Du sollst nicht stehlen.
07.10.2010

Sie lebten alle zusammen in einer Wohnung, die Greisin, der Soldat und das dicke Mädchen. Die Wohnung gehörte der Greisin. Sie allein benutzte den vorderen Eingang, der Soldat und das Mädchen teilten sich den Hintereingang, durch den in fernen Zeiten Dienstboten und Lieferanten gegangen waren. Die Greisin konnte sich an diese Zeiten gut erinnern. Sie sprach oft von ihnen.

Der Soldat und das Mädchen waren ihre Untermieter. Sie vermiete nicht des Geldes wegen, beileibe nicht, auf den Gedanken möge keiner wagen zu kommen. Sie wolle nur nicht allein sein. Und, da hatte sie recht, Platz gab es genug in der Wohnung. Der Soldat war ein höherer Dienstgrad, so vornehm wie arm. Er arbeitete bei irgendeiner militärischen Behörde. Das dicke Mädchen studierte Sprachen und genoss das Leben, soweit ihre Mittel es zuließen. Wenn ihr das Geld ausging, jobbte sie in einer Weinkneipe in der Altstadt. Dort saß dann auch der Soldat, schwieg, lächelte höflich und trank den Wein, den das dicke Mädchen ihm hinstellte. Sie hatten einander gern, die beiden Untermieter.

Die Greisin mochte es nicht, wenn sie ausgingen. Ihr Gebiss klickte, wenn sie sprach, besonders wenn sie sich aufregte. Ja, Bälle, das wäre etwas anderes gewesen. Da lernte ein Mädchen geeignete Männer kennen! Aber eine ordinäre Kneipe! Dennoch könntet ihr mich mal mitnehmen!

Das dicke Mädchen war zwanzig, der Soldat an die fünfzig, die Greisin hatte mit fünfundsiebzig aufgehört zu feiern und zu zählen. Das war schon einige Jahre her. Sie war der abgestorbene letzte Zweig eines Stammes von Kohlebaronen, und in ihrer weitläufigen Wohnung türmten sich die Reste einstigen Glanzes, Boullemöbel, Aubussonteppiche, Meissener Geschirr, sonderbar mächtige Gefäße aus Silber, deren Verwendungszweck nicht zu erkennen war. Stapel von bestickter Wäsche für die Gespenster der Vergangenheit, an den Knickstellen vergilbt. Bücher längst vergessener Modeautoren, in Maroquinleder gebunden, Widmungen von Toten für Tote in verblasster Sütterlinschrift.

Das dicke Mädchen liebte das alles und die Räume, in denen die Teppiche doppelt und dreifach lagen und man die Holzwürmer so regelmäßig ticken hören konnte, als seien sie Uhren. Es war wie im Märchen.

Abends saß die Greisin in ihrem Petit-point-Sessel, klein und krumm, im Seidenkleid, und zeigte dem Soldaten und dem dicken Mädchen ihren Schmuck. Mit jeder Perlenschnur zog sie Geschichten aus dem großen, doppelt verschließbaren Holzkasten, auf dem Samt verschossen Brillanten ihre Blitze, und sie nannte das Mädchen "Herzchen".

"Ach, das wirst du nie haben, Herzchen, das wirklich elegante Leben! "

Den Schmuckkasten ließ sie immer offen stehen, damit sie sich jederzeit an das Leben von einst erinnern konnte.

Das dicke Mädchen sah den Soldaten an, um ein Lächeln von ihm aufzufangen, aber er lächelte nicht. Die Greisin und er hatten begonnen, über gemeinsame Bekannte zu sprechen, und das große Zimmer füllte sich mit Namen. Es waren Namen darunter, die das dicke Mädchen aus Büchern kannte. Mit ihr hatten diese Namen nichts zu tun, aber der Soldat und die Greisin hatten etwas gemeinsam, das sie "Kreise" nannten. In unseren Kreisen. Offenbar hatten die Kreise nicht unbedingt etwas mit Reichtum zu tun. Das Untermietzimmer des Soldaten war karg, der kleinste Raum der Wohnung, eigentlich eine Kammer mit Waschbecken, einem schmalen Bett und einer Art Spind. Jeden Abend bürstete der Soldat sorgfältig seine Uniform aus und putzte seine Schuhe. Er bezahlte der Greisin fünfzig Mark Miete, das Mädchen bezahlte neunzig Mark, aber ihr Zimmer war auch viel größer, es hatte eine kleine Waschnische und sogar einen Erker. Irgendwo, weit weg, auf einer fast unbeheizbaren Burg, lebte die Familie des Soldaten, er sprach nicht viel von ihr und fuhr nur alle zwei Monate hin.

Das Mädchen mochte es, dass sie ihm gefiel. Sie liebte es, Männern zu gefallen, und schämte sich ein bisschen, dass sie sich nicht davon gedemütigt fühlte wie ihre Kommilitoninnen. Man war Männern gegenüber argwöhnisch in dieser Zeit und sprach viel über neu zu erkämpfende Rechte. Das dicke Mädchen redete halbherzig mit, wenn sie aber in der Weinkneipe bediente, lachte sie, wenn einer ihr den Hintern streichelte. Sie liebte schöne Kleider, aber sie konnte sich keine leisten.

