiheit.

chrismon: Frau Koch-Mehrin, Ihre Mutter hat mal eine Zeit nicht gearbeitet. Sie hat das als eine Phase der Verblödung beschrieben. Können Sie das harsche Urteil verstehen?

Koch-Mehrin: Ja. Sie war vorher als Lehrerin tätig und dann an der Seite meines Vaters in verschiedenen afrikanischen Ländern. Er war dort im diplomatischen Dienst, sie konnte ihren Beruf dort nicht ausüben und organisierte stattdessen Charity-Veranstaltungen, bereitete Häppchen vor und kümmerte sich um ihre Kinder. Manche Frauen mögen das erfüllend finden, meine Mutter nicht. Sie sagte nach einigen Jahren: Schluss! Ich möchte nicht nur die Frau an der Seite meines Mannes sein. Mein Vater hat das respektiert.

Müller: Häppchen zubereiten, da würde ich mich weigern. Oder finanzielle Anerkennung einfordern. Ich hätte keine Lust, nur Beiwerk zu sein. Man braucht einen eigenen Bereich. Nun gibt es relativ viele Frauen, die den Job innerhalb der Familie als sehr erfüllend betrachten...

Koch-Mehrin: Stimmt.

Müller: ...die aber darunter leiden, dass ihre Arbeit weder finanziell noch ideell anerkannt wird. Wenn wir nur die Erwerbsarbeit anerkennen, wird die andere Arbeit immer schlechter oder gar nicht mehr gemacht. Nicht gemacht heißt: Es werden weniger Kinder geboren. Die Kinder werden vernachlässigt. Die Alten werden in die Heime abgeschoben, die Behinderten auch. Und das muss dann der Staat bezahlen.

chrismon: Mit dem Verschwinden der Hausfrau fehlt das Fürsorgliche in unserer Gesellschaft. Stimmt das?

Müller: Das war früher ganz anders. Da gab es ein Hausfrauenethos, mit dem auch gesellschaftliche Anerkennung verbunden war. Das bedeutete: Die Wohnung muss sauber sein, die Frau sieht gepflegt aus...

Koch-Mehrin: Ist doch gut, dass wir über solche Zeiten hinweg sind.

Müller: Die Kinder waren gut ernährt und gesund, sie waren schön angezogen, man hat sich intensiv um sie gekümmert - übrigens auch die Väter. Es war für viele Frauen eine Errungenschaft, nicht berufstätig sein zu müssen.

Koch-Mehrin: Das ist doch eine Verklärung der fünfziger Jahre, in denen dieses Idyll für viele eine unglaubliche Belastung war. Ich bin froh, dass wir das hinter uns gelassen haben. Bis weit in die siebziger Jahre waren Frauen per Gesetz zur ordentlichen Haushaltsführung verpflichtet. Sie konnten nur dann einen Arbeitsvertrag eingehen, wenn der Mann seine Einwilligung gab. Sie konnten kein eigenes Bankkonto haben - was sollten sie denn anderes machen, als sich im Haushalt auszutoben?

Müller: Ach, viele Frauen mussten Geld verdienen, meine Mutter zum Beispiel hätte gerne mehr Zeit für uns Kinder gehabt. Aber zur traditionellen Familie will ja auch keiner zurück. Wir wollen Familienarbeit bezahlen. Wer arbeiten und Karriere machen will, soll das selbstverständlich tun können.

Koch-Mehrin: Ihren Ruf nach staatlicher Alimentierung halte ich für falsch. Zunächst ist es die Aufgabe eines jeden zu schauen, was er selbst leisten kann. Wenn er es nicht schafft, dann kann er vom Staat Unterstützung bekommen. Dass manche Kinder zu Hause vernachlässigt werden, haben Sie selber gesagt.

chrismon: Sie sind Volkswirtinnen. Ist es nicht eine Vergeudung von Ressourcen, wenn man mit so einer Ausbildung zu Hause bleibt?

Müller: Ich war ja fünfzehn Jahre berufstätig, insofern ist es keine Vergeudung.

Koch-Mehrin: Natürlich ist es für eine Gesellschaft am besten, wenn jeder das tut, was er gut kann. Das Universitätsstudium ist - zumindest noch - eine Ausbildung auf Kosten der Allgemeinheit, und wenn das erworbene Wissen nicht an die Allgemeinheit zurückgegeben wird, ist das eine volkswirtschaftliche Verschwendung, ja.

Müller: Aber das stimmt doch gar nicht. Unser Sohn geht auf die deutsch-französische Schule. Ich kann ihm nur durch meine gute Ausbildung bei den Hausaufgaben helfen. Natürlich gibt man seine intellektuelle Bildung weiter an die Kinder.

Koch-Mehrin: Ein Studium der Mutter vorauszusetzen, damit ein Kind mehr Bildungschancen hat, finde ich absurd. Damit gerade kleine Kinder bessere Förderung bekommen, brauchen wir gute Betreuungseinrichtungen.

chrismon: Frau Müller, Sie sind familienpolitische Sprecherin der Linken im Saarland. In den sozialistischen Ländern wurde das Bild der berufstätigen Frau propagiert. Wie passt das zu Ihren Vorstellungen?

