Der Stolz von Dardesheim
Ein Dorf in Sachsen-Anhalt setzt schon seit 1994 auf regenerative Energien. Zu seinem Vorteil! Heute erzeugen allein die Dardesheimer Windräder genug Strom für 25 000 Haushalte. Das Geld für diesen Strom bleibt in der Region bleibt. Und die Solaranlagen im Ort haben bereits 230 Tonnen Kohlendioxid eingespart.
Tim Wegner
07.10.2010

Der letzte schräge Ton ist zu viel für Björn Voigt. "Hört mir hier keiner zu?" Der Dirigent ist sauer. Für kurze Zeit ist es ganz still im Saal des Ratskellers. Dann räuspern sich die ersten Mitglieder des Männergesangvereins Dardesheim, Sachsen-Anhalt. Sie lockern ihre Stimmen für einen neuen Versuch. Björn Voigt, 30 Jahre alt, Dreitagebart, blickt noch kurz mit strengem Blick in die Runde, dann hebt er wieder die Hände. Männerstimmen erfüllen den Raum mit der Fachwerktheke. "Ich fang für euch den Sonnenschein, holla hi ja ho, denn ihr sollt alle meine Freunde sein, holla hi ja ho." Keine Misstöne mehr. Voigt ist zufrieden mit seinen Sangesbrüdern. Fürs Erste jedenfalls.

Rolf-Dieter Künne geht zurück an seinen Tisch, auf dem ein paar Biergläser stehen. Er singt im zweiten Tenor, der ist jetzt nicht dran. Künne, ein großer schlanker Mann, der seine grauen Haare akkurat scheitelt, ist nicht nur Vorsitzender des Männergesangvereins, er ist auch Bürgermeister. Aus seiner Tasche zieht er ein abgenutztes schwarzes Notizbuch und reicht es weiter an den Nachbartisch. In dem Büchlein ist genau vermerkt, wer welche Probe mitgemacht und wer gefehlt hat. Auch heute soll sich jeder eintragen. Das ist wichtig in Dardesheim. Die Menschen in der drittkleinsten Stadt in Sachsen-Anhalt legen Wert auf Musik und Gemeinschaft, keiner soll fehlen für die gemeinsame Stimme. Das Lied, das Tony Marshall in den siebziger Jahren geschmettert hat, ist ihnen nur zufällig ins Repertoire gerutscht. Dabei passt das mit dem Sonnenscheinfangen so gut zu Dardesheim. Der Ort im nördlichen Harzvorland hat nicht einmal 1000 Einwohner, aber ein großes Ziel. Dardesheim will die "Stadt der erneuerbaren Energien" sein. Der Ehrgeiz ist schon jetzt nicht mehr zu übersehen. Auf die Dächer der öffentlichen Gebäude sind Solaranlagen montiert, private Hausbesitzer ziehen nach. Die Solarzellen funkeln silbern, wenn die Sonne scheint. Die Kindertagesstätte erwärmt ihr Wasser mit einem Sonnenkollektor auf dem Vordach. Die Mechaniker der Werkstatt neben der Tankstelle können Automotoren so umrüsten, dass sie Pflanzenöl statt Diesel verbrennen. Aber es sind vor allem die Windräder, die auffallen. Mehr als 30 stehen am Stadtrand auf dem Druiberg, einer mehr als 200 Meter hohen, langgezogenen Anhöhe: vier Lagerwey, 28 Enercon E-70 und eine Enercon E-112. Wer vom Harz aus auf Dardesheim zufährt, sieht die Windräder schon aus 15 Kilometer Entfernung. Und erst viel später das Städtchen, zu dem sie gehören.