Die Greisin machte sich ein Vergnügen daraus, dem Mädchen ihre Garderobe zu zeigen. Da war ein gutes halbes Jahrhundert lang nichts weggegeben worden, die leblosen Roben hingen zu Hunderten in den Wandschränken, jede in ihrer Leinenhülle. Darunter standen in langen Reihen Schuhe, lagen sorgsam zusammengefaltete Stolen, Capes und Pelzjäckchen. "Da, das Samtensemble, das könnte man doch heute wieder tragen, Herzchen! Wie schade, dass es dir nicht passt! Du könntest es haben! Ich würde es dir wirklich gern geben! "

Das dicke Mädchen schaute den Samtrock mit dem Jäckchen an, genau ihre Farbe, das Rot zu den dunklen Haaren! Allerdings hätte sie höchstens die Hälfte von sich in dem schönen Kostüm unterbringen können.

"Ich bin ja immer sehr zart gewesen", sagte die Greisin zufrieden. Sie legte Wert auf bestes Essen, das ihr von einer mürrischen Köchin zubereitet wurde. Die kam jeden Tag für zwei Stunden.

Gesellschaft wollte sie beim Essen nicht, sie lud ihre beiden Mitbewohner nicht ein einziges Mal ein, mit ihr zu speisen. Das einsame Stückchen Lachs, der erlesene kleine Salat, ein wenig Malossolkaviar auf kleinen Buchweizenpfannkuchen, alles auf das japanische Lacktablett, ein Glas Chablis dazu, fertig. Oder ein Trauttmansdorffreis, wenn ihr nach Süßem war. Gelegentlich ein Bressehuhnbrüstchen. Der Soldat aß mittags in seinem Kasino und machte sich abends ein Käsebrot in der großen alten Küche. Das dicke Mädchen hatte da schon allein gegessen, in ihrem Erker, heiße Fleischwurst mit Nudelsalat oder panierten Fisch mit Pommes, während es in den schönen, verwilderten Garten schaute.

An einem Freitag sah das dicke Mädchen ihren Mitbewohner, wie er gerade einen kleinen Laden in der Altstadt betrat. Er trug eine Tüte, was zur Uniform merkwürdig aussah. Das Mädchen kannte den Laden, es war ein als Trödelladen getarntes, sehr teures Antiquitätengeschäft. Verblüffenderweise fielen Kunden immer wieder darauf herein und glaubten, in dem kunstvoll arrangierten, mit Staub überpuderten Chaos Schätze zu finden. Preiswerte Schätze. Das Mädchen sah durch das kokett verdreckte Schaufensterchen, wie ihr Mitbewohner, der Soldat, eines der rätselhaften Silbergefäße aus der Tüte zog. Er und der Händler, der irgendeinem Schauspieler, dessen Namen ihr nicht einfiel, ähnlich sah, schienen vertraut.

Nachdenklich ging das Mädchen weiter und verzichtete darauf, die Transaktion bis zum Ende zu verfolgen. Was hätte dadurch auch geklärt werden können? Vielleicht hatte die Greisin ihren Untermieter darum gebeten, etwas für sie zu verkaufen - sie gehörten schließlich den gleichen Kreisen an! Vielleicht hatte sie ihm das silberne Ungetüm geschenkt, um ihm aus einer Klemme zu helfen. Es konnte sogar sein, dass er das Ding aus seiner fernen und kalten Burg herbeigeschleppt hatte, um es zu Geld zu machen.

Es war dem dicken Mädchen im Grunde gleichgültig, was für eine Geschichte sie da hatte beginnen sehen, eine harmlose oder finstere. Sie würde ihre eigene haben, warum war sie nicht längst auf den Gedanken gekommen! Voller Freude lief sie die Straße zur Villa hinauf, sie konnte es gar nicht erwarten. An ihrem Finger der Ring schoss Blitze, der Ring aus dem Kaugummiautomaten, den ein Gast ihr geschenkt hatte, er schoss Blitze, und es war doch egal, was im Leben funkelte. Einladend war das Maul des Schmuckkastens geöffnet, die Greisin war nicht zu sehen. Essenszeit. Sie pflegte langsam und genussvoll zu essen, in ihrem Gartenzimmer, ganz für sich. Das dicke Mädchen warf ihren Kaugummiring ins Maul des Schmuckkastens und nahm dafür irgendeinen anderen Ring heraus, er sah viel schlichter aus als der ihre.

"Viel Stein und wenig Fassung, das war immer meine Devise", wie oft hatte das Mädchen die Greisin diesen Satz sagen hören, in einem Ton boshafter Genugtuung. Jedes dieser Schmuckstücke war eine Wiedergutmachung für irgendeine längst gestorbene Sünde. Der Ring, der jetzt am Finger des dicken Mädchens steckte, hatte viel Stein und wenig Fassung. Stein genug für ein, zwei sorglose Semester in schönen Kleidern. In die Weinstube nur noch als Gast. Sie würde vielleicht ab und zu den Soldaten einladen, darauf kam es ihr nicht an. Wie leicht plötzlich alles geworden war.

Bald wurden die Tage kürzer, der Soldat und das Mädchen saßen abends bei der Greisin und hörten ihr zu, während ihre Finger den Schmuckkasten durchgruben. Namen füllten den Raum, es klirrte leise, die Finger hatten die Farbe von altem, stockfleckigem Papier. Längst war der Stein in einer anderen Stadt zu Geld gemacht worden. Es war viel Geld, fand das Mädchen.

Sie hätte nicht mehr sagen können, welches von den Schmuckstücken, die unter den Fingern der Greisin leise klirrten und klingelten, aus einem Kaugummiautomaten in der Altstadt stammte. Es war gleichgültig. Um sie häuften sich die Reste einstigen Glanzes, die Teppiche lagen doppelt und dreifach, die Wäsche schlief in den Schränken, in Ewigkeit gelb an den Knickstellen. Die großen, silbernen Gefäße waren schwarz angelaufen.

"Viel Stein und wenig Fassung, das war immer meine Devise", sagte die Greisin.

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