Müller: In den staatssozialistischen Ländern stand die Produktion an erster Stelle. Die Arbeitskraft von Männern wie Frauen wurde gebraucht, und die Kinder kamen in die Betreuung. Dasselbe erleben wir heute: Jetzt wird die Arbeitskraft des Mannes und die billige Arbeitskraft der Frau gänzlich den wirtschaftlichen Interessen geopfert. Die Frauen sollen nach der Geburt möglichst schnell zurück an den Arbeitsplatz.

Koch-Mehrin: Dieser Gedanke ist ausgesprochen lustig. Ich kann mit solchen Verschwörungstheorien nichts anfangen: Das Kapital will die Arbeitskraft der Frau ausnutzen. Ich bin auch dagegen, Frauenarbeit als billige Arbeit zu bezeichnen.

Müller: Ist sie aber.

Koch-Mehrin: Es ist falsch, dass Frauen nach wie vor weniger verdienen und weniger selbstbewusst in Gehaltsverhandlungen auftreten. Es ist sehr wichtig, solche Ungleichheiten zu bekämpfen. Wir haben ein Sozialsystem, das in vielerlei Hinsicht zu weit geht, weil es falsche Anreize schafft: Es hält einen zu oft davon ab, in den Arbeitsmarkt zurückzukehren, mit eigener Kraft, mit Selbstbewusstsein. Arbeit muss immer die bessere Alternative sein. Denn Arbeit ist mehr als Geld verdienen. Arbeit ist auch soziale Anerkennung, für Männer wie für Frauen.

chrismon: Haben Sie zu Hause mit Ihrem Partner darüber verhandelt, wie Sie die Arbeit aufteilen?

Koch-Mehrin: Auch ohne Kinder war für mich klar, dass, wenn wir zusammen die Wohnung verwüsten, ich nicht allein aufräumen würde. Wir haben darüber diskutiert, auch mal gestritten. Auch über Putzen, Spülen, es ist wichtig, dass das fair aufgeteilt wird. Wenn erst mal Kinder da sind, hat man weniger Zeit zu zweit. Wenn wir die Zeit auch noch streitend verbringen würden, wäre das doof.

Müller: Wir mussten nie verhandeln. Als wir die ersten Jahre zusammen waren, da haben wir beide gearbeitet, jeder hatte sein Geld. Als unser Sohn kam und ich mich Stück für Stück aus dem Berufsleben zurückgezogen habe, haben wir uns aufgeteilt: Mein Mann hat die Arbeit draußen gemacht, weil er dafür geeigneter ist, und ich mache die drinnen.

chrismon: Frau Koch-Mehrin, Sie sprechen von einem umarmenden Feminismus - dass man heute nicht gegen die Männer kämpfen, sondern sie lieber umarmen, sie für bestimmte Ziele gewinnen solle. Ziehen die Männer da mit?

Koch-Mehrin: Viele Männer haben heute ein anderes Selbstverständnis als die Generation vorher. Sie erleben das Vaterwerden sehr bewusst und merken, dass es doch nicht das höchste der Gefühle ist, jeden Tag elf Stunden im Büro zu sitzen. Auch die Männer versuchen, eine andere Aufteilung zwischen den Geschlechtern zu finden. Wir streiten für etwas Ähnliches, und mir scheint es sinnvoll, das gemeinsam zu tun.

Müller: 60 Prozent der Männer denken immer noch traditionell. Und wenn die Frauen eine andere Aufteilung verlangen, sagen sie: Dann will ich lieber kein Kind. Oder sie überlassen die Arbeit der Frau, die dann doppelt belastet ist. Die berufstätigen Mütter haben nicht genug Zeit, zu schlafen oder sich zu pflegen, man sieht es ihnen an.

Koch-Mehrin: Gleichberechtigung beginnt zu Hause am Spülbecken, und wenn beide berufstätig sind, gehört es dazu, notfalls zu streiten und die Hausarbeit aufzuteilen.

Müller: Dann sagt der Mann: "Tschüss, ich gehe"...

Koch-Mehrin: Tja, dann sagt der Mann halt "tschüss". Dann war es der Falsche. Es kann ja nicht sein, dass man sich abarbeitet, nur damit der Typ dableibt. Sorry, das geht nicht.

Müller: Das Problem ist nur, dass die Falschen in der Mehrheit sind. Es gibt heute junge Männer, die bereit sind, sich um die Kinder zu kümmern. Aber sie stehen unter beruflichen Zwängen, die ihnen das nicht erlauben. Man darf den Männern nicht unrecht tun.

chrismon: Ihre Vision für die nächste Generation?

Müller: Wir brauchen ein Gleichgewicht von Familie und Beruf. Alle Familien sollen sich so viele Kinder leisten können, wie sie es sich wünschen, und so viel Zeit für sie haben, wie es ihren Bedürfnissen entspricht. Dazu brauchen wir familiengerechtere Arbeitsplätze und die finanzielle Unterstützung der Familie durch ein Erziehungsgehalt.

Koch-Mehrin: Ich wünsche mir für die Generation meiner Töchter, dass sie sich solche Streitgespräche wie dieses hier in historischen Archiven anschauen und sich sagen: Mein Gott, was haben die sich damals für einen Kopf gemacht.

 

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