Dardesheim ist kompakt. Die meisten Häuser schmiegen sich eng aneinander, größere Grundstücke gibt es kaum. Dafür viel Fachwerk, zwei Gasthäuser, einen Quelle-Shop, in dem man auch Lotto spielen kann, zwei kleine Lebensmittelgeschäfte, zwei Friseure, einen Blumenladen, eine Schule, eine Kirche. Und ein Rathaus. Am Morgen sitzt Bürgermeister Rolf-Dieter Künne in seinem Büro vor der braunen Schrankwand mit dem Globus. Mit seiner Hand macht Künne eine kreisende Bewegung. So, als würde er an einem Ventil drehen. "Der Wladimir Putin", sagt er, "der macht den Gashahn ja ganz gern mal auf und mal zu." Darauf, dass immer genug Energie reinkommt, wollen sie sich in Dardesheim nicht verlassen. Sie machen lieber selber welche.

Karl Radach hat damals damit angefangen. Die innerdeutsche Grenze konnte nicht verhindern, dass der Dardesheimer von seinem Haus aus sah, wie drüben in der niedersächsischen Ebene die ersten Windräder aufgestellt wurden. In seinem Garten stellte er einen Mast auf, an den er einen alten Propeller montierte. Dann fiel die Mauer, und Karl Radach marschierte zu den neuen Ämtern, um die Genehmigung für eine richtige Anlage zu bekommen. Im Amt haben sie ihn nicht verstanden. Wofür so eine Windmühle denn gut sein solle? Ob er darin ein Café eröffnen wolle? Das waren die Fragen. Radach hatte die Antworten, 1994 drehte sich der erste richtige Rotor im Wind, der hier meistens von Westen her übers Land weht.

Ohne den alten Radach, der vor fast fünf Jahren gestorben ist, wäre es nie so weit gekommen, da ist sich Heinrich Bartelt sicher. Auch er ist ein großer Kerl, und stämmig. "Der Radach war so einer von denen, die durch die Hintertür immer wieder ins Amt zurück sind, wenn sie mit einer Ablehnung vorne rausgeschickt wurden." Solche Menschen mag Bartelt, der Windparkbetreiber, er ist ja auch so einer, der für seine Interessen kämpft. Vielleicht haben sie sich gerade deshalb gleich verstanden, der alte Radach und er, der Westfale. Bartelt brachte die Erfahrung und das Geld mit, um aus einer Windkraftanlage viele zu machen. Heute ist er Geschäftsführer der Windpark Druiberg GmbH und tritt ebenfalls häufiger im Ratskeller auf. Auch er steht bisweilen neben der Fachwerktheke. Dort hat er seinen Computer aufgebaut, von dort wirft er Bilder und Statistiken an die Wand. Ihm gegenüber sitzen die Mitglieder des Rotary-Clubs aus Halberstadt, die gerade den Windpark besichtigt haben. Bartelt kennt die Bedenken gegen die neue Energie: "Reichen denn die erneuerbaren Energien überhaupt jemals aus, um uns zu versorgen?", will einer der Gäste wissen.

Bartelt liebt diese Frage. Er erzählt von einer Anzeige, die ein großer Energieversorger geschaltet hat, damals, Anfang der Neunziger, nachdem die Dänen berichtet hatten, schon fast ein Prozent ihres Stroms aus Windkraft zu gewinnen. "Dass das in Deutschland schon aus meteorologischen Gründen gar nicht möglich ist, haben diese Leute behauptet. Aber gucken Sie, wo wir jetzt stehen! " Er muss nicht weiterreden, er hat ja eben schon erklärt, dass allein die Dardesheimer Windräder genug Strom für 25 000 Haushalte erzeugen, dass das Geld für diesen Strom in der Region bleibt, dass die Solaranlagen im Ort schon 230 Tonnen Kohlendioxid eingespart haben. Und dass erneuerbare Energien Arbeit schaffen, sagt Bartelt auch. Durch den Windpark sind mittlerweile mehr als zehn feste Jobs entstanden.

"Die Leute wären sonst vielleicht weggezogen", sagt Thomas Radach, der Sohn des Dardesheimer Windkraftpioniers Karl Radach, während er mit seinem Kombi über die Sandwege des Windparks ruckelt. Radach ist auf Kontrolltour, hinter seinem Auto weht eine Wolke, die nach Pommesbude riecht. Er fährt mit Pflanzenöl. Die Sache mit den erneuerbaren Energien hat ihn genauso gepackt wie damals seinen Vater, sie ist zum Beruf geworden, Radach ist heute technischer Leiter des Windparks. Viele Worte mag er nicht darüber verlieren. Die Idee mit dem Propeller damals auf dem Mast, auf dem heute ein Vogelkasten steht - das sei halt so eine Spielerei gewesen. "Die Leute haben eben immer ein bisschen rumgeprokelt", sagt der gelernte Schlosser. Und der Windpark? "Das ist halt so gekommen, und nun ist das so."

Windkraft kostet viel, Windkraft verdient viel, sagt Thomas Radach. 60 Millionen Euro sind inzwischen verbaut, an den Erlösen aus dem Strom verdient die Gemeinschaft mit. Ein Prozent der Jahresumsätze des Windparks geht an die Dardesheimer Vereine, etwa 70 000 Euro. So kommt es, dass die Mitglieder des Dardesheimer Stadtorchesters, des deutschen Meisters in der Kategorie "Orchester Big Band", neue Uniformen haben, und der Kirchturm ein neues Dach. In Dardesheim kommt der Windpark für vieles auf. Ähnliche Modelle gibt es für die Nachbargemeinden, in denen es anfangs große Widerstände gegen den Windpark gab, weil die Anlagen manchmal so laut surren und Schatten werfen. Inzwischen haben sich die Nachbarn beruhigt.

Ist die Akzeptanz für die Windräder erkauft? Die Frage lockt Thomas Radach aus der Reserve. "Dass der Firmensitz hier ist, muss nicht so sein. Den Servicepunkt zur Wartung hätten wir auch woanders eröffnen können. Herr Bartelt hätte sich auch ins Auto setzen können, als die Windräder aufgestellt waren, sein Geld würde er trotzdem verdienen. Hat er aber nicht gemacht." Radach bestreitet gar nicht, dass das Geld auch wichtig ist - aber nicht nur. Es geht auch um die Umwelt, es geht darum, dass die Dardesheimer ein gemeinsames Thema haben, dass sie an einem Strang ziehen. Der Windpark bietet Beteiligungsmöglichkeiten an, mit einer Rendite um die zehn Prozent - aber nur für Menschen aus der Umgebung. Häufiger hätten schon reiche Rechtsanwälte aus Hamburg angerufen oder Zahnärzte aus München: "Aber wenn die sich hier reinkaufen wollen, sage ich: Nee, ist nicht."

In der alten Schweißerschule, einer Baracke auf halber Höhe des Druiberges, lässt Frau Hillmer ein dickes Buch auf den Tisch plumpsen, und noch ein paar Magazine. "Damit", sagt ihre Kollegin Frau Flume, "haben wir uns alles selbst beigebracht." In dem Buch und den Magazinen geht es um erneuerbare Energien. Frau Hillmer, Frau Flume und Frau Prokof sitzen in einem Büro, das sie vor einem halben Jahr selbst gestrichen haben, in Apricot. Sie waren arbeitslos, jetzt sind sie Ein-Euro-Jobberinnen. Sie haben sich selbst zu Expertinnen gemacht, haben das Buch gelesen, und die Magazine. Bis sie Vorträge halten konnten. Die alte Schweißerschule beherbergt das Informationszentrum, getragen vom Förderverein der Stadt. Im ersten Jahr waren schon 1200 Besucher da, die meisten von ihnen Schüler. Frau Hillmer, Frau Flume und Frau Prokof haben ihnen alles erklärt. Man muss sich nichts vormachen, der Job der drei Damen ist öffentlich gefördert. Und es gibt Tage, an denen die Arbeit nicht reicht, das verraten die Exemplare der "Freizeit Revue", die die drei Frauen eilig unter ihre Unterlagen geschoben haben. Aber immerhin, durch ihre Vorträge sind sie gefragt.

Ihr Kollege Michael Severin sollte eigentlich nicht mehr da sein, sein Ein-Euro-Job ist schon ausgelaufen. Aber das Arbeitsamt hat eine Nebentätigkeit genehmigt, sechs Stunden am Tag, für 100 Euro im Monat, die bekommt er zum Arbeitslosengeld dazu. Severin hat Hochbau gelernt. "Aber da ist absolut alles tot." Deshalb hilft er nun mit, den Energiepark aufzubauen, vielleicht ergibt sich ja was Dauerhaftes daraus, etwas ohne öffentliche Förderung, ohne Arbeitslosengeld. Severin steht oben auf dem Druiberg, auf dem die Windräder surren. Auch hier gibt es ein paar Baracken, sie sollen irgendwann mal die provisorische Ausstellung in der alten Schweißerschule beherbergen. Die Gebäude gehörten einmal zur Radarstation, mit der die Russen in den Westen spähten. Zu DDR-Zeiten durfte hier niemand hin, in Zukunft soll das anders werden. In drei, vier Jahren soll der Informationspark hier oben fertig sein. Es wird Miniaturwindräder geben, eine kleine Wasserkraftanlage, Solaranlagen zum Anfassen, ein Restaurant und, natürlich, eine eigene Stromversorgung, damit die Leute sehen, dass es funktioniert mit der Unabhängigkeit. Eine Bühne für Veranstaltungen und Konzerte mit bis zu 5000 Gästen ist in Arbeit, die Zuschauerränge kann man schon erkennen. Von dort aus kann man über den Harz gucken, bis zum Brocken. Bis zu 80 Ein-Euro-Jobber helfen beim Bau. Nicht alle sind so motiviert wie Herr Severin. Zu seinen Aufgaben gehört es, die Leute morgens aus den umliegenden Orten abzuholen. Manchmal fehlen welche, weil sie gerade keine Lust haben.

Das sind aber immer Leute, die von etwas weiter her kommen, sagt Herr Severin noch. Das passt. Denn die meisten Dardesheimer stehen hinter der Idee. Vielleicht liegt das an den Einwohnerversammlungen, die sie abgehalten haben, um die Zweifler zu überzeugen und die Windräder zum gemeinsamen Projekt zu machen. Und am "Windblatt", einer kleinen Zeitschrift, die der Windpark alle zwei Monate herausgibt.

In den Berichten zwischen den Kleinanzeigen steht, was noch alles geschehen soll in Dardesheim. Und wofür es gut ist.

Noch bleibt viel zu tun. Die Stadt denkt an eine Biogasanlage, die Strom und Wärme erzeugen kann. Ralf Voigt, der stellvertretende Bürgermeister, träumt schon davon, dass Menschen aus Nachbarorten nach Dardesheim ziehen werden. "Aus energetischen Gründen", wie er es nennt.

Damit muss ja nicht nur Strom gemeint sein, sondern vielleicht auch das Gemeinschaftsgefühl, das die Energiefrage bei den Bewohnern erzeugt hat. Die Chorprobe ist fast zu Ende, aber das Ständchen für die Wirtin ist Ehrensache. Sie hatte vor ein paar Tagen Geburtstag. Die Männer stimmen "Das Elternhaus" an, ein Lied über die Heimat:

"Darin noch eine Wiege steht; Darin lernt ich mein erstes Gebet; Darin fand Spiel und Lust stets Raum; Darin träumt ich den ersten Traum."

Sie werden schon bald wieder ein Ständchen singen. Karl Borchers, den sie alle nur Onkel Karl nennen, hat sie vorhin zu seinem 95. Geburtstag eingeladen. Es werden sicher viele kommen, auch ohne dass Bürgermeister Künne mit dem schwarzen Notizbuch zur Anwesenheitskontrolle wedeln muss. Dardesheim ist ja überschaubar, und die Wege sind nicht so weit.